Cornelia Roth, Kindes- und Erwachsenenschutz: "Beharrlich bleiben und niemanden fallen lassen"
Als Sozialarbeiterin auf den Sozialen Diensten in Nidau führt Cornelia Roth (55) im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Mandate oder wird in deren Auftrag für Abklärungen eingesetzt. Obwohl sie manchmal mit schwierigen Situationen konfrontiert ist, fühlt sie sich privilegiert, weil sie ihre Arbeit liebt.
Regine Strub/Sozialinfo.ch: Frau Roth, in Ihrem Beruf haben Sie oft mit Menschen zu tun, die nicht auf Sie gewartet haben. Wie reagieren die Leute darauf, wenn Sie mit ihnen Kontakt aufnehmen?
Das ist einer der spannendsten Aspekte meiner Arbeit. Sie reagieren, wenn sie etwas von einer Behörde verordnet bekommen – oftmals gegen ihren Willen - oft entsprechend misstrauisch, distanziert und im schlimmsten Fall wollen sie gar nichts mit uns zu tun haben. Das ist für mich eine Herausforderung. Die Klienten und Klientinnen sind zwar gesetzlich dazu verpflichtet, mit mir zu kooperieren, wenn ich eine Abklärung durchführe oder wenn ich als ihre Beiständin eingesetzt bin.
CORNELIA ROTH
ist 55 Jahre alt und arbeitet seit rund 17 Jahren als Sozialarbeiterin in den Sozialen Diensten in Nidau. Seit 2005 ist sie ausschliesslich im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes (Kes) tätig. Nach einem ersten Berufsabschluss als kaufmännische Mitarbeiterin hat sie Sozialpädagogik studiert und sich nach dem Abschluss stetig weitergebildet. Unter anderem im Führen von Mandaten im Kindes- und Erwachsenenschutz sowie in der personenzentrierten Beratung. An ihrer Arbeit liebt sie, dass sie mit Menschen verschiedenster Altersgruppen zu tun hat und sich mit unterschiedlichsten Themen befasst: Das reicht von der Gefährdungsmeldung bei einem ungeborenen Kind bis hin zu Erbschaftsangelegenheiten. Sie hat einen inzwischen erwachsenen Sohn und lebt mit ihrem Partner zusammen.
Können Sie jemanden zur Zusammenarbeit zwingen?
Als letzte Möglichkeit könnten wir jemanden unter Strafandrohung zur Zusammenarbeit verpflichten. Dies musste ich jedoch noch nie tun. Es ist aber schon vorgekommen, dass ich die Kesb ersucht habe, jemanden polizeilich einem Psychiater zuzuführen, weil ich mir wegen ihrer psychischen Probleme grosse Sorgen machte.
Wie versuchen Sie, diese Menschen in schwierigen Situationen zur Zusammenarbeit mit Ihnen zu motivieren?
Ich vertrete die Haltung, dass ich mir auch als Fachperson das Vertrauen meiner Klienten und Klientinnen zuerst verdienen muss. Klar muss ich zuerst einmal Gelegenheit dazu erhalten. Das können tatsächlich schwierige Situationen sein. Es kommt ab und zu vor, dass man eine Person einlädt und sie reagiert gar nicht.
Wie können Sie deren Vertrauen gewinnen?
Zum einen orientiere ich mich an den Grundsätzen der personenzentrierten Beratung. Das heisst, dass ich empathisch und wertschätzend bin, dass ich mich bemühe, sie zu verstehen. Zum anderen erkläre ich ihnen meinen Auftrag, damit Rollenklarheit besteht. Ich erkläre, dass ich zum Beispiel nicht Polizistin bin. Ich erkläre, dass ich nicht hinter ihrem Rücken Informationen einhole. Ich signalisiere ihnen, dass ich erreichbar bin, das ist sehr wichtig. Wenn sie einen Notfall haben, rufe ich sobald als möglich zurück. Wenn ich für die Klienten berechenbar bin, wenn sie wissen, wie ich ticke – und das ist umgekehrt auch so – dann entsteht langsam ein Vertrauensverhältnis. Im Grossen und Ganzen reagieren sie aber gut auf mich. Sie wissen, ich bin eine Amtsperson, ich arbeite auf dem Sozialdienst. Ich habe nur selten das Gefühl, dass mich jemand nicht respektiert, oder dass mich jemand bedroht. Manchmal muss ich mich auch hinstellen und klar sagen, was die Erwartungen sind.
Ich muss mir das Vertrauen meiner Klienten und Klientinnen zuerst verdienen
Und die Klientinnen akzeptieren das?
In der Regel schon. Für spezielle, wiederkehrende Situationen haben wir zudem Standards erarbeitet. Wenn es zum Beispiel um das Besuchsrecht geht und die Eltern zerstritten sind, haben wir festgelegt, dass wir das erste Gespräch zu zweit führen, also der Bereichsleiter zusammen mit der zuständigen Sozialarbeiterin. Dann stecken wir den Rahmen genau ab und sagen, was verhandelbar ist und was nicht. Denn oft weiten strittige Eltern ihren Konflikt aus und ziehen weitere Parteien in ihren Konflikt mit ein, also zum Beispiel die Beiständin, die sich um das Besuchsrecht kümmert. Ein weiterer wichtiger Aspekt, wie ich das Vertrauen gewinnen kann, ist die Beharrlichkeit. Wir müssen dranbleiben und dürfen Klientinnen nicht fallen lassen, auch wenn ihr Verhalten schwierig ist. Obwohl sie vielleicht Grenzen überschreiten, müssen wir am Ball bleiben.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ich melde mich immer wieder und versuche in Kontakt zu bleiben. Vielleicht hat jemand früher ein schwieriges Erlebnis mit einer Behörde gehabt oder mit mir. Oder jemand zieht sich bei Konflikten immer wieder zurück. Ich signalisiere ihnen, dass ich da bin, ich rufe sie an. Wenn sie nicht abnehmen oder nicht da sind, sehen sie ja, dass ich angerufen habe. Oder ich schreibe. Zum Beispiel habe ich kürzlich einem Klienten telefoniert, der Borderliner ist und sehr ausfällig wurde. Ich bin einfach ruhig geblieben. Irgendwann haben wir aufgelegt. Er hat darauf später wieder angerufen und sich entschuldigt. Ich habe geantwortet, dass ich diese Entschuldigung gerne annehme und weiterhin für ihn da bin. Darunter verstehe ich Beharrlichkeit: dass man jemanden nicht fallen lässt.
Ist das ein Einzelfall?
Es kommt oft vor, dass Klientinnen ein schlechtes Gewissen haben, weil sie insgeheim wissen, dass sie zu weit gegangen sind. In einem anderen Fall hatte eine Frau ein schlechtes Gewissen und glaubte, ich sei wütend auf sie. Ich hatte eine Ferienbetreuung für ihr Kind organisiert und sie hatte es kurzfristig nicht in Anspruch genommen. Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht wütend bin.
Ziehen Sie auch ab und zu Hilfe bei?
Vor einer Woche habe ich die Behörde angerufen und um ein Gespräch mit einer Klientin zusammen gebeten. Ich war der Meinung, dass eine Familienbegleitung sinnvoll wäre, aber ich konnte meine Klientin nicht davon überzeugen. Ich konnte sie aber dazu bringen, mit mir zusammen zu der zuständigen Person bei der Kesb zu gehen. Im Gespräch konnten wir sie überzeugen, diese Massnahme freiwillig, das heisst, ohne behördliche Verordnung, zu akzeptieren. So habe ich mir Hilfe geholt. Ich habe gemerkt, dass es sinnvoll sein kann, die übergeordnete Stelle beizuziehen. Das ist eine Methode, die wir anwenden und im Team reflektieren.
Wie unterstützen Sie sich im Team?
Eine Massnahme, um Situationen nicht eskalieren zu lassen, ist, bei einem schwierigen Gespräch die Türe offen zu lassen und unsere Kolleginnen zu informieren. Wir bitten einander, vorbeizuschauen, wenn es laut wird. Wir haben auch Alarmknöpfe, die wir betätigen können. Je nachdem, ob jemand bei Menschenandrang schnell nervös wird oder zu Gewaltausbrüchen neigt, überlegen wir uns gut, um welche Zeit wir den Termin vereinbaren. Also zum Beispiel dann, wenn es weniger Leute im Wartezimmer hat.
Haben Sie schon gewalttätige Zwischenfälle erlebt?
Ab und zu erleben wir verbale Drohungen, zum Teil auch massive Drohungen. Jemand hat einmal einen Gegenstand an die Wand geknallt. Wir reagieren umgehend auf alle ernsteren Vorfälle. Es gab ein Hausverbot, ein Gespräch mit der Leitung und ein Schreiben mit dem Hinweis, dass wir bei Wiederholung Anzeige erstatten. Und wir haben den polizeilich-psychologischen Dienst beigezogen. Ab und zu alarmieren wir die Polizei. Wir arbeiten in einem sensiblen Bereich, denn wir greifen in die Grundrechte von Menschen ein. Es kann zu Emotionen kommen und dann müssen wir versuchen, deeskalierend zu wirken. Die beste Prävention ist, wenn man sich dessen bewusst ist und das Setting entsprechend gestaltet. Es ist wichtig, dass unsere Grundhaltung stimmt und dass wir die Leute wertschätzen. Dass wir versuchen, nicht gestresst zu wirken und beim Auftreten beruhigend wirken. Wir signalisieren, dass wir eine Lösung finden werden. Wenn ich merke, dass es brenzlig wird, breche ich das Gespräch auch mal ab. Dann sage ich: das besprechen wir das nächste Mal und begleite die Person hinaus. Aber das kommt nicht oft vor, das sind Ausnahmesituationen.
Wir arbeiten in einem sensiblen Bereich, denn wir greifen in die Grundrechte von Menschen ein
Nidau ist eine deutsch-sprachige Gemeinde, aber wegen der Nähe zu Biel haben Sie sicher auch viele französisch-sprechende Klientinnen. Wie machen Sie das?
Die Amtssprache der Gemeinde ist Deutsch. Das heisst, unsere Korrespondenz erledigen wir grundsätzlich in deutscher Sprache. Die Kesb-Behörde wiederum, die kantonal organisiert ist, befindet sich in Biel und ist zweisprachig. Das heisst, wenn diese mit französisch-sprechenden Klienten oder Klientinnen aus Nidau zu tun haben, erlassen sie Verfügungen in französischer Sprache. Wir Fachleute geben hingegen alles in deutscher Sprache bei der Behörde ein. Und unseren Klienten und Klientinnen schreiben wir auf Deutsch. Wenn ich jedoch weiss, dass jemand gar kein Deutsch versteht, dann schreibe ich auch mal in Französisch – obwohl mein Französisch fehlerhaft ist. Aber mir ist es wichtig, dass ich verstanden werde. Gespräche finden schätzungsweise zu etwa einem Drittel in französischer Sprache statt. Wobei nicht alle französisch-sprechenden Leute wirklich Französisch als Muttersprache haben.
Eine neu gegründete Anlaufstelle für Personen, die von Kesb-Entscheiden betroffen sind, hat kürzlich gesagt, dass die Kommunikation bei der Mitteilung von Entscheiden im Kindes- und Erwachsenenschutz oft verbessert werden müsste, um Konflikte zu vermeiden. Sehen Sie das auch so?
Zur Arbeit der Kesb kann ich nicht Stellung nehmen. Aber bezogen auf meine Arbeit stimmt dies absolut. Ich muss eine Sprache wählen, von der ich die Hoffnung habe, dass sie auch verstanden wird. Häufig ist das eine einfache Sprache. Wenn ich mich nicht so ausdrücken kann, dass mich die Leute verstehen, dann stehe ich auf verlorenem Posten und das ist keine gute Arbeitsgrundlage. Ich verwende deshalb sehr viel Zeit damit, den Leuten zu erklären, um was es geht und was mein Auftrag ist. Wir haben viele Klientinnen, die weder deutsch noch französisch verstehen. Dann müssen wir Übersetzer beiziehen. Und ich höre ab und zu, dass sich die Klientinnen trotz Übersetzung nicht immer richtig verstanden fühlen, weil es bei der Sprache regionale Unterschiede gibt oder weil der Bildungsstand von Übersetzer und Klient unterschiedlich ist. Dann wird die Kommunikation schon sehr komplex… Das macht die Arbeit manchmal sehr anspruchsvoll.
Woran merken Sie, dass Ihre Arbeit von den Klientinnen akzeptiert wird?
Die grösste, aber auch die schönste Herausforderung ist für mich, mit den Klientinnen ein Arbeitsbündnis zu schliessen. Zu merken, dass jemand, der am Anfang vielleicht sogar Angst hatte, zu mir zu kommen, die Zusammenarbeit mit mir mit der Zeit sogar schätzt: das sind die schönen Momente. Es gibt immer wieder Reibungsflächen und wir müssen oft Konflikte ausdiskutieren. Aber wenn ich merke, dass sie ein nächstes Mal wieder zum Termin kommen oder mich – vielleicht bei einer ganz anderen Frage – um meine Meinung bitten, dann ist das für mich ein Vertrauensbeweis. Dann merke ich, dass ich die Herausforderung gemeistert habe, ein Arbeitsbündnis zu schliessen. Und ich habe das Gefühl, dass sie einen Sinn darin sehen, zu mir kommen zu müssen.
Wie äussert sich diese Wertschätzung konkret?
Vor kurzem habe ich ein Telefon von einem Klienten erhalten. Er meinte: „Frau Roth, haben Sie eine gute Braderie (Fest, Messe in Biel) gehabt? Ich habe Sie gesehen. Und ich wollte wissen, ob es Ihnen gut geht„. Ich bekomme immer wieder Anrufe von Klientinnen, weil sie glauben, ich könnte ihnen irgendwie behilflich sein. Manchmal muss ich mich auch abgrenzen und ihnen sagen, dass sie das selber machen müssen oder ich sage ihnen, wie sie vorgehen sollen. Gerade Erwachsene, die ein Mandat auf eigenes Begehren beantragt haben, sind häufig sehr motiviert. Es kann sein, dass sie schon lange darauf gewartet haben, eine Beiständin zu bekommen. Es ist gar nicht so, dass die meisten nicht gerne kommen. Manchmal sagen sie es auch: vielen Dank Frau Roth, ohne Sie hätten wir das nicht geschafft. Eine ältere Frau, die ich zufällig in einem Restaurant getroffen habe, hat laut ausgerufen: „Frau Roth, ich liebe Sie…“ (lacht)
Wird Ihre Arbeit von den Behörden und Politikern geschätzt?
Von den Politikern hier auf der Gemeinde habe ich schon das Gefühl, dass sie unsere Arbeit schätzen. Aber was den allgemeinen politischen Willen auf Kantonsebene angeht: Da bin ich mir nicht so sicher, ob man will, dass wir gute Arbeit leisten.
Wie kommen Sie darauf?
Wir haben sehr viele Fälle und wenig Zeit. Neu wurde im Kanton Bern eine Pauschale pro Fall eingeführt. Die Gemeinde erhält einen fixen Betrag pro Fall und es werden nicht mehr die Stellenprozente nach Fallzahlen berechnet. Das ist ganz neu, wir müssen abwarten, wie sich das auswirkt. Ich weiss nicht, ob das aufgehen wird. Gleichzeitig werden unsere Arbeitsbedingungen immer komplexer, wie ich es eben beschrieben habe. Wir müssen vermehrt Übersetzer beiziehen, wir haben vermehrt Personen, die weder lesen noch schreiben können, die zum Teil existenzielle Nöte haben… All das macht die Arbeit schwieriger. Und ich habe nicht das Gefühl, dass der politische Wille da ist, diesen Entwicklungen zu begegnen.
Was ist für Sie das Schwierigste an den Rahmenbedingungen?
Das Schwierigste ist der Arbeitsdruck. Und manchmal muss ich unter suboptimalen Bedingungen arbeiten, weil zu wenig geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Wenn man mit einer sehr grossen Familie ein Gespräch führen muss, ist es sehr schnell mal sehr eng in diesem Büro.
Was hat Ihnen die Ausbildung gegeben?
Ich habe ursprünglich die Ausbildung zur Sozialpädagogin absolviert. Vor dieser Ausbildung habe ich eine Handelsschule besucht. Bei administrativen Abläufen profitiere ich sehr von dieser ersten Ausbildung. Die Ausbildung zur Sozialpädagogin hat mir geholfen, meine Persönlichkeit zu festigen und weiterzuentwickeln, so dass ich sie als Arbeitsinstrument einsetzen kann. Rückblickend stand dies bei der Ausbildung vielleicht sogar zu stark im Mittelpunkt, ich hätte gerne mehr methodische Inputs erhalten oder mehr Fachliteratur gelesen. Aber die Persönlichkeitsbildung stand damals sehr hoch im Kurs und ich bin heute froh darüber. Ich finde, die Leute dürfen das auch erwarten von jemandem, der in ihre Grundrechte eingreift und sich in ihr Privatleben einmischt. Das methodische Rüstzeug habe ich mir im Laufe der Jahre mit Weiterbildungen angeeignet.
Was würden Sie einer Berufs-Einsteigerin raten, die im Kindes- und Erwachsenenschutz zu arbeiten beginnt?
Wichtig ist, dass man die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Arbeit gut kennt und diese immer wieder reflektiert: Wo sind meine persönlichen Grenzen, wo sind die Grenzen der Rolle, oder des Gesetzesauftrages? Die Auftragsklärung gegenüber mir und den Klientinnen ist sehr wichtig. Natürlich muss ich einerseits anwaltschaftlich für die Klienten arbeiten, sie unterstützen und ihnen zur Seite stehen. Aber andererseits muss ich immer auch wissen, in welchem Zusammenhang und mit welchem Ziel ich arbeite. Und man sollte bescheiden bleiben und sich nicht selber überfordern, indem man sich Ziele setzt, die gar nicht möglich sind. Wichtig ist auch, die kleinen Schritte und Entwicklungen zu sehen und diese zu wertschätzen.
Das Schwierigste war, mir selber wieder zuzutrauen, dass ich weiterhin hier arbeiten kann
Sind Sie schon einmal an Ihre persönlichen Grenzen gestossen?
Ja. Ich habe einmal ein Burnout gehabt. Das war im 2005. Das stand in Zusammenhang mit einer sehr grossen Personalfluktuation hier und meiner familiären Belastung, mein Sohn war damals noch sehr jung. In dieser Zeit habe ich einiges gelernt. Dass man sich selber gegenüber achtsam sein muss und eigene Grenzen respektieren muss. Ich muss wissen, was ich kann und was nicht und ich muss für meine Bedürfnisse einstehen. Ich muss mich hinstellen können und sagen: „das geht nicht, das ist zu viel.“
Wie haben Sie diese Krise überwunden?
Ich habe sehr viel Unterstützung und Verständnis von meinen Kolleginnen und Kollegen erhalten. Ich war mir selber das grösste Problem. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen: die Arbeit bleibt liegen und die Kollegen und Kolleginnen müssen sie übernehmen… Auch die Kommunikation gegenüber den Klienten und Klientinnen ist anspruchsvoll: was sagt man ihnen? Das war eine herausforderungsreiche Zeit. Das Schwierigste war, mir selber wieder zuzutrauen, dass ich weiterhin hier arbeiten kann. Es war eine lange Zeit, in der ich fragile war. Aber ich bin mir heute bewusst, dass es wichtig ist, wie man mit sich selber umgeht. Heute kann ich sagen: ich arbeite wirklich mit Freude hier. Ich fühle mich privilegiert, weil ich eine Arbeit habe, die ich liebe. Sie gibt mir sehr viel. Und gleichzeitig ist da der Moment, in dem ich realisiere, dass sie auch sehr viel von mir fordert. Ich muss zu mir Sorge tragen. Ich tue das, indem ich den kollegialen Austausch pflege und indem ich mich abgrenze, wenn etwas von mir erwartet wird, das meine Gesundheit angreifen könnte. Und ich muss dafür einstehen.
Was tun Sie zum Ausgleich in der Freizeit?
Wichtig ist, dass es neben der Arbeit überhaupt ein Leben gibt und dass man dieses Leben auch pflegt. Ich pflege Freundschaften und unternehme Dinge, die ich gerne mag. Und wenn ich die Bürotüre hinter mir schliesse, dann ist sie wirklich zu. Das ist ein Lernprozess, aber es gelingt mir immer besser. Für mich ist es auch sehr wichtig, dass ich mich in der Freizeit bewege, denn ich sitze viel. Seit vielen Jahren gehe ich ins Yoga und fahre jeden Tag mit dem Fahrrad arbeiten. Immer öfter kommt es aber vor – ich bin nun 55 Jahre alt und brauche mehr Erholungszeit – dass ich nach der Arbeit einfach den Feierabend geniesse, einfach ein bisschen Ruhe… ich setze mich hin und lese vielleicht ein Buch.
Können Sie sich vorstellen, bis zu Ihrer Pensionierung diese Arbeit zu machen?
Ganz klar: ja. Inhaltlich arbeite ich nach wie vor sehr gerne hier. Manchmal sind die Rahmenbedingungen so streng, dass ich mich fragen muss, ob es gut für meine Gesundheit ist. Aber wenn es meine Gesundheit zulässt, dann ist meine Antwort klar ja.
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