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Integrationsvereinbarungen: Erste Erfahrungen mit dem "Berner Modell"

Dezember 2015 / Regine Strub (Text und Foto)

Seit Anfang 2015 ist im Kanton Bern das neue Integrationsgesetz in Kraft. Es sieht ein dreistufiges Verfahren für die Integration von neuzuziehenden Ausländerinnen und Ausländern vor. Die Migrationsdienste in den Gemeinden können Neuzuziehenden eine Beratung verordnen, um ihre Integration zu unterstützen. Für Francesca Chukwunyere, Leiterin der Informationsstelle für Ausländerinnen- und Ausländerfragen (isa) wären freiwillige Beratungen ebenso wichtig.

Das "Berner Modell"

Das "Berner Modell" sieht ein mehrstufiges Verfahren für die Integration vor. Es besteht aus einem obligatorischen Erstgespräch in der Gemeinde, einer vertieften Beratung durch eine der vier Ansprechstellen Integration und - als ultima ratio – in einer verbindlichen Integrationsvereinbarung mit den Migrationsbehörden.

Beim Erstgespräch auf der Gemeinde erhält die neuzugezogene Person Informationen zu ihren Rechten und Pflichten, sowie zu den vorhandenen Integrationsangeboten vor Ort. Die Gemeindeangestellten des Migrationsdienstes schätzen bei diesem Erstgespräch den Informationsbedarf der neuzugezogenen Person ein. Wenn sie den Eindruck haben, dass aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen oder sozialen Aspekten eine weitere Beratung sinnvoll wäre, verweisen sie diese an eine sogenannte "Ansprechstelle für Integration". Unter sozialen Aspekten sind zum Beispiel die berufliche Qualifikation oder die familiäre Situation zu verstehen. Für die betreffende Person ist die Zuweisung nur dann verpflichtend, wenn sie aus einem sogenannten Drittstaat kommt und nicht als Ehepartner oder Ehepartnerin einer Schweizerin, eines Schweizers nachgezogen ist. Für alle anderen hat die Zuweisung nur empfehlenden Charakter.

Die „Ansprechstelle für Integration“ führt danach mit der zugewiesenen Person eine Standortbestimmung durch und schlägt geeignete Massnahmen vor. Wenn die Ansprechstelle nach mehreren Gesprächen – aber spätestens nach drei Monaten - den Eindruck gewinnt, dass die zugewiesene Person sich zu wenig um ihre Integration bemüht, meldet sie dies der Migrationsbehörde. Als letzte Massnahme kann die Migrationsbehörde danach eine Integrationsvereinbarung verfügen. Während maximal acht Monaten – solange hat die Person Zeit, um die Ziele zu erfüllen - begleitet die Ansprechstelle Integration die betreffende Person und kontrolliert, ob sie die angeordneten Massnahmen aus der Integrationsvereinbarung erfüllt.

In den Augen der Klienten rückt die isa in die Nähe des Migrationsdienstes

Die Informationsstelle für Ausländerinnen- und Ausländerfragen in Bern (isa) ist eine der vier Ansprechstellen im Kanton Bern, die das Zweitgespräche durchführt und allenfalls auf Stufe drei die Integrationsvereinbarungen begleitet. "Zu Beginn einer Beratung sind die Personen zum Teil etwas ängstlich", erzählt Francesca Chukwunyere, Leiterin isa. In den Augen vieler Klienten und Klientinnen, sei die isa mit der Übernahme der verordneten Zweitgespräche in die Nähe des Migrationsdienstes gerückt. In den meisten Fällen gelinge es den Mitarbeitenden aber, die Leute zu motivieren. Als NGO hat die isa bisher nur freiwillige Beratungen angeboten. Die MitarbeiterInnen decken rund zwölf verschiedene Sprachen ab. Bei anderen Sprachen ziehen sie eine interkulturelle Übersetzung bei. "Zum grossen Teil schätzen die Leute diese Gespräche sogar sehr", sagt Chukwunyere.

In den allermeisten Fällen geht es bei den Massnahmen um Deutsch-, allenfalls Alphabetisierungskurse. Weitere Abmachungen können sein: jemand muss sich um Arbeit bemühen, für die Schulbildung der Kinder sorgen, Elternabende besuchen, sich informieren, welche Gepflogenheiten bezüglich Kindererziehung in der Schweiz gelten oder sich in anderen Bereichen informieren. Das töne möglicherweise etwas vage und vielleicht auch etwas beliebig, gibt Chukwunyere zu, aber das neue Integrationsgesetz sei sehr offen formuliert. "Wenn es um 'hard Facts' geht, stehen Deutschkurse im Zentrum", so Chukwunyere. Das heisst, die betreffende Person muss sich für einen Deutschkurs anmelden und auch teilnehmen. Es sei ihnen ein Anliegen, dass die Ziele für die betreffende Person auch wirklich realistisch seien. "Wir haben Leute, die sind vier Jahre zur Schule gegangen und danach 30 Jahre nicht mehr", erklärt sie. Einen Abschluss auf einem bestimmten Niveau vorzuschreiben, wäre in einem solchen Fall wenig sinnvoll. Der Kanton Bern bietet subventionierte Deutschkurse an, den Kurs bezahlen müssen die betreffenden Personen aber selber.

Mehr freiwillige Beratungen wären sinnvoll

"Besonders die Erstgespräche auf der Gemeinde finde ich sehr sinnvoll", meint die Integrationsspezialistin Chukwunyere auf die Frage, wie sie den Nutzen des Berner Modells einschätzt.   

FRANCESCA CHUKWUNYERE, LEITERIN INFORMATIONSSTELLE FÜR AUSLÄNDERINNEN UND AUSLÄNDERFRAGEN

Francesca Chukwunyere ist Ethnologin und leitet seit 2010 die Informationsstelle für Ausländerinnen und Ausländerfragen (isa) in Bern. Sie hat eine reiche Erfahrung in der Initiierung und Durchführung von integrativen Projekten, sowohl als Selbständig Erwerbende als auch als Angestellte der Verwaltung von Stadt und Kanton Bern. Von 2009 bis 2012 war sie Projektleiterin des Pilotprojektes "Integrationsvereinbarungen" in Ostermundigen.

Und fügt an: "Umso mehr, wenn es gelingt, eine Willkommenskultur zu etablieren". Um den Nutzen der Zweitgespräche abschliessend einschätzen zu können, ist es nach nur zehn Monaten seit der Einführung noch etwas früh. Auch war es bisher noch nicht notwendig, mit jemandem eine Integrationsvereinbarung abzuschliessen. Per Ende Oktober hat die isa 217 verbindliche und zirka 300 empfohlene Zuweisungen erhalten. Wie viele Personen die freiwillige Beratung schliesslich in Anspruch nehmen werden, kann die isa im Moment noch nicht abschliessend sagen, da es keine zeitliche Beschränkung für deren Inanspruchnahme gibt. Wie es in den übrigen Regionen des Kantons aussieht, kann die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) auf Anfrage noch nicht sagen. Eine Auswertung sei erst Anfang des nächsten Jahres geplant, sagt Brigit Zuppinger, Leiterin Fachbereich Migration bei der GEF auf Anfrage.

Ob sich der administrative Aufwand wirklich lohnt, wird die GEF dann entscheiden müssen. Sollte der Kanton zum Schluss kommen, dass der finanzielle Aufwand zu hoch ist, würde sich Francesca Chukwunyere wünschen, dass das freiwerdende Geld stattdessen vermehrt in die freiwilligen Beratungen investiert würde. Oft tauchen Fragen erst Monate nach der Einreise auf und dann sind die Betroffenen unter Umständen froh, sich freiwillig beraten zu lassen, erzählt Chukwunyere. Im Moment hat die isa die freiwilligen Beratungen für die bereits seit längerem anwesende Migrationsbevölkerung etwas zurückgebunden, um genügend Kapazitäten für die zugewiesenen Beratungen zu haben. "Ich fände es sinnvoll, wenn es Stellen gäbe, die spezifische Beratungen anbieten können und allen offenstehen", meint Chukwunyere.

Integrationsvereinbarungen als Sanktionsinstrument?

Mit dem neuen Instrument der Integrationsvereinbarung können die Migrationsbehörden die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung verweigern, wenn die betreffende Person die Bedingungen in der Integrationsvereinbarung nicht erfüllt. Doch ein Instrument, um damit gegen schwer integrierbare Personen rechtlich vorgehen zu können, ist es nur bedingt. Vertreter bürgerlicher Parteien hätten sich dies vom neuen Integrationsgesetz möglicherweise erhofft, so Chukwunyere. Da die Zielgruppe klein ist - gemäss Integrationsgesetz können Ausländer aus EU/EFTA-Ländern nicht verpflichtet werden und der Asylbereich ist auch ausgeklammert - sei das ein Trugschluss, so Chukwunyere. Auch Sozialhilfe-Abhängigkeit sei bei dieser Zielgruppe kaum ein Thema. Zudem seien die Verschärfungen im Ausländer- und im Asylgesetz längst umgesetzt. Bereits heute sei der Familiennachzug an strenge Bedingungen geknüpft und bei Sozialhilfebezug sehr erschwert. Selbst eine Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) stelle heute viel weniger als früher eine „sichere“ Aufenthaltsbewilligung dar. Auch sie kann unter Umständen, zum Beispiel bei längerem Sozialhilfebezug wieder entzogen werden. Hinzu kommt, dass Neuzuziehende in der Regel sehr motiviert seien, sich hier zu integrieren, sagt Chukwunyere. Somit ist die Integrationsvereinbarung kaum das geeignete Instrument, um schwer integrierbaren Personen mit dem Ausweisentzug zu drohen. Die Erst- und Zweitgespräche können aber dazu dienen, die Neuzugezogenen im Hinblick auf ihre Integration zu sensibilisieren.

Gesetzgebung und Rechtsprechung

SWI

Für die SVP eine Ohrfeige, die den Rechtsstaat bewahrt

Für die Schweizer Presse ist die klare Ablehnung der Durchsetzungs-Initiative eine veritable Schmach für die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP). Mit diesem Votum habe das Stimmvolk einer vernünftigen Politik zugestimmt und populistische Rezepte abgelehnt. Uneinig ist man sich, ob diese Abstimmung ein Wendepunkt ist.

Travail.Suisse

Gleichstellungsgesetz: Die vorgeschlagene Revision genügt nicht!

Travail.Suisse, die unabhängige Dachorganisation der Arbeitnehmenden, beurteilt die Vorlage zur Revision des Gleichstellungsgesetzes, als klar ungenügend. Der Revisionsvorschlag bringt aber immerhin einen wichtigen Nutzen: Er ermöglicht den Unternehmen, sich des Problems der Lohndiskriminierung überhaupt bewusst zu werden. Das Argument der Transparenz hat die Mitgliedsverbände von Travail.Suisse denn auch davon überzeugt, die Vorlage zu unterstützen. Allerdings sind Nachbesserungen unbedingt nötig.Zum Thema:- Stellungnahme zur Revision des Gleichstellungsgesetzes (SVV)

Deutsches Ärzteblatt

Psychopharmaka-Tests mit Heimkindern in den 1960ern

Ein Arzt soll Psychopharmaka in den 1960er Jahren in Schleswig an Heim­kin­dern getestet haben. Dies geht aus Untersuchungen der Pharmazeutin Sylvia Wagner hervor. Sie hat Archive und historische Fachzeitschriften ausgewertet und nach eigenen Angaben Belege für bundesweit etwa 50 Versuchsreihen gefunden, darunter auch zwei Fälle in Schleswig-Holstein. Es sei „klar erkennbar, dass das Versuche waren“, sagte Wagner NDR 1 Welle Nord.

Kanton Thurgau

Planwerte für Pflegeheimplätze werden neu festgelegt

Der Regierungsrat hat den Entwurf der Pflegeheimplanung 2016 genehmigt. Der Entwurf skizziert für Menschen im AHV-Alter drei Szenarien mit den entsprechenden Massnahmen, wobei der Regierungsrat Szenario B favorisiert. Zudem enthält der Entwurf Planwerte für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung. Das Departement für Finanzen und Soziales unterzieht den Entwurf nun einer externen Vernehmlassung.

Fachliteratur und Studien

sgv

sgv enttäuscht über BFI-Botschaft: Den Worten müssen endlich Taten folgen

Die vom Bundesrat verabschiedete Botschaft zur Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik (BFI) spricht zwar in schönen Worten von der Stärkung der Höheren Berufsbildung. Doch Konsequenzen werden daraus keine gezogen. Das Gegenteil ist der Fall: Grosszügig zeigt sich der Bundesrat bei den universitären Hochschulen. Bei der Berufsbildung knausert er. Der sgv verlangt die Korrektur der BFI-Botschaft. Das Versprechen von 400 Millionen Franken für die höhere Berufsbildung ist unbedingt einzuhalten.- Genügt es? Leider nein! (Travail.Suisse)

Kanton Freiburg

Interkulturelles Dolmetschen: Eine Lösung für einen besseren Zugang zur Pflege für die Migrationsbevölkerung

Die Direktion für Gesundheit und Soziales (GSD) und die Sicherheits- und Justizdirektion (SJD) organisieren am 22. Februar in Freiburg gemeinsam ein Treffen zum Thema gesundheitliche Chancengleichheit, mit Schwerpunkt auf das interkulturelle Dolmetschen. Die Veranstaltung wird vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung in der Schweiz (VBGF) unterstützt. Rund 80 Führungskräfte aus dem Freiburger Sozial- und Gesundheitswesen werden da sein. Gemeinsam werden sie u. a. eine Bestandsaufnahme der kantonalen und nationalen Praxis machen. Ausserdem findet ein Runder Tisch statt, mit dem das interkulturelle Dolmetschen bei den Fachpersonen des Gesundheits- und Sozialwesens bekannt gemacht werden soll. 

Der Bund

Anklage gegen mutmasslichen Jihad-Reisenden

Die Bundesanwaltschaft hat Anklage gegen einen 25-Jährigen eingereicht. Ihm werden Verbindungen mit dem IS vorgeworfen.Ahmed J. wurde am 7. April 2015 am Flughafen Zürich festgenommen. Der 25-jährige Schweizer aus dem Raum Zürich wollte nach Syrien reisen und sich der Terrormiliz Islamischer Staat anschliessen. Nun hat die Bundesanwaltschaft beim Bundesstrafgericht in Bellinzona Anklage eingereicht.Zum Thema:- Mutmasslicher Dschihadi-Reisender angeklagt (Bundesanwaltschaft)

Institutionen

NZZ Online

BGer: Mutter haftet nicht für Unfall des Nachbarkindes

Bundesgericht weist Beschwerde der Eltern des Opfers ab

Eine Zürcher Mutter haftet nicht für den schweren Unfall eines kleinen Mädchens, auf das sie kurz hätte aufpassen sollen. Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Eltern des Opfers abgewiesen und entschieden, dass der Frau kein Fehler angelastet werden kann.(BGer-Urteil 4A–275/2011 vom 20.10.2011)

Deutscher Bildungsserver

Keine Zeit für Freizeit? Ganztagsschule im Alltag Jugendlicher

Freizeit nimmt nicht nur einen zentralen Stellenwert im Alltag Jugendlicher ein, sondern gilt auch als wichtiges Angebot der Ganztagsschule, das Gelegenheiten für den Erwerb von Wissen und Kompetenzen bietet. Wie sich Jugendliche das Ganztagsangebot aneignen und mit ihrem außerschulischen Freizeitalltag vereinbaren, zeigt Regina Soremski auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse. Die Broschüre bietet Anregungen für eine jugendgerechte Ganztagsschule.

LCH

Newsletter LCH 2a / 2016

Themen wie Klassengrösse, Sparmassnahmen im Bildungssektor, Flüchtlingskinder und gesprochene Sprache auf dem Pausenplatz haben in den vergangenen Wochen die Öffentlichkeit bewegt. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH warnt vor einem weiteren Abbau in der Bildung, fordert für die schulische Integration von Flüchtlingskindern die Bereitstellung notwendiger Ressourcen, stellt sich gegen eine Erhöhung der durchschnittlichen Klassengrössen und kritisiert eine Sprachenregelung auf Pausenplätzen.

Medienartikel zu Integrationsvereinbarungen


Das «Berner Modell» im Kontext der Bundes-Gesetzgebung


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