Interview Michael Siffert, Schulsozialarbeiter: "Der Einstieg war nicht nur einfach"
Bei der Arbeit als Schreiner kam für Michael Siffert (30) das Zwischenmenschliche zu kurz. Nun ist er seit zwei Jahren Schulsozialarbeiter und hat gefunden, was er suchte. Ein Gespräch über Nähe und Distanz als Vertrauensperson, das Handy als wichtiges Arbeitsinstrument und eine offene Berufsperspektive.
Mit welchen Anliegen kommen die Schülerinnen und Schüler zu ihnen?
Am häufigsten wegen Konflikten, meistens zwischen den Schülern, die sie untereinander nicht lösen können. Aber auch Konflikte mit Eltern oder Lehrpersonen können ein Thema sein.
Kommen sie freiwillig oder schickt sie jemand?
Teils teils. Grundsätzlich kommen sie häufig von selbst. Aber das verändert sich immer wieder. Zurzeit passiert es oft, dass sie von Lehrpersonen geschickt werden.
MICHAEL SIFFERT
ist 30 Jahre alt und hat vor zwei Jahren seine Ausbildung zum diplomierten Sozialarbeiter an der FHNW abgeschlossen. Seither arbeitet er als Schulsozialarbeiter bei der Stadt Bern. In dieser Funktion ist er zuständig für die vier Schulhäuser Wankdorf, Breitfeld, Markus und Wylergut. Als erste Ausbildung hat er eine Berufslehre als Schreiner absolviert und danach in verschiedenen handwerklichen Berufen gearbeitet.
Nehmen alle Lehrpersonen ihre Dienste in Anspruch?
Manche schicken ihre Schüler sehr schnell zu mir und manche gar nie. Ältere Kolleginnen und Kollegen ziehen mich eher weniger bei, oder erst dann, wenn Feuer im Dach ist. Die jüngeren Lehrkräfte sehen Schulsozialarbeit eher als Entlastung. Sie sind häufig dankbar, und ich habe auch festgestellt, dass Lehrpersonen, die die Schulsozialarbeit einmal in Anspruch genommen haben, dies wieder tun.
Wo stehen Sie in der Hierarchie der Schule?
Die Schulsozialarbeit hat in der Stadt Bern eine Sonderstellung. Manchmal sind die Schulsozialarbeiterinnen von der Schule angestellt, dann gehört man zum Kollegium, manchmal von den Sozialen Diensten, dann gehören sie zur Sozialen Arbeit. In der Stadt Bern sind wir vom Gesundheitsdienst angestellt, und damit eine Art Gast im Schulhaus. Das hat Vor- und Nachteile. Ich bin meiner Vorgesetzten bei der Stadt Rechenschaft schuldig, der Schulleitung hingegen nur in einem geringeren Mass. Je nachdem kann es schwierig werden Infos einzuholen, gerade wenn noch weitere Stellen beteiligt sind. Wenn die Schule mit einer Fachstelle in Kontakt tritt, dann bin ich als Schulsozialarbeiter, aufgrund der Anstellung im Schulhaus, nicht automatisch direkter Empfänger von Informationen.
Ihre direkte Vorgesetzte ist nicht vor Ort, Sie aber haben vor allem mit dem Personal in ihren Schulen zu tun. Gibt es da Loyalitätskonflikte?
Ja, die gibt es. Es kommt dabei sehr auf das Klima im Schulhaus an, wie es geführt ist, wie sich das Kollegium zusammensetzt. Als Schulsozialarbeiter gehört man natürlich zum Betrieb. Aber die Loyalitätskonflikte gibt es schon.
Haben Sie so etwas wie eine Weisungsbefugnis ans Kollegium?
Nein. Aber ich kann Empfehlungen abgeben, meinen Eindruck und meine Einschätzung wiedergeben und mitdiskutieren und allenfalls die Meinung vertreten, dass es eventuell sinnvoll wäre, eine Behörde einzuschalten, oder mit sonst jemandem in Kontakt zu treten.
Nehmen die Schülerinnen und Schüler Sie eher als Kollege oder als Autoritätsperson wahr?
Es gibt wohl beides. Ich werde als Teil des Kollegiums wahrgenommen und muss oft darauf hinweisen, dass ich kein Lehrer bin. Bei Schülern, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe, steht mehr das Kollegiale im Vordergrund. Bei den anderen dominiert mehr Distanz und Abwarten.
Vertrauen ist wichtig, aber auch eine gewisse Abgrenzung
Sind Sie mit den Schülern per Du?
Nein, ich stelle mich immer als Herr Siffert vor. Vertrauen ist wichtig, aber auch eine gewisse Abgrenzung. Es sind teilweise sehr schambehaftete Themen, die wir besprechen. Da probiere ich, diesen Rahmen beizubehalten. Bei der systemischen Arbeitsweise ist auch die Elternarbeit ein wichtiger Teil. In einigen Schulhäusern ist der Umgang zwischen Lehrpersonen und Eltern ganz locker, die duzen sich fast alle. Ich finde das schön. Aber ich versuche trotzdem, Herr Siffert zu bleiben. Ich weiss ja nicht, wann ich mit wem irgendwie in Kontakt kommen werde, und da ist sinnvoll, wenn man dann eben nicht der Michael ist.
Kontaktieren die Schüler Sie auch per Handy?
Ich habe ein Arbeitshandy, das ich in den Ferien und in der Freizeit abschalte. Gerade Oberstufen-Schülerinnen und –Schüler kontaktieren mich, oft via Whatsapp. Die Sozialen Medien sind ein Teil unserer Welt und für Kinder und Jugendliche ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden. Weshalb sollte ich mich dem verschliessen? Manchmal wird der Umgang damit auch zum Thema. Wenn ich beispielsweise nachts um halb 12 eine SMS erhalte, kann ich das nachher mit dem Schüler oder der Schülerin besprechen.
Gibt es auch problematische Aspekte?
Ja, beispielsweise bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, sei es durch Beschuldigungen, Beleidigungen oder auch Mobbing, das läuft heute alles auch über diese Kanäle. Sexting ist nur selten ein Thema, aber es kommt auch vor.
Kriegen Sie das direkt über Whatsapp mit oder tragen das andere Leute an Sie heran?
Wenn ich via Handy Kontakt habe mit Schülern, dann geht es meist um Terminvereinbarungen. Es kann ein ungerades Mal vorkommen, dass ich mal bei jemandem nachfrage, wie es geht. Das Bedarf aber schon einer vorherigen Zusammenarbeit. Hauptsächlich werde ich aber durch die Lehrpersonen aufmerksam gemacht.
An wen wenden Sie sich, wenn Sie Rat brauchen?
Sicher mal an die anderen Schulsozialarbeiterinnen und -Sozialarbeiter der Stadt. Ich verfüge noch nicht über sehr viel Erfahrung, da bin ich immer sehr dankbar, wenn ich Kontakt aufnehmen kann mit erfahreneren Kolleginnen oder Kollegen. Meine Vorgesetzte ist eine ganz wichtige Ressource für mich. Bei ihr kann ich mich immer melden, das hilft natürlich ungemein. Und dann sind da die bekannten Gefässe wie Intervision, Supervision. Und dann gibt es in den Weiterbildungen immer Möglichkeiten, eine Situation zu besprechen.
Gibt es in Ihrer Arbeit Situationen, bei denen Sie vor Glück in die Luft springen?
In die Luft springen eher weniger, aber Glücksgefühle gibt es schon. Als Schulsozialarbeiter habe ich es ja mit Leuten zu tun, denen es nicht gut geht. Das kann auch nur Liebeskummer sein. Freudensprünge mache ich dann, wie letzte Woche, als ich ein Päckli Guetzli bekommen habe von einer Erstklässlerin, die mit ihrer Mutter vorbei kam, um sich zu bedanken. Das schätze ich natürlich schon sehr, es ist ein schönes Zeichen und eine Anerkennung dafür, dass man etwas richtig gemacht hat.
Haben Sie auch schon auf methodische Grundsätze gepfiffen?
Da gab es diese Situation mit einer Bubengruppe, die nach vielen Stunden und Interventionen immer wieder angeeckt ist mit ihrem Verhalten. Das hatte auch Mobbingcharakter, und es war einfach eine schwierige Situation. Ich wurde von der zuständigen Lehrerin zum x-ten Mal dazu geholt, und habe ihr dann gesagt, schau, vielleicht müssen wir jetzt das Pädagogische mal etwas runterfahren, und denen einfach mal die Leviten lesen. Und das haben wir dann auch gemacht.
Und hat es genützt?
Das hat glaub ich sehr gut genützt, sogar. (lacht)
Können Sie sich vorstellen in einer vergleichbaren Situation wieder so zu handeln?
Ja, das kann ich. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit ist es, authentisch zu sein. Wenn ich den Kindern oder irgendjemandem etwas vormache, dann merken die das. Und wenn ich dann in dem Moment wütend werde, dann ist es wichtig, dass ich zu meinen Gefühlen stehe.
Den Zauberansatz habe ich noch nicht gefunden
Gibt es für Sie Schlüsselmethoden die immer eine Handlungsmöglichkeit bieten?Den Zauberansatz habe ich wohl noch nicht gefunden. Der systemische Ansatz ist etwas, was mich im Moment schon sehr gepackt hat, wo ich mich auch wieder für eine Weiterbildung angemeldet habe. Ich versuche aber auch immer offen zu sein und aus dem Gespräch heraus so viel wie möglich zu schöpfen. Erstaunlicherweise ergibt sich fast immer etwas.
Woher kommt diese Offenheit?
Ich habe das mit der Zeit gelernt. Als ich direkt nach der Ausbildung die Stelle hier antrat, hatte ich bloss Theoriewissen. Ich hatte jedes Gespräch genau vorbereitet und mir viele Gedanken vorab gemacht. Dadurch hatte ich eine genaue Vorstellung, wohin das Gespräch führen sollte und was das Ziel war. Meine Chefin hat mir das an einem Arbeitsbesuch mal zurückgemeldet. Sie sagte, was du gemacht hast, ist zwar ok, aber auch nicht mehr als das. Du hast deinen Job gemacht, du hast das Gespräch geführt, den Prozess gesteuert. Aber da wäre ganz viel anderes auch noch möglich gewesen. Ich musste zugeben, dass das stimmt. Heute versuche ich mit einem leeren Blatt zu kommen und das Gespräch zusammen mit dem Gegenüber zu gestalten. Es kann sein, dass ich Notizen mache, oder dass wir etwas zeichnen. Manchmal bleibt das Blatt auch leer. Das finde ich viel gewinnbringender, als sich vorher eine halbe Stunde lang vorzubereiten, und dann geht das Gespräch doch in eine andere Richtung.
Wir fühlen uns privilegiert, als Schulsozialarbeiter arbeiten zu dürfen
Ist Schulsozialarbeit ein ideales Arbeitsfeld für Berufseinsteiger?
Es gibt viele Studierende, die in die Schulsozialarbeit möchten, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Ich würde aber nicht unbedingt sagen, dass das der beste Berufseinstieg ist. Für mich war es nicht nur einfach, und ich glaube, das hatte stark mit der Komplexität der Aufgaben zu tun. Ich bin gelernter Schreiner und kannte administrative Arbeiten nicht näher. Klar hatte ich studiert und Praktika gemacht, da gab es auch Büroarbeit. Aber hier als Schulsozialarbeiter, so auf mich allein gestellt, war es teilweise schon schwierig. Ich habe wenige Arbeitskolleginnen oder -kollegen in der Nähe, mit denen man sich kurz zum Mittagessen treffen kann, um sich austauschen. Ich habe heute das Gefühl, es hat mir gut getan, weil ich ganz viel gelernt habe. Für Personen, die vorher auf einem Sozialdienst gearbeitet haben, ist der Einstieg in die Schulsozialarbeit leichter, weil sie schon ganz viel Hintergrundwissen mitbringen, und manche Fragen in fünf Minuten am Telefon regeln konnten, wo ich dagegen 20 Minuten googeln musste.
Wollten Sie schon während Ihrer Ausbildung Schulsozialarbeiter werden?
Eigentlich nicht. Ich wollte eher raus. Als ich zu studieren begann, war für mich Soziale Arbeit immer Jugendarbeit, Streetwork. Im Studium begann ich mich zudem für das Migrationsthema zu interessieren. Als ich diese Stelle hier ausgeschrieben sah, dachte ich, dass das eine ideale Verbindung dieser Schwerpunkte ist: ich habe mit Kindern und Jugendlichen zu tun und auch mit dem Migrationskontext.
Ist Schulsozialarbeit für Sie ein Traumjob?
Ich glaube, wir fühlen uns hier alle recht privilegiert, als Schulsozialarbeiter arbeiten zu dürfen. Weil das ein Gebiet ist, wo es nicht jedes Jahr wieder 20 offene Stellen mehr gibt. Die Anforderungen sind glaube ich nicht gering, aber die Arbeit ist spannend und die Arbeitsbedingungen sind auch gut, man hat Jahresarbeitszeit und Schulferien, die man geniessen kann.
Was müsste passieren, damit Sie bzw. Ihre Arbeit überflüssig würde?
Damit dies überflüssig würde, bräuchte es mehr Respekt voreinander, mehr Wohlwollen jedem Einzelnen gegenüber. Wenn man es dann noch schaffte, zwischen Schule und Quartier eine gute Kommunikationskultur zu pflegen, dann wäre glaub ich ganz viel von dem schon gemacht, was ich hier versuche.
Provokative Frage: Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Arbeit dereinst von einem Roboter erledigt werden kann?
Nein!
Warum nicht?
Empathie und Intuition werden hoffentlich nie künstlich generiert werden können. In dieser Aussage steckt viel Hoffnung drin, aber im Moment kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn die Beziehung nicht funktioniert, dann funktioniert ein ganz grosser Teil meiner Arbeit nicht. Das wahrzunehmen und anzusprechen ist dabei ein ganz wichtiger Teil. Das wird der Computer wohl nicht machen, der wird einfach sagen, ich gebe dir jetzt eine Antwort.
Vom Schreiner zum Schulsozialarbeiter. Wie ging das?
Nach der Lehre habe ich zuerst auf dem Beruf gearbeitet als Schreiner, dann die Rekrutenschule gemacht, und danach weiter auf dem Job gearbeitet. Irgendwann merkte ich, dass mir etwas fehlt. Ich habe dann noch anderes ausprobiert war zum Beispiel als Zimmermann und als Gärtner tätig und habe Liegenschaften betreut. Ich habe gerne gearbeitet und dreckige Finger bekommen, das stört mich noch heute nicht, aber ich habe damals gemerkt, dass ich etwas anderes brauche als bloss die Bestätigung "heute habe ich 37 Fenster angeschlagen und war der Schnellste von allen". Es ist mir wichtig, dass bei der Arbeit auch zwischenmenschlich etwas passiert. Ein Berufsberater hat mir dann Sozialpädagogik vorgeschlagen. Damals dachte ich aber noch, das sei eher etwas für Frauen. Ein Jahr später hat mir ein anderer Berufsberater nochmals dasselbe vorgeschlagen, und dann dachte ich, vielleicht ist da etwas dran. Meine Schwester hat mir dann vorgeschlagen, erst mal die gesundheitlich-soziale Berufsmatura zu machen, und das war dann eigentlich der Startschuss, um in die Soziale Branche einzusteigen.
Helfen Ihnen Erfahrungen aus den verschiedenen Milieus im Arbeitsalltag?
Ja, ich glaube schon, gerade bei der Zusammenarbeit mit Personen mit Migrationshintergrund. Oft ist ihnen nicht bekannt, wie unser Bildungssystem funktioniert und was jemand für Möglichkeiten hat. Da hat es schon geholfen, wenn ich sagen konnte, ich habe eine Lehre gemacht, und bin dann doch noch studieren gegangen. Das hilft glaub ich manchen Eltern, zu verstehen, dass das wirklich möglich ist, und nicht nur auf irgendeinem Papier geschrieben steht.
Gibt es etwas, wovor Sie Angst haben in Ihrem Beruf?
Nein, Angst nicht. Aber Respekt. Beispielsweise davor, dass eine Schülerin, die etwas von mir erwartet, was ich nicht machen will, rausläuft und schreit, der Herr Siffert habe sie angefasst. Das ist etwa die schlimmste Vorstellung. Aber ich probiere bewusst, nicht Angst davor zu haben. Wenn ich so etwas spüren würde, dann würde ich schnell darauf reagieren.
Solche Fragen werden heute ja offener thematisiert. Gibt es in Ihrem Team Austausch darüber?
Ja, das ist ja auch bei den Frauen ein Thema, nicht nur bei den Männern, und wir haben schon im Team diskutiert, wie man sich schützen könnte. Das ist schwierig, denn man kann keine Kamera aufhängen, das funktioniert nicht. Wir müssen niederschwellig sein und den Kindern einen geschützten Rahmen bieten können, wenn sie sich uns anvertrauen sollen. Es haben sich jetzt noch keine konkreten Handlungen daraus ergeben. Man wird nie 100 Prozent geschützt sein, auch die Kinder nicht.
Wie lange werden Sie diesen Beruf ausüben?
Ich glaube, ich werde mein Leben lang Sozialarbeiter bleiben, oder sagen wir: der Sozialen Arbeit verschrieben bleiben. In welcher Art weiss ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, mal selbständig zu werden. Aber vorerst habe ich schon vor, noch einige Jahre als Schulsozialarbeiter zu arbeiten. Mir ist sehr wohl hier, ich finde es einen supercoolen Job, und ich bin froh, den ausüben zu können. Ich werde sicher einmal wechseln, aber nicht in den nächsten fünf Jahren.
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