Wird die Pandemie zur Probe für die IV?
Steigende Anzahl Neurenten, wenn auch startend von tiefem Niveau.
Infolge der Coronakrise steigen die psychischen Belastungen in der Bevölkerung. Parallel dazu wird es künftig schwieriger werden, psychisch Erkrankte wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies wird die Invalidenversicherung zu spüren bekommen.
Die Coronakrise hat bei vielen Menschen zu erhöhter psychischer Belastung geführt. Nebst der Bedrohung durch das Corona-Virus selbst, leiden manche aufgrund wirtschaftlicher Einschränkungen und unsicheren Zukunftsperspektiven unter Existenzängsten. Die behördlich verfügten Massnahmen zur Pandemiebekämpfung führen zudem zu sozialer Isolation oder Einsamkeit, während ausgleichende Freizeitaktivitäten wie Sport oder das Vereinsleben weggefallen sind.
Die Folgen sind spür- und messbar. Im Rahmen der Swiss Corona Stress Study konnten Forschende der Universität Basel zeigen, dass im Laufe des Jahres 2020 schwere depressive Symptome um mehr als das Fünffache zugenommen haben. Einer Studie aus Deutschland zufolge sind darunter auch viele Menschen mit Vorerkrankungen, die nun Rückfälle erleiden.
Nebst Personen, die durch die Coronakrise in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, sind vor allem junge Menschen von schweren Depressionen betroffen. Der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (Doj) nimmt diese Lage sehr ernst. Doj-Geschäftsleiter Marcus Casutt weist darauf hin, wie stark sich die Situation auf Jugendliche auswirkt. Sie seien konfrontiert mit dem Wegfallen vieler sinnvoller und fördernder Freizeitangebote, mit durch Homeoffice und Existenzängsten belasteten Situationen daheim, sowie mit der massiven Einschränkung der Möglichkeiten, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, insbesondere auch im öffentlichen Raum. Erhöhter Stress, psychisches Leiden oder gar häusliche Gewalt seien die Folgen davon. Doj mahnt deshalb schon länger an, dass den besonderen Bedürfnissen Jugendlicher in der Coronakrise besser Rechnung getragen werden müsse.
Es ist abzusehen, dass diese Entwicklung für die Sozialwerke spürbare Folgen haben wird, so etwa für die Invalidenversicherung (IV). Der neue Bericht «Eingliedern statt ausschliessen» des wirtschaftlichen Think-Tanks Avenir Suisse zeichnet die Rentenentwicklung bei der IV der vergangenen zwanzig Jahre nach. Nach der 4. IV Revision 2003 sanken die Neurenten deutlich, zeitweise auf die Hälfte des Standes von 2003. Die Ausrichtung auf das Prinzip «Eingliederung vor Rente» führte zu mehr Erfolgen bei der Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt. Dadurch ist es der Invalidenversicherung gelungen, die Kosten deutlich zu senken. Zwischenzeitlich sind die Neurenten zwar wieder leicht gestiegen, aber blieben insgesamt auf einem tiefen Niveau.
Dies könnte sich nun wieder ändern. Die Folgen der Coronakrise für die psychische Gesundheit der Bevölkerung dürften für die IV zu einer grossen Herausforderung werden. Das Jahr 2020 konnte die IV laut den kürzlich veröffentlichten Eingliederungszahlen zwar noch gut meistern. Dieser Statistik zufolge sank im 2020 die Anzahl Personen, die erfolgreich integriert werden konnten, trotz der Coronakrise lediglich um 3,8 Prozent. Viele Personen werden sich aber wahrscheinlich erst mit einer gewissen Verzögerung bei der IV anmelden, nämlich sobald vorgelagerte Sozialwerke wie die ALV oder auch Corona-Erwerbsersatzleistungen nicht mehr greifen. So rechnet etwa Avenir Suisse in seinem Bericht mit einer Zunahme der IV-Anmeldungen.
Parallel zu der prognostizierten Fallzunahme wird auch die Eingliederung erschwert, weil voraussichtlich viele Arbeitsplätze für Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten wegfallen werden. Stéphane Rossini, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), rechnet mit höheren Hürden bei der Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt: Es sei «zu befürchten, dass wegen der Krise gerade in Branchen mit weniger hohen Anforderungen viele Stellen wegfallen, die für die Integration besonders wichtig sind», sagte er gegenüber der NZZ.
Offen ist zurzeit, wie sich insbesondere die erhöhte Belastung Jugendlicher langfristig auswirken wird. Es ist zu hoffen, dass die kürzlich vom Bundesrat beschlossenen Lockerungen dazu beitragen, die von Jugendlichen dringend benötigten Freiräume zurückzubringen. Der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (Doj) begrüsst den Öffnungsschritt, bekräftigt aber auch seine Forderung nach einer «Sonderstellung für Kinder und Jugendliche bis 25 Jahren».
Steigende Anzahl Neurenten, wenn auch startend von tiefem Niveau.
Für Betroffene ist Invalidität eine schwere Belastung – in erster Linie durch die eigene Beeinträchtigung. Hinzu kommen finanzielle Fragen und der Wunsch nach (Wieder-) Eingliederung in den Arbeitsmarkt.
Lockdown, Homeoffice-Pflicht und viele weitere Unwägbarkeiten erschwerten und verunmöglichten teilweise sogar im vergangenen Jahr die Eingliederungsarbeit. Trotzdem konnten 2020 die IV-Stellen knapp 22 000 Personen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.
Der Chef des Bundesamts für Sozialversicherungen, Stéphane Rossini, sagt, was die Pandemie und die Corona-Todesfälle für die Altersvorsorge bedeuten. Bei der IV befürchtet er Probleme bei der Eingliederung, wenn jetzt viele Jobs wegfallen.
Die neueste Umfrage der Universität Basel zur psychischen Belastung in der zweiten Covid-19-Welle hat ergeben, dass der psychische Stress im Vergleich zum Frühjahr deutlich zugenommen hat. Der Anteil Personen mit schweren depressiven Symptomen betrug während des Lockdowns im April rund 9 Prozent und stieg im November auf 18 Prozent. Besonders stark betroffen sind junge Leute und Personen, die durch die Pandemie finanzielle Einbussen erfahren. Ferner ist die Romandie stärker betroffen als die übrige Schweiz.
Die Invalidenversicherung (IV) ist das viertgrösste Schweizer Sozialwerk. 2019 bezogen 438 000 Personen Leistungen, knapp die Hälfte davon erhielt eine IV-Rente. Neurenten sind vor allem psychisch bedingt – das Sozialwerk ist derweil in alten Strukturen verhaftet.
Im «Corona-Jahr»2020 sind mehr als doppelt so viele Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen verzeichnet worden als im Vorjahr.
In der Sendereihe sprechen junge Basler*innen über ihre Krankheit.
Die Pandemie setzt Kindern zu. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien werden überrannt. Besonders betroffen sind die Sechs- bis Zwölfjährigen. Klinikdirektor Alain Di Gallo über die Art der Probleme und die Massnahmen.