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IV: Verstärkte Verlagerung in die Sozialhilfe

21.01.2021 - 3 Min. Lesezeit

Behindertenbereich
Sozialhilfe
Arbeits- / Berufsintegration
Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Fachredaktion Sozialinfo

Die Ausrichtung der Invalidenversicherung (IV) auf Eingliederung statt Rente führt zu mehr Reintegration in den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig werden mehr Personen abgewiesen, die dann bei der Sozialhilfe landen. Diese Effekte hat nun eine Studie nachgewiesen.

Die IV hat in den vergangenen 20 Jahren eine zunehmend restriktivere Berentungspraxis entwickelt. Zum einen setzt sie seit der vierten Revision im 2004 verstärkt auf Eingliederung und Aktivierung statt Rente. Dahinter steht die Idee, dass mit den richtigen Anreizen und Unterstützungsleistungen auf Seiten der Betroffenen mehr Personen in den ersten Arbeitsmarkt reintegriert werden können.

Zum anderen gibt es eine Reihe von Leiden, die von der IV nicht bzw. nicht mehr als Grund für eine Rente anerkannt werden. Das sind etwa sogenannte somatoforme Schmerzstörungen, Schleudertraumata, oder auch manche psychischen Erkrankungen. Rückendeckung erhält die IV dabei vom Bundesgericht. Es korrigierte zwar 2015 mit einem Leitentscheid seinen umstrittenen Grundsatz, dass „Schmerzleiden ohne klar identifizierbare körperliche Ursache durch eine Willensanstrengung der Schmerzpatienten/-innen grundsätzlich überwindbar seien“ und deshalb keinen Anspruch auf Rente begründeten. Humanrights.ch konstatiert jedoch, dass dieser Entscheid keine Verbesserung mit sich gebracht habe. Gemäss einer Studie des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich von 2017 hat das Bundesgericht von 220 untersuchten Fällen in nur einem einzigen eine IV-Rente gutgeheissen. Deutliche Verschärfungen stellt die Studie ebenfalls bei der Beurteilung von Fällen von Depressionen fest, wie der Bund berichtete.

Weniger Renten, mehr Eingliederungsmassnahmen

Das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) hat nun im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) untersucht, wie sich die veränderte Ausrichtung der IV auswirkt. Zum einen zeigt sich ein deutlicher Rückgang der Neurenten seit 2005. Im Gegenzug hat die IV viel mehr Eingliederungsmassnahmen durchgeführt. Dadurch konnte der Anteil jener Personen erhöht werden, die nach Abschluss des IV-Verfahrens erwerbstätig sind und zwar von 50 Prozent im Jahr 2006 auf 58 Prozent im Jahr 2013.

Das ist erfreulich. Gleichzeitig gibt es im selben Zeitraum jedoch auch mehr Fälle, bei denen trotz Bemühungen der IV die berufliche Integration nicht gelingt. Diese Personen erhalten aber trotzdem keine IV-Rente. Werden diese also einfach in die Sozialhilfe abgeschoben, wie etwa Integration Handicap schon länger kritisierte?

Abschiebe-Effekt in die Sozialhilfe nachgewiesen

In seiner Studie hat das Bass diesen Zusammenhang untersucht. Der Bericht zeigt auf, dass der Anteil der Fälle gestiegen ist, die Sozialhilfe beziehen, nachdem sie von der IV abgelehnt wurden. Von denjenigen Versicherten, die sich 2006 bei der IV angemeldet hatten, landeten 11.6 Prozent bei der Sozialhilfe. Demgegenüber waren es bei denjenigen, die sich 2013 bei der IV angemeldet hatten, 14.5 Prozent. In absoluten Zahlen heisst das gemäss Bericht, dass von dieser Gruppe 1650 Personen weniger in die Sozialhilfe übergetreten wären, wenn noch die gesetzlichen Bedingungen von 2006 gälten. Über den ganzen Beobachtungszeitraum hinweg weist die Studie 7730 Personen aus, die unter dem Rentenregime von 2006 nicht zu Sozialhilfebezüger*innen geworden wären.

Ein weiterer Aspekt, den die Studie untersucht hat, sind die Rentenaufhebungen infolge der systematischen Überprüfungen, die mit der 6. IVG-Revision 2012 eingeführt wurden. Laut dem Bericht ist dadurch “das Risiko eines Übertritts in die Sozialhilfe nach einer Rentenaufhebung in der Periode 2009 bis 2015 um geschätzte 20 Prozent“ angestiegen.

Städte und Gemeinden werden stärker belastet

Es gibt also einen klaren und beachtlichen Effekt der Verlagerung nicht erwerbsfähiger Personen von der IV zur Sozialhilfe, sowohl was relative wie auch absolute Zahlen angeht. Das bedeutet auch, dass Städte und Gemeinden durch zunehmende Sozialhilfekosten stärker belastet werden, vor allem auch weil ein verhältnismässig hoher Anteil dieser Personen über längere Zeit in der Sozialhilfe verbleibt. Wie die Städteinitiative Sozialpolitik in einer 2015 gemeinsam mit der Berner Fachhochschule durchgeführten Studie zeigte, ist ein grosser Teil der Langzeitbeziehenden „zu krank für den Arbeitsmarkt, aber zu gesund für eine IV-Rente“. Von den Personen, die mehr als drei Jahre Sozialhilfe beziehen, leiden 63 Prozent unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Es überrascht daher nicht, dass Städte und Gemeinden, v.a. auch hinsichtlich der erwarteten Zunahme der Fälle infolge der Coronakrise, auf entgegengesetzte Massnahmen drängen. So fordert etwa Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, dass die IV erwerbsunfähige Personen aus der Sozialhilfe wieder zurücknimmt.

Nebst einem weniger restriktiven Rentenregime wäre aber auch eine Anpassung im Bereich der Erwerbsintegration wünschenswert. Die bisherigen IV-Revisionen rückten stets die Pflichten der Betroffenen ins Zentrum. Bessere künftige Lösungen täten aber gut daran, die Integrationspflichten der Arbeitgebenden in den Blick zu nehmen und auf die gemeinsame Abstimmung zwischen allen Beteiligten des Systems zu fokussieren.

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Dass es zu einfach sei, eine IV-Rente zu erhalten, ist ein wiederkehrendes, eher populistisches Argument, das in sozialpolitischen Debatten immer wieder auftaucht. Es brauche nur die richtigen Anreize, um Menschen stattdessen in die Arbeitswelt zu integrieren. Den Leitsatz „Eingliederung statt Rente“ hat sich die IV denn auch zum Gebot gemacht und seit den Nullerjahren schrittweise umgesetzt.

Aber was, wenn trotz hoher Hürden zur Rente die Arbeitsintegration nicht gelingt? Schliesslich ist die Aufnahmefähigkeit oder die Aufnahmebereitschaft des Arbeitsmarktes eine Variable in dieser Gleichung. Oft wurde der IV vorgeworfen, dass sie sich dieser Personen einfach auf Kosten anderer Sozialwerke, vorab der Sozialhilfe, entledigen würde.

Was an diesem Vorwurf dran ist, hat nun das BSV untersuchen lassen. Die vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) durchgeführte Studie weist klar darauf hin, dass es aufgrund der restriktiveren Berentungspraxis einen erhöhten Transfer von der IV zur Sozialhilfe gibt.

Immerhin: es spricht für ein funktionierendes System der Kontrolle, dass das BSV eine Studie in Auftrag gibt, durch die sie selbst in Kritik gerät.