Fachinformationen Fokusartikel

Erste Hilfe für die Psyche

Januar 2021

Psychische Belastungen haben gerade Hochkonjunktur. Während die Nachfrage nach Hilfsangeboten steigt, beschreitet Pro Mente Sana neue Wege: Ein Kurs befähigt Mitmenschen, gut hinzuhören und zu handeln.

Fast alle leiden während der Pandemie in irgendeiner Art und Weise auch psychisch. Für Personen, die vorher schon einmal eine psychische Krankheit durchgemacht haben, können die schwierigen äusseren Umstände gar ein Auslöser für eine erneute Erkrankung sein. Andere mit einer Krankheitserfahrung haben hingegen schon Strategien im Umgang mit Krisen gelernt und fühlen sich möglicherweise nun besser gewappnet. Fakt ist: Unsere Psyche ist gegenwärtig besonders gefordert. 

Studien zur psychischen Verfassung während der Pandemie

Das bestätigt auch eine Übersichtsstudie des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Die Nutzung von niederschwelligen Hilfsangeboten für die psychische Gesundheit hat demnach im Vergleich zum Vorjahr um das Doppelte zugenommen. Das Bundesamt erwähnt, dass auch Suizidgedanken im Zusammenhang mit der Corona-Krise zugenommen haben. Eine Studie der Universität Basel wiederum hat ergeben, dass im November 18 Prozent der Bevölkerung Symptome einer schweren Depression zeigten, während es vor der Pandemie nur 3 Prozent waren. Zu denken gibt, dass auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leiden. Beim Sorgentelefon und Chat von Pro Juventute haben sich die Anfragen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Zu den häufigsten Problemen von jungen Menschen gehören: Freunde verlieren, Einsamkeit und häusliche Gewalt. Im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich sind gemäss einem Bericht der Woz Notfälle gar um 40 Prozent angestiegen.

Erste Hilfe bei psychischer Not

Noch immer sind psychische Probleme jedoch ein Tabuthema. Angehörige und Menschen im näheren Umfeld wissen oft nicht, wie sie psychische Probleme bei ihren Nächsten ansprechen sollen. Viel zu oft begegnen sie ihnen mit gut gemeinten Ratschlägen oder indem sie sich überfordert zurückziehen, statt wirklich zuzuhören. Dabei ist aktives Zuhören bereits sehr hilfreich, und das können auch Laien erlernen. Pro Mente Sana hat 2019 den Kurs "ensa" entwickelt, der Teilnehmende dazu befähigen will, mit Menschen aus dem näheren Umfeld über psychische Schwierigkeiten zu sprechen.

Ensa in der Schweiz

Ensa wurde 2019 von der Stiftung Pro Mente Sana in der Schweiz lanciert. Das Projekt ist mitinitiiert und unterstützt durch die Beisheim Stiftung. Die Idee dazu stammt vom australischen Programm „Mental Health First Aid“. Das Wort „ensa“ bedeutet in einer der vielen Sprachen der australischen Ureinwohner „Antwort“.  

Denn etwa jede zweite Person in der Schweiz erleidet einmal im Leben eine psychische Erkrankung. Fast alle Menschen kennen in ihrem persönlichen Umfeld Personen, denen es psychisch nicht gut geht oder die einmal eine psychische Krise durchgemacht haben. 

Die Botschaft von ensa ist auch: Psychische Krisen sind behandelbar. Je früher jemand Hilfe in Anspruch nimmt, desto besser sind die Aussichten, rasch aus einer Krise herauszufinden. Meistens warten viele Menschen jedoch zu lange bis sie sich professionelle Hilfe holen. Menschen aus dem näheren Umfeld können Betroffene dazu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. 


«In einer idealen Welt könnten wir alle offen über psychische Gesundheit und Krankheit sprechen. »

Roger Staub zum Projekt ensa

Weshalb ist es wichtig, dass Laien Wissen zu psychischen Krankheiten haben?

Roger Staub: Das Thema psychische Gesundheit und Krankheit ist seit vielen Jahren tabuisiert. Wir haben keine adäquate Sprache dafür gelernt und wissen wenig darüber. Wir alle kennen aber sehr hässliche Worte, um Menschen zu beschreiben, denen es psychisch nicht gut geht. Weil Betroffene Angst vor negativen Reaktionen aus ihrer Umwelt haben, warten sie oft zu lange, bis sie Hilfe holen. In einer idealen Welt könnten wir alle offen über psychische Gesundheit und Krankheit sprechen. Wir wüssten, wie man jemandem helfen kann, dem es gerade nicht gut geht. Deshalb finde ich, sollten wir den Blick auf jene richten, denen es im Moment psychisch gut geht. Denn sie können einen Unterschied machen, indem sie den ersten Schritt tun. 

ROGER STAUB

ist seit 2017 Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. 

Psychische Probleme bahnen sich eher schleichend an. Passt denn der Vergleich mit Erster Hilfe für die Psyche?

In einem herkömmlichen Nothelferkurs geht es darum, Erste-Hilfe bei einem Unfall zu leisten. In einem Erste-Hilfe-Kurs von ensa lernt man hingegen, wie man als nahestehende Person einer Person mit psychischen Belastungen beistehen kann. Das kann in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis oder bei der Arbeit sein. Denn nur wenn ich jemanden kenne, kann ich beurteilen, ob es stimmt oder eben nicht, wenn mir diese Person sagt: es geht mir gut. Im ensa Kurs lernt man, Signale wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Betroffene wünschen sich oft nichts mehr, als offen über ihre Belastung sprechen zu dürfen

Roger Staub

Was kann man tun, wenn jemand erst einmal jegliche Hilfe abwehrt?

Wir versuchen in den Kursen zu vermitteln, dass nichts tun immer falsch ist. Erste-Hilfe leisten bei einer psychischen Belastung geschieht nicht in einem Male. Es kann durchaus sein, dass mir jemand beim ersten Mal noch nicht viel erzählt. Dann sollte man sich nicht gekränkt zurückziehen, sondern später noch einmal nachhaken. Psychische Belastungen entwickeln sich langsam, da kann man auch nächste Woche wieder einen Anlauf nehmen. Manchmal brauchen die Leute Zeit, um Vertrauen zu entwickeln. 

Wieso ist es wichtig, möglichst früh zu reagieren?

Das kann man am Beispiel von Depressionen gut zeigen. Eine leichte Depression lässt sich in der Regel durch eine psychologische Beratung von wenigen Stunden gut behandeln. Eine schwere Depression dagegen führt oft zu Arbeitsunfähigkeit, zu stationären Aufenthalten und zu ungewissen Wiedereingliederungschancen. Deshalb sagen wir: je früher, desto besser. Betroffene wünschen sich oft nichts mehr, als offen über ihre Belastung sprechen zu dürfen. Und: nicht zurückgewiesen, nicht lächerlich gemacht oder abgestempelt zu werden. Oft braucht es gar keine professionelle Hilfe, wenn man früh genug eine offene Gesprächssituation herstellen kann. Denn Gespräche entlasten.

Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit Kursen?

Bis heute haben 3000 Leute den Kurs absolviert. Spannend finde ich vor allem, dass viele Menschen uns zurückmelden, dass sie das Gelernte im Alltag anwenden. Das Geheimnis dieses Kurses liegt in der Übung. Wenn man geübt hat, ein offenes, unvoreingenommenes Gespräch zu führen, kann man es immer wieder anwenden.

Ist der Kurs auch für Sozialarbeitende hilfreich?

Auf jeden Fall. Denn in diesen Kursen erhält man ein Grundwissen zu psychischer Gesundheit und Krankheit. Es geht nicht darum, eine Diagnose zu erstellen. Aber man weiss, was das Problem sein könnte und was man tun kann. Die Forschung zeigt zudem, dass es auch den Ersthelfer*innen selbst nach einem ensa Kurs psychisch besser geht.


BAG

Einfluss von Covid-19 auf die psychische Gesundheit

Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung scheint die Krise bisher gut zu bewältigen. Die Resultate einer Übersichtsstudie zeigen jedoch auf, dass psychische Belastungen und Krankheiten ungleich verteilt sind und bestimmte Bevölkerungsgruppen in besonderem Mass treffen.

Universität Basel

Starker Anstieg an psychischer Belastung in der zweiten Covid-19-Welle

Die neueste Umfrage der Universität Basel zur psychischen Belastung in der zweiten Covid-19-Welle hat ergeben, dass der psychische Stress im Vergleich zum Frühjahr deutlich zugenommen hat. Der Anteil Personen mit schweren depressiven Symptomen betrug während des Lockdowns im April rund 9 Prozent und stieg im November auf 18 Prozent. Besonders stark betroffen sind junge Leute und Personen, die durch die Pandemie finanzielle Einbussen erfahren. Ferner ist die Romandie stärker betroffen als die übrige Schweiz.

HSLU Soziale Arbeit

HSLU-Studie zu innerfamiliärer Gewalt: die Pandemie nagt an den Nerven

Innerfamiliäre Konflikte und Gewalt nahmen nach dem Ende des Lockdowns eher zu als ab. Das zeigt eine repräsentative Bevölkerungsbefragung der Hochschule Luzern. Die Studie hat untersucht, wie sich das Zusammenleben in den Familien während des Lockdowns und in den ersten Monaten danach entwickelt hat.

Wie geht’s Dir?

Die Kampagne «Wie geht's Dir?»

Die Kampagne berücksichtigt die Tatsache, dass psychische Erkrankungen, genau wie körperliche Krankheiten, leider zum Leben gehören und alle treffen können. Jeder zweite Mensch in der Schweiz leidet im Laufe seines Lebens einmal an einer psychischen Krankheit. Nahezu jede Person macht daher in der Familie, im Arbeits- oder Freizeitumfeld direkte Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen. 

GEF

psy.ch - Wegweiser für psychische Gesundheit im Kanton Bern

Dieser Wegweiser für Betroffene, Angehörige und Fachleute stellt die vielfältigen Beratungs-, Selbsthilfe- und Therapieangebote im Bereich der psychischen Gesundheit im Kanton Bern in einer Übersicht dar. Zu jedem Angebot finden Sie die Kontaktangaben und eine Wegbeschreibung. Dazu enthält der Wegweiser auch Veranstaltungshinweise, ein Glossar sowie themenspezifische Merkblätter und Broschüren. 


Zurück zur Übersicht