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Mirjam Rotzler, Kinderbüro Basel: „Partizipation ist eine Haltung“

Oktober 2017 / Martin Heiniger (Interview), Regine Strub (Fotos)

Kinder haben ein Recht auf Beteiligung und Mitsprache in der Gesellschaft. Grundlage dafür ist die UN-Kinderrechts-Konvention, die von der Schweiz unterzeichnet worden ist. Mirjam Rotzler vom Kinderbüro Basel findet, die Schweiz komme der Verpflichtung, diese Rechte nachhaltig und verbindlich zu verankern, noch zu wenig nach. Sie setzt sich deshalb leidenschaftlich und an verschiedenen Fronten dafür ein, dies zu ändern.

Martin Heiniger/sozialinfo.ch: Der Umgang mit Kindern wird oft als Indikator für den Zustand einer Gesellschaft gesehen. Wo steht die Schweiz?

Mirjam Rotzler: Es gibt grosse Unterschiede innerhalb der Schweiz. Aber im Vergleich beispielsweise mit China oder Butan bewegen wir uns grundsätzlich auf einem hohen Niveau. Aber es gibt erstaunlicherweise immer wieder Fälle, wo Kinder nicht einbezogen werden, obwohl das für uns selbstverständlich wäre, beispielsweise beim Schulhausbau. Hier muss man noch kämpfen, obwohl es ja logisch wäre, du baust ja auch nicht dein eigenes Haus, ohne mitzureden.

MIRJAM ROTZLER, ENGAGIERT FÜR DIE RECHTE DER KINDER

Mirjam Rotzler (39) hat an der Universität Freiburg Soziale Arbeit, Sozialwissenschaften und Sozialpolitik studiert. Schon während dem Master arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Kinderschutz Schweiz, wo sie in nationalen und internationalen Projekten mitgearbeitet hat. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet sie als Geschäftsleiterin für das Kinderbüro Basel. Ihre Erfahrungen bringt sie auch auf nationaler und internationaler Ebene ein, beispielsweise als Ko-Präsidentin der Kinderlobby Schweiz und als Vertreterin in diversen Kommissionen und Fachgruppen.

Sie kennen die Situation in Basel besonders gut. Was wird dort für die Kinderfreundlichkeit getan?
Basel hat das Label «Kinderfreundliche Gemeinde» von der Unicef. Es gibt einen Mitwirkungsartikel in der Kantonsverfassung, was nicht alle Kanton haben. Einige Basler Projekte sind sicher beispielhaft, etwa der runde Tisch, an dem regelmässig Personen aus allen Teilen der Stadtverwaltung teilnehmen und über das Thema Kinderfreundlichkeit diskutieren. In Zürich wurde das Kinderbüro vor zwei Jahren abgeschafft, weil man sagte, das brauchen wir nicht mehr, das machen wir alles schon. Auch Bern wendet deutlich weniger Mittel für Kindermitwirkung auf. Ich glaube daher, Basel ist schon eine Vorzeigestadt.

Woran liegt das?
Das liegt ziemlich sicher an der Nähe, an der Kultur, wie man miteinander umgeht. Die Stadt setzt sich gemeinsam mit einigen namhaften Stiftungen und Organisationen dafür ein, dass die Region für alle lebenswert ist. Auch die Politik setzt sich für die kinderfreundliche Stadt ein.

Welche Rolle spielt das Kinderbüro Basel, wo Sie arbeiten?
Unsere Kernaufgabe ist es, das Mitwirkungsrecht der Kinder auf kommunaler Ebene nachhaltig umzusetzen, so wie das in der Kinderrechtskonvention verankert ist. Kinder sollen überall dort einbezogen werden, wo sie von Entscheiden betroffen sind, und ihre Anliegen einbringen können. Wir setzen uns beispielsweise gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe von Ratsmitgliedern dafür ein, Kinder und Jugendliche für gesellschaftliches Engagement fit zu machen und entsprechende Projekte zu entwickeln.

Ihr werdet massgeblich von der Christoph Merian Stiftung finanziert, sowie über Projektbeiträge, ganz ohne Subventionen. Ist das ein Vorteil?
Wir können es uns erlauben, auch mal unangenehm zu sein gegenüber den Behörden und auch mal etwas einzufordern. In Basel ist alles nah, man kennt sich und wir haben alle die gleichen Ziele. Die Stadt und der Kanton sollen für alle ein Ort sein, an dem man sich wohlfühlt. Wenn es dann um den Einbezug von Kindern geht, sind wir die richtige Adresse.

Wie kommt ihr zu den Projekten?
Einerseits haben wir Vorzeigeprojekte, wie beispielsweise gelungene Beteiligungsprojekte bei Schulhäusern. Wenn das funktioniert, wird es immer sehr gelobt, dadurch haben wir einen guten Namen. In den siebzehn Jahren seines Bestehens hat das Kinderbüro Basel natürlich schon viele solche Projekte gehabt, so dass es oft heisst, frag doch mal das Kinderbüro Basel, die haben Erfahrung und das nötige Wissen.

«Basel ist eine Vorzeigestadt»

Wie bringt ihr die Anliegen der Kinder ein?
Da gibt es verschiedene Wege. Das eine ist das Lobbying, das wir gerade bei längeren Projekten machen. Wenn ein Schulhaus gebaut wird, kann man die Kinder, die am Schluss betroffen sind, gar nicht erreichen, da sie erst später dazukommen. Hier übernehmen wir stellvertretende Funktionen, indem wir die Anliegen der Kinder zum richtigen Zeitpunkt einbringen. Ein anderer Weg ist, Hilfsmittel zu schaffen, damit die Leute nicht zwingend direkt mit den Kindern arbeiten müssen, aber die Kinderinteressen trotzdem in den Planungen drin haben. Dazu haben wir gemeinsam mit der Stadt Basel beispielsweise den verwaltungsinternen Leitfaden, „Auf Augenhöhe 1,20m“ entwickelt. Und wir beteiligen Kinder aktiv direkt in den Projekten, lassen sie Teil der Planungen sein und kümmern uns darum, dass ihre Anliegen in diesen Planungsprozessen ernst genommen werden.

Wie sieht es zum Beispiel bei der Planung von Spielplätzen aus?
Wenn die Stadt einen neuen Spielplatz baut, werden wir frühzeitig involviert. Dafür erhalten wir einen Auftrag und werden dafür bezahlt. Wir schauen dann zusammen, wie unser Engagement sinnvollerweise aussehen könnte. Das kann ein punktueller Einbezug sein, oder auch nur eine Interessenvertretung, also dass wir die Anliegen einbringen, indem wir eine Vernehmlassungsantwort schreiben. Es kann aber auch sein, dass wir die Kinder in den ganzen Prozess einbeziehen, von der Ist-Analyse über das Bauen von Modellen, die Planung bis zur Evaluation.

Wie entwickelt ihr die Ideen für neue Projekte?
Grundsätzlich wollen wir mit den Kindern zusammen herausfinden, was ihre Anliegen sind. Das ist eine grosse Herausforderung, nicht die eigenen Ideen reingeben zu wollen, umso mehr wenn man unter Zeitdruck Lösungen finden muss. Man kann das Eigene natürlich schon auch einbringen, aber nur als gleichwertige Alternative zu den Vorschlägen der Kinder. Und wenn die Kinder nicht darauf einsteigen wollen, dann sucht man zusammen mit ihnen andere Lösungen. Es geht viel um Konsens, ums gemeinsame Herausarbeiten. Die Themen kommen teilweise von den Kindern, teilweise angeregt durch uns oder durch andere, die sich im Rahmen von Projekten mit Kindern auseinander setzen.

Welche Nachteile kann es haben, wenn Kinder nicht einbezogen werden?
Wir hatten kürzlich mit einer Gemeinde zu tun, in der ein neues Primarschulhaus gebaut worden war. Nach einem halben Jahr hat sich die Lehrerschaft bei uns gemeldet, weil vieles sehr unpraktisch war und die Kinder wie auch die Lehrerschaft ein Schulhaus antrafen, das nicht ihren Bedürfnissen entsprach. Man hat alles so neu und schön geplant, aber die Nutzer hat man dabei vergessen. Die Lehrerschaft hat dann mit den Schülern in einer Projektwoche Ideen für eine Aufwertung erarbeitet, und diese mit wenig Mitteln umgesetzt, so dass sie sich nun wohler fühlen. Das ist ein gutes Beispiel, wie es nicht laufen sollte. Es lohnt sich, frühzeitig immer auch an die zukünftigen Nutzer zu denken und ihre Interessen einzubeziehen.

 

Wie kommt ihr an die Kinder ran? 
Mit Schulen zusammenzuarbeiten ist relativ einfach. Da braucht es einfach einen Lehrer, der bereit ist, einer Schulklasse diese Zeit zu geben. Uns kommt zudem der Lehrplan 21 entgegen. Darin ist vorgesehen, dass jede Schule innerhalb der nächsten fünf Jahre eine partizipative Schulkultur entwickeln muss. Und so sind jetzt ein paar Schulen auf uns zugekommen und haben uns gefragt, ob wir sie unterstützen können. Teilweise kommen aber auch Kinder direkt zu uns, ihre Eltern oder Personen, die mit Kindern arbeiten.

Und wie läuft der Kontakt zu Kindern ausserhalb der Schulen?
Ganz wichtig ist die Betroffenheit. Wenn wir einen Spielplatz im Gundeli haben, können wir mit den Kindern arbeiten, die dort sind. Das andere ist die Zusammenarbeit mit ausserschulischen Angeboten der offenen Kinder- und Jugendarbeit, die vor Ort sind. An offene Gruppen heranzukommen ist allerdings schwieriger, da die Kinder oft durchgetaktete Tagesabläufe haben. Das Kinderbüro Basel hat aber auch viele Mitgliedskinder, die wir für aktuelle Projekte anfragen. Die Beteiligung ist immer freiwillig.

«Es ist eine Herausforderung, nicht die eigenen Ideen reingeben zu wollen»

Im Kinderbüro Basel arbeiten nur Frauen. Gibt es dafür einen speziellen Grund?
Das hat sich einfach ergeben. Bevor ich gekommen bin, war jeweils ein Mann der Chef. Der Klassiker halt, Frauen an der Basis und der Chef ein Mann. Jetzt sind wir ein reines Frauenteam. Es hat wohl teilweise damit zu tun, dass wir alle in Teilzeitstellen arbeiten. Aber, da wir keine persönlichen Beratungen machen mit den Kindern, spielt das Geschlecht keine so grosse Rolle.

Gibt es bei Ihrer Arbeit Glücksmomente?
Ja viele, gerade vor kurzem, als ich in Genf Mitglieder vom UN-Kinderrechtsausschuss traf. Auf die Frage, was Partizipation für sie bedeute, reagierte der Vertreter von Ägypten erstaunt und sagte: Was ist das für eine Frage? Wenn man Kinderrechte richtig umsetzen wolle, sagte er, dann sei es ganz logisch, dass man Kinder mit einbeziehe. Dass das so selbstverständlich ist, hat mich sehr beeindruckt, denn das sind ja die Leute, die auf der höchsten Ebene als Kontrollorgan für die Umsetzung der Kinderrechte zuständig sind. Das war toll zu merken, denn genau das tun wir in unserer täglichen Arbeit.

Das Kinderbüro Basel

«Das Kinderbüro Basel setzt sich für die Schaffung und Erhaltung von kinderfreundlichen Lebensräumen in Basel und seiner Region ein». (Leitbild)

Das Kinderbüro Basel existiert seit 17 Jahren. Es hat einen privaten Verein als Trägerschaft. Finanziert wird das Kinderbüro einerseits durch die Christoph Merian Stiftung, die die Hälfte des Jahresbudgets abdeckt. Der Rest wird durch Projektbeiträge erwirtschaftet. Das Team besteht aus sechs Mitarbeiterinnen, die zusammen über 300 Stellenprozente abdecken. In dieser Form und Grösse ist das Kinderbüro Basel in der Schweiz einzigartig.

Das Kinderbüro Basel hat sich im Lauf der Jahre in Basel-Stadt wie Baselland durch eine Vielzahl von Projekten einen guten Namen gemacht. Bei manchen Projekten, wie der Gestaltung von Spielplätzen, ist der Einbezug des Kinderbüros in Basel mittlerweile institutionalisiert. Es wird aber auch bei anderen Themen einbezogen, wie Verkehrs- und Wegplanungen oder beim Schulhausbau. Unter Fachleuten ist das Kinderbüro Basel auch schweizweit bekannt.

Weitere Informationen zu aktuellen Projekten am Ende des Artikels.

Was müsste passieren, damit Ihre Arbeit überflüssig würde?
Wenn die Rechte der Kinder auf Mitwirkung so stark verankert sind, dass man Kinder überall dort einbezieht, wo sie betroffen sind, dann braucht es uns nicht mehr. So lange wir noch nicht so weit sind, muss irgendjemand dran bleiben, das ist eine Erkenntnis, die ich aus meiner Arbeit ziehe. Es ist personenabhängig, es sind Personen, die sich für dieses Thema einsetzen.

Was spielt Digitalisierung bei Ihrer Arbeit für eine Rolle? 
Bisher keine grosse, aber es gibt schon Überlegungen. Gerade bei Quartierbegehungen, da geht man ja oft raus und macht Fotos, da könnte man natürlich mit iPads alles gerade digital machen. Wir arbeiten jedoch oft mit Polaroid-Kameras, das ist unmittelbarer als eine Digital-Kamera. Wir geben dann zum Beispiel vor, dass alle Beteiligten nur 3 Fotos machen dürfen, etwas von einem guten, einem schlechten und einem Wunschort. Das muss man sich genau überlegen und kann nicht einfach alles durchknipsen. Gerade die jüngeren Kindergruppen, mit denen wir zu tun haben, sind teilweise noch nicht so digital unterwegs. Wir sind deshalb auch bei Einladungen von Emails zurückgekommen auf Briefpost. Die geht nämlich direkt zu den Kindern, während die Emails oft an die Eltern gehen, bis die am Abend daheim sind, haben sie das Email wieder vergessen. Aber die Post können wir an das Kind adressieren. Von dem her ist es für unsere Arbeit noch nicht so ein Thema, aber ich glaube schon, dass das auch kommt, die Zielgruppe verändert sich.

Wie wichtig ist ein sozialarbeiterischer Hintergrund für diese Arbeit?
Der sozialarbeiterische Hintergrund für diese Arbeit ist nicht so wichtig, unser Team ist sehr interdisziplinär. Viel wichtiger ist die Bereitschaft der Mitarbeiterinnen, mit den Kindern auf Augenhöhe zu gehen, sie ernst zu nehmen und ihnen ernsthaft zuzuhören. Partizipation ist eine Haltung.

Haben Sie sich Ihre Arbeit als SozialarbeiterIn so vorgestellt, als Sie Ihr Studium absolviert haben?
Lustigerweise habe ich mich bereits früh mit den Kinderrechten beschäftigt. Auf einer meiner ersten grossen Reisen ging ich nach Costa Rica, wo ich in einem kleinen Dorf einen Kindergarten aufbaute und mit den Kindern am Thema Kinderrechte arbeitete. Ich wollte immer etwas tun, das mir Freude macht, für das ich mich engagieren kann. Die Arbeit in der Funktion als Geschäftsleiterin ist für mich interessant, sie ist abwechslungsreich und reicht von Projektleitungen über Personalführung, Buchhaltung, Fundraising zu Interessensvertretung und Weiterbildungen. Ich bin froh, dass ich während meines Studiums schon viel gearbeitet habe, dies hat mir zwar das Studium massiv verlängert, aber die Erfahrungen waren wichtig und halfen mir, gleich nach Abschluss des Studiums diese Stelle im Kinderbüro Basel zu erhalten.

Was würden Sie einer Berufseinsteigerin / einem Berufseinsteiger raten, die/der in Ihrem Bereich arbeiten möchte?
Ich rate jedem Berufseinsteiger, sich bereits früh inhaltlich spannende Arbeiten zu suchen. Es lohnt sich, ein Netzwerk aufzubauen und sich vielseitig in Themen einzuarbeiten. Wichtig ist in unserem Beruf die Bereitschaft, die Kinder ernst zu nehmen. Dies hört sich leicht an, ist es aber nicht immer. Wir sind eine kleine Organisation, die Arbeiten jeder einzelnen Person im Betrieb sind vielfältig. Jemand der bei uns arbeitet, muss diese Vielseitigkeit mitbringen, muss selbständig arbeiten können und bereit sein, in einem interdisziplinären Team mitzuarbeiten.

  

Projekte und Publikationen mit Beteiligung des Kinderbüros Basel


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