Rolf Looser, Pro Infirmis: "Persönliche Erfahrungen helfen, mich in andere Personen zu versetzen"
Soziale Arbeit ist auch – und im Fall von Rolf Looser (50) vor allem – Büroarbeit. Der diplomierte Sozialarbeiter arbeitet bei Pro Infirmis Bern-Mittelland, wo er Menschen mit Behinderung berät. Dabei beschäftigen ihn in erster Linie komplexe Fragen des Sozialversicherungsrechts. In seiner Ausbildung, findet Looser, sei er darauf zu wenig gut vorbereitet worden. Für die Zukunft seines Berufs fürchtet er weniger, von Computern ersetzt zu werden, als dass aufgrund politischer Entwicklungen das Geld knapp wird.
ROLF LOOSER, (50)
ist dipl. Sozialarbeiter FH und arbeitet seit knapp drei Jahren zu 80 Prozent für die Beratungsstelle der Pro Infirmis Bern-Mittelland. Auf dem zweiten Bildungsweg erlangte er sein Diplom als Sozialarbeiter im Jahr 2000 an der Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit und arbeitet seither unter anderem im Bereich der gesetzlichen Sozialarbeit. Rolf Looser ist ursprünglich gelernter Buchhändler.
Christina Baumann / sozialinfo.ch: Sie beraten Personen mit geistiger, körperlicher und psychischer Behinderung. Mit welchen Anliegen haben Sie zu tun?
Rolf Looser: Im Zentrum steht die psychosoziale Beratung. Uns suchen Menschen auf, die bereits von der IV-Leistungen beziehen oder bei denen die Frage nach solchen im Raum steht. Damit verbunden sind oft Probleme im sozialen Umfeld. Unser Angebot ist niederschwellig und in den Auflagen nicht eng formuliert.
Was machen Sie am häufigsten?
Der Grossteil der Anfragen dreht sich um sozialversicherungsrechtliche Fragen und Unsicherheiten. Unklarheiten ergeben sich häufig sowohl bei den Ergänzungsleistungen und der Hilflosenentschädigung als auch beim Assistenzbeitrag und natürlich bei der Invalidenversicherung. Wir sind Ansprechpartner bei der Abklärung ob ein IV-Antrag sinnvoll ist, wir helfen aber auch bei einer Anmeldung zuhanden einer Versicherung und unterstützen beim Erstellen von Einwänden und Einsprachen gegen Rentenentscheide. Die Pro Infirmis verwaltet auch den Fond FLB - Finanzielle Leistungen für Behinderte. Dieser Fond wird über das Bundesamt für Sozialversicherung gespiesen. Zusätzlich stehen der Pro Infirmis Gelder anderer privater Fonds zur Verfügung, die der Kantonalen Geschäftsleitung zur Verwaltung übergeben wurden. Ihre Arbeit besteht auch darin, Gesuche um finanzielle Unterstützung zu formulieren.
Was machen Sie da genau?
Die Anfragen sind sehr unterschiedlich. Mit den FLB decken wir häufig medizinische Anliegen ab. Etwa Beiträge an Brillen oder Zahnbehandlungen, aber auch Zahlungen an bauliche Massnahmen können erbracht werden, wenn die IVund EL nicht genügend Mittel ausrichten kann. Kosten für Haustiere oder auch die Übernahme von Umzugskosten werden hingegen eher bei anderen Fonds geltend gemacht. Über welchen Handlungsspielraum verfügen Sie?Grundsätzlich entscheiden wir, ob es aus sozialarbeiterischer Sicht angemessen ist, ein Gesuch zu stellen oder nicht. Denn wir müssen griffige Begründungen liefern und das Anliegen als sinnvoll beurteilen. Bei diesen Fragen verfügen wir über grosse Verantwortlichkeit. Denn Luxusanliegen können wir nicht berücksichtigen. Bei Finanzierungen über den FLB gilt der Grundsatz: Einfach und zweckmässig. Und grundsätzlich muss im Auge behaltet werden, dass Leute mit Ergänzungsleistungen nicht bessergestellt werden, als Arbeitnehmer im Billiglohnsektor. Es ist bekannt, dass Personen im Verkauf einen schlechten Lohn erzielen, aber trotzdem steuerpflichtig sind. Ebenso müssen sie für die Gesundheitskosten selber aufkommen. Beim Bezug von Ergänzungsleistungen werden die Steuern oft erlassen und die Gesundheitskosten wie Selbstbehalt, Franchise oder Zahnarzt nach Aufwand über die Ausgleichskasse zurückerstattet.
Somit entscheiden Sie darüber, ob etwas sinnvoll ist?
Auch hier wird die Arbeit ethisch. Kann und darf es sein, dass man jemandem eine tolle Erstmöblierung finanziert, die sich eine Person mit wenig Einkommen nicht leisten kann? Diese Abwägungen sind anspruchsvoll und dieses Spannungsfeld wirft auch weitere Fragen auf. Denn wo liegt das Problem? Liegt es bei den Gesuchstellern die privilegiert werden, oder liegt das Problem bei den tiefen Löhnen? Hilfreich beim Entscheid sind die Gesuchsrichtlinien. Grundsätzlich gilt: einfach und zweckmässig und eine Kostenbeteiligung von 10%. Sind wir uns bei einer Anfrage unsicher, nehmen wir Rücksprache im Team um Haltungsfragen zu klären und eine grösstmögliche Gleichbehandlung der Antragsteller zu erreichen.
Haben Sie sich Ihren Berufsalltag so vorgestellt, als Sie Ihr Studium absolviert haben?
Ich zeige Ihnen ein Bild (siehe rechts Bild zum Anklicken), das zwar sehr plakativ daherkommt, aber in der Kernaussage das abbildet, was ich zu dieser Frage empfinde. Die sechs Bilder geben vor, wer sich was unter meinem Beruf vorstellt. Leider entspricht aber das letzte Bild zu grossen Teilen meiner Berufsrealität. Im übertragenen Sinn geht es mir häufig auch so. Heute kann man zwar nicht mehr von Papierkram sprechen, weil viel elektronisch läuft, aber der administrative Aufwand dominiert schon meinen Berufsalltag.
Das stelle ich mir wenig abwechslungsreich vor.
Selbstverständlich gibt es unter den Abklärungsaufgaben auch sehr spannende Sachen, da jeder Fall immer wieder Neues hervorbringt und ich mein Wissen erweitern kann. Trotzdem habe ich mir meinen Alltag während der Ausbildung etwas anders vorgestellt. Ich habe mich in erster Linie als Berater gesehen, der mit den Klienten die psychosozialen Anliegen erörtert. Dass der Beruf so bürokratisch ist und die administrativen Aufgaben ein derart grosses Gewicht einnehmen, habe ich im Vorfeld nicht gewusst.
Sie haben die Ausbildung 2001 abgeschlossen. Worauf wurden Sie zu wenig gut vorbereitet?
Gut hätte ich gefunden, wenn einem das komplexe Zusammenspiel der Sozialversicherungen begreiflich gemacht worden wären. Denn das Wissen über dieses Ineinandergreifen habe ich mir mühsam on the Job erarbeitet. Natürlich habe ich in der Fachhochschule Informationen über die Invalidenversicherung oder über die Ergänzungsleistungen erhalten, aber letztlich hatte dieser Bereich zu wenig Gewicht gemessen an der Berufsrealität.
Hilft Ihnen Ihre Lebenserfahrung in ihrem Beruf?
Ja sicher. Viele persönliche Erfahrungen helfen, mich in andere Personen zu versetzen und ihnen dadurch authentisch und empathisch zu begegnen. Beispielsweise hatte ich kürzlich einen jungen Mann in der Beratung gehabt, der alleine wohnte. Ich habe mich zurückversetzt in die Zeit, als ich alleine, mit wenig Geld, in einer Mansarde lebte. Ein solcher Austausch ist unverfälscht und kommt bei den Ratsuchenden sehr gut an, weil ich ihre Situation authentisch nachvollziehen kann.
Persönliche Erfahrungen helfen, mich in andere Personen zu versetzen und ihnen dadurch authentisch und empathisch zu begegnen.
Bringen Sie Beruf und Privates gut unter einen Hut?
Es braucht Disziplin, diese Trennung zu vollziehen. Und ich stehe in der Verantwortung mein Selbstmanagement dahingehend zu vollziehen. Vor allem dann, wenn die Arbeitsbelastung sehr hoch ist. Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig zu erkennen, welche Arbeitsleistung gut genug sein darf, auch dann, wenn es sicher immer noch besser sein könnte. Es muss nicht immer und alles perfekt sein. Zu dieser Trennung von Beruf und Privatem kommt mir auch das Thema Digitalisierung in den Sinn. Es besteht allgemein die Tendenz, geschäftliche E-Mails von zu Hause aus zu prüfen. Für mich ist es wichtig, genau das nicht zu machen, obwohl die Versuchung gross ist. Vor allem in stressigen Zeiten bin ich versucht, meine Pendenzen von zuhause aus abzubauen. Aber ich will die Trennung zwischen Arbeitsort und privatem Leben unbedingt aufrechterhalten. Denn ich benötige zur psychischen Regeneration einen guten Ausgleich zur problembeladenen Arbeit.
Wann fühlten Sie sich das letzte Mal überfordert?
Es tönt etwas banal, aber eigentlich bei Einwänden oder Einsprachen gegen Entscheide der IV. Hier kumulieren sich verschiedene Schwierigkeiten. Sowohl das juristische Sachverständnis wie auch die laufenden Frist stellen mich unter Druck und die unklare finanzielle Zukunft der Klienten verunsichert mich, denn nur ein Erfolg des Einwandes respektive der Einsprache ist hier das Ziel. So ein Einwand zieht grosse Arbeit nach sich. Es müssen die Akten studiert werden, die mehrheitlich in medizinischer Fachsprache abgefasst sind und oft müssen weitere wichtige Unterlagen zusammengetragen werden, die für den Einwand ausschlaggebend sein können. All dies ist äusserst anspruchsvoll und kann belastend sein. Wir haben zwar die Unterstützung eines Juristen, aber am Ende muss ich den Einwand meist selbst abfassen und dieser sollte schlüssig sein. Denn es geht um viel, nämlich um Geld, das später den Lebensbedarf der Klienten deckt oder eben nicht.
Wann sind Sie das letzte Mal vor Freude in die Luft gesprungen?
In die Luft bin ich vor Freude noch nie gesprungen. Aber immer wieder gibt es zielführende Interventionen. Beispielsweise eine "gelungene" Vernetzung mit den Sozialdiensten oder wenn ein Gesuch gutgeheissen wird. Aber eben auch, wenn ein Einwand auf einen abschlägigen IV-Vorentscheid doch noch zu einem positiven Entscheid führt. Eher erlebe ich, dass die Ratsuchenden vor Freude in die Luft springen und dankbar für unsere Unterstützung sind. So etwas ist schön zu erleben, wenn in vermeintlich ausweglosen Situationen eine gute Lösung gefunden und neue Wege erschlossen werden.
Haben Sie einem Klienten auch schon einmal einen paradoxen Ratschlag erteilt?
Kürzlich habe ich bewusst eine Intervention getätigt, mit der Absicht, dass jemand wieder eigenverantwortlich handelt. Ein äusserst fordernder Klient verwechselte mich mit seinem persönlichen Assistenten, was administrative und finanzielle Leistungen angeht. Irgendeinmal strapazierte er meine Geduld derart, dass ich mit Hilfe eines paradoxen Ratschlages eine festgefahrene Situation zu durchbrechen versuchte. Es ging darum, dass diese Person weder für eine Sozialberatung zugänglich war, noch zu Terminen erscheinen wollte, obwohl er mir über den Schriftverkehr Unmengen an Anliegen zukommen liess. Vor allem finanzielle Sachen wollte der Klient an mich delegieren. So hat er mir schriftlich nonstop Aufträge erteilt, ohne vorherige Absprache Rechnungen zur Bezahlung eingereicht und mir Druck aufgesetzt, die Angelegenheiten zu erledigen. Immer wieder erhielt ich zu hören, wie nachlässig ich sei und wie ineffizient ich meine Arbeit erledige. Aber letztlich war das Problem ja umgekehrt, denn die Person war offensichtlich nicht in der Lage, selber Verantwortung für seine Anliegen zu übernehmen. Ich überlegte lange, wie ich klarmachen kann, dass die Verantwortlichkeit grundsätzlich nicht bei uns sondern bei ihm liegt. So habe ich ein langes und freundliches Mail geschrieben und der Person meine Einschätzung seiner Situation dargelegt. Nämlich, dass er offensichtlich grosse Schwierigkeiten habe, seinen Alltag zu organisieren und wir hierfür nicht die von ihm erwartete Unterstützung bieten können. Meine Empfehlung war, dass er mit einem Beistand besser bedient wäre. Den Link zur KESB habe ich auch gleich mitgeliefert.
Und dann?
Ich brauchte nicht lang auf eine Antwort zu warten. Wie erwartet, kam ein Mail im Wutbürger-Stil in Bezug auf die Kesb im Allgemeinen, worüber kürzlich vor allem in Boulevard-Medien viel berichtet wurde, zurück. Aber die Person deklarierte darin auch, dass sie auf eine solche Hilfe nicht angewiesen und sehr wohl selbständig genug sei, ihren Anliegen nachzugehen. Seither habe ich keine Anfragen mehr erhalten.
Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Arbeit in Zukunft von einem Computer erledigt wird?
Die künstliche Intelligenz macht Fortschritte. Aber ich denke, dass dies in unserem Bereich, wenn überhaupt, noch ganz lange dauern wird. Gespräche und empathische Kommunikation sind schwierig zu ersetzen. Denn jeder Mensch ist einzigartig und in meinem Berufsalltag ist auch jede Situation völlig unterschiedlich. Aber man kann ja nicht wissen, ob es nicht einmal Roboter gibt, die empathisch sein können. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Stellungnahme gegenüber einem IV-Entscheid digitalisiert werden könnte. Denn jede Situation muss in seiner Individualität ausgeleuchtet und geschildert werden. Gerade bei Personen mit kognitiven Einschränkungen finde ich es fast unmöglich, uns durch einen Roboter zu ersetzen. Just hier ist genaues Erfragen wichtig. Denn was der Klient meint erschliesst sich manchmal nur dadurch, dass man zwischen den Zeilen liest. Diese Inhalte dann noch in eine formale Sprache zu bringen wäre zwar praktisch, aber nahezu unmöglich. Die Kommunikation gegenüber den Ämtern zu gewährleisten ist nämlich ein grosser Bestandteil meiner Arbeit. Wie das zum heutigen Zeitpunkt eine Maschine machen sollte, ist mir nicht klar. Aber trotzdem sage ich nicht, dass so etwas nicht auch einmal möglich sein wird. Bis jetzt erlebe ich in meinem Job eher noch die positive Seite der Digitalisierung. So kann ich sehr schnell Informationen übers Internet abrufen und die Kommunikation ist damit generell effizienter.
Das wirtschaftliche Klima wird rauer und Menschen, die finanziell gut gestellt sind, betonen gerne die Selbstverantwortung
Wirkt sich die aktuelle Politik auf Ihre Arbeit aus?
Auf jeden Fall. Das wirtschaftliche Klima wird rauer und Menschen, die finanziell gut gestellt sind, betonen gerne die Selbstverantwortung. Die neoliberalen Tendenzen sind gut spürbar. Eine IV-Rente gesprochen zu bekommen ist heutzutage bedeutend schwieriger als noch vor 20 Jahren. Auch bei der Besteuerung der Ergänzungsleistungen treffen wir neue Vorgehensweisen an. Gerade bei einer Teilinvalidität wird viel häufiger als noch vor ein paar Jahren das hypothetische Einkommen eingerechnet und die Leistungen fallen somit kleiner aus. Unabhängig davon, ob die antragsstellende Person auch wirklich einem Teilerwerb nachgeht. Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, dass Personen mit einer Teilrente einen Beitrag an ihren Lebensunterhalt leisten, sofern es eine Arbeitsstelle gibt, die ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht. Leider reibt sich diese Sachlage an der wirtschaftlichen Realität. Es gibt immer weniger Arbeitsplätze für Menschen mit Einschränkungen, da die Nischenarbeitsplätze allmählich verschwinden. Als erstes werden Stellen für einfache Arbeiten wegrationalisiert. Menschen mit Schwächen haben es schwer im wirtschaftlichen Umfeld. Auch mangelnde Sprachkenntnisse, Bildungsferne und ungenügende Erfahrung in der Arbeitswelt schmälern bei unseren Klienten und ihren Angehörigen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt oft erheblich. Anhand von diesem Beispiel widerspiegelt sich das ökonomische Denken gut und man versucht damit die doch hohen Kosten zu minimieren. In jüngerer Zeit hat es aber auch positive Neuerungen gegeben. So konnte der Assistenzbeitrag realisiert werden.
Wovor haben Sie am meisten Angst als Arbeitnehmer?
Vor einem Einbruch der finanziellen Leistungen zu Gunsten von sozialen Organisationen. Hier spielt das politische Klima eine grosse Rolle, und je nachdem wie stark die sozialen Anliegen auf politischer Ebene gewichtet werden, hat dies direkten Einfluss auch auf unsere Organisation. Im schlimmsten Fall könnte es zu Stellenabbau und Entlassungen kommen.
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