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Binationale Paare und neues Sorgerecht: Aufenthaltsrecht durch umgekehrten Familiennachzug?

März 2015 / Marc Spescha (Gastbeitrag)

Seit der Einführung des neuen Sorgerechts im Zivilgesetzbuch (ZGB) ist die gemeinsame elterliche Sorge auch nach Trennung oder Scheidung der Eltern der Regelfall. Doch was heisst dies, wenn ein Elternteil nach der Trennung um sein Aufenthaltsrecht bangen muss? Im Gastbeitrag von Marc Spescha erfahren Sie, weshalb das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung heute die Vorgaben der Kinderrechtskonvention stärker berücksichtigen muss.

Im Zuge der neuen Sorgerechtsregelung nach ZGB wurde das gemeinsame Sorgerecht als Regelfall verankert. Im Zentrum desselben steht das Kindeswohl, das in Migrationskontexten auch beim sogenannten umgekehrten Familiennachzug von zentraler Bedeutung ist. Wie nachfolgend gezeigt wird, ist dabei insbesondere auch dem gemeinsamen Sorgerecht im Rahmen der menschenrechtlichen Wertentscheidungen Rechnung zu tragen.

MARC SPESCHA: VERSIERT IM MIGRATIONSRECHT

Marc Spescha ist seit 1991 als freiberuflicher Anwalt und seit 1993 im Advokaturbüro Egg, Gwerder, Mona, Riedener, Spescha, Bolzli, Gretler tätig. Seit 2010 ist er zudem Lehrbeauftragter für schweizerisches Migrationsrecht an der Universität Freiburg im Ue. Er ist Autor und Mitherausgeber zahlreicher Bücher zum Migrationsrecht und ein gefragter Fachreferent auf diesem Gebiet. Sein neuestes Buch "Handbuch zum Migrationsrecht", das er zusammen mit Antonia Kerland und Peter Bolzli herausgegeben hat, ist anfangs 2015 in einer zweiten, aktualisierten Neuauflage erschienen.

Das gemeinsame Sorgerecht und dessen Inhalt

Von Gesetzes wegen gilt, wie bis anhin im Falle verheirateter Eltern, die gemeinsame elterliche Sorge (Art. 296 ZGB in Verbindung mit Art. 298a ZGB). Im Eheschutz oder im Scheidungsfalle kann indessen anders als gemäss bisheriger Praxis die elterliche Sorge nur dann einem alleinigen Elternteil zugeteilt werden, sofern dies zur Wahrung des Kindeswohls notwendig erscheint (Art. 298 ZGB). Auch im Falle nicht verheirateter Eltern gilt die gemeinsame elterliche Sorge nach Art. 298 ZGB neu als Regelfall.

Das gemeinsame Sorgerecht im Dienste des Kindeswohls

Die elterliche Sorge, die dem Wohl des Kindes dient, umfasst gemäss Art. 301 ZGB die Pflege und Erziehung des Kindes, das Treffen nötiger Entscheidungen, unter Vorbehalt der eigenen Handlungsfähigkeit des Kindes, durch die Eltern, die Erziehung im Besonderen, namentlich die Förderung und der Schutz der körperlichen, geistigen und sittlichen Entfaltung des Kindes sowie die Verschaffung einer angemessenen Ausbildung (Art. 302 ZGB). Eine Neuerung gegenüber dem bisherigen Recht ist sodann, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht dem obhutsberechtigten Elternteil zusteht, sondern als Bestandteil der elterlichen Sorge gilt (Art. 301a Abs. 1 ZGB). Dies bedeutet, dass der Aufenthaltsort des Kindes nur mit Zustimmung des andern Elternteils oder aber durch Entscheidung des Gerichts oder der KESB gewechselt werden kann, wenn eine Übersiedlung ins Ausland beabsichtigt ist, oder aber der Wohnortswechsel Auswirkungen auf die elterliche Sorge und den persönlichen Verkehr haben kann. Falls sich die Eltern über die Frage des Aufenthaltsortes nicht einigen können, entscheidet das Gericht oder die Kindesschutzbehörde (Art. 301a Abs. 5 ZGB).

Das Kindeswohl unter migrationsrechtlichen Aspekten

Gemäss Art. 3 der Kinderrechtskonvention ist das Kindeswohl von allen staatlichen Organen vorrangig zu berücksichtigen. Von behördlicher Seite ist zu respektieren, dass die Verantwortung für das Kind primär Sache der Eltern ist (Art. 5 KRK). Art. 9 und 10 Abs. 2 KRK bringen zum Ausdruck, dass eine Trennung von Eltern(teil) - Kind grundsätzlich vermieden werden soll und im Falle getrennt lebender Eltern regelmässige Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen zu ermöglichen sind. Gesuche um Familienzusammenführung sind sodann wohlwollend human und beschleunigt zu bearbeiten (Art. 10 Abs. 1 KRK). Bemerkenswert ist schliesslich Art. 18 KRK, wonach die Vertragsstaaten verpflichtet sind, dem Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge Nachachtung zu verschaffen. Als Zwischenfazit folgt hieraus, dass das gemeinsame Sorgerecht im Interesse des Kindes nach Möglichkeit einen regelmässigen persönlichen Kontakt zu beiden Elternteilen erfordert, wobei es sich hierbei um des kindlichen Bindungsbedürfnisses willen (Kind-Elternteil), zur Erziehung des Kindes (Kind-Elternteil) sowie zwecks Verständigung über die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge (Elternteil-Elternteil) um einen physisch-räumlichen Kontakt handeln muss. Die in Migrationskontexten zuweilen gerichtlich vertretene Auffassung, die Beziehung zwischen Elternteil und Kind könne auch via Skype aufrecht erhalten werden, ist mit den konventionsrechtlichen Anforderungen an eine gelebte Beziehung und den Erfordernissen des gemeinsamen Sorgerechts kaum vereinbar. Die zentrale Bedeutung einer physisch-räumlichen Kontaktmöglichkeit wird gerade auch im Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern manifest bzw. der erforderlichen Zustimmungspflicht eines grösseren Wechsels des Aufenthaltsortes gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB. 

Anlass für diesen Artikel

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Referats, das Marc Spescha anlässlich der Veranstaltung "Auswirkungen des neuen Sorgerechts auf binationale Paare" am 9. Dezember 2014 im Progr in Bern hielt. Veranstalterin war die Beratungsstelle für Frauen und Männer in binationalen Beziehungen "frabina". Frabina berät Frauen und Männer in binationalen Beziehungen aus den Kantonen Bern und Solothurn zu folgenden Themen: Partnerschaft, Elternschaft und Familie, Eheschliessung, Trennung und Scheidung, Aufenthalt und Integration, Finanzen und Kontakt mit Behörden. Die Beratungen erfolgen themenübergreifend, ganzheitlich, lösungsorientiert und in mehreren Sprachen.

Das Kindeswohl als Kriterium beim umgekehrten Familiennachzug

Der Begriff des umgekehrten Familiennachzugs wird vom Bundesgericht nicht einheitlich verwendet. Ursprünglich bezeichnete es das vom Kind abgeleitete Aufenthaltsrecht des sorge- und obhutsberechtigten Elternteils. Der Begriff eignet sich indessen als Oberbegriff für alle Nachzugskonstellationen von Elternteilen, die ihr Aufenthaltsrecht von der Bindung zum Kind ableiten wollen, also auch solchen, die „lediglich“ besuchsberechtigt sind. Gemäss dem Grundsatzentscheid des Bundesgerichtes BGE 135 I 153 ff. ist im Regelfall der sorgeberechtigten ausländischen Mutter eines schweizerischen Kindes das Aufenthaltsrecht im Heimatstaat des Kindes zu erteilen, primär um dem Kind ein Aufwachsen in seiner Heimat zu ermöglichen.

Im entsprechenden Entscheid bekräftigte das Bundesgericht, es sei auch im migrationsrechtlichen Kontext der Kinderrechtskonvention stärker Rechnung zu tragen. Im Rahmen der Interessenabwägung gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRKwerden daher gewichtige ordnungs- oder sicherheitspolizeiliche Gründe verlangt, um dem sorge- und obhutsberechtigten Elternteil den Verbleib in der Schweiz verweigern zu können. Die entsprechende Praxis gilt allerdings nicht unbesehen bei Kindern aus Drittstaaten, die lediglich niederlassungs- oder gar nur aufenthaltsberechtigt sind (BGE 137 I 247 E. 4), obwohl mit Blick auf das Kindeswohl eine Differenzierung aufgrund des ausländerrechtlichen Status’ nicht überzeugt.

Als Gründe, die gegen eine Bewilligungserteilung sprechen, fallen die Sozialhilfeabhängigkeit und die Straffälligkeit in Betracht. Jene vermag eine Aufenthaltsverweigerung wohl nur zu rechtfertigen, wenn sie vorwerfbar erscheint. Aber auch Straffälligkeit steht einer Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nicht per se entgegen (vgl. etwa BGE 139 I 145). Selbst beim (altrechtlich) bloss sorge- und nicht auch obhutsberechtigten Elternteil ist das frühere Kriterium des tadellosen Verhaltens als Voraussetzung für die Bewilligungserteilung aufgegeben worden (BGE 140 I 145).

Rechtsprechungstendenzen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)

In der jüngeren Rechtsprechung des EGMR ist die Tendenz augenscheinlich, das Kindeswohl gegenüber öffentlichen Fernhalteinteressen stärker zu gewichten. Diesbezüglich heftige Kontroversen löste das EGMR-Urteil im Fall Udeh aus, wo einem erheblich straffälligen Elternteil (Betäubungsmittelhandel) sieben Jahre nach der Tat mit Blick auf das Kindeswohl ein Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde bzw. die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung durch das Schweizerische Bundesgericht drei Jahre zuvor als Verletzung von Art. 8 EMRK qualifiziert wurde. In einem Urteil des EGMR in Sachen M.P.E.V. gegen die Schweiz (Nr. 3910/13) vom 8.7.2014 wurde dem straffälligen asylsuchenden Familienvater trotz einer 9-monatigen Freiheitsstrafe und geringfügiger weiterer Delikte wesentlich aus Gründen des Kindeswohls ein Aufenthaltsrecht zuerkannt bzw. eine Konventionsverletzung festgestellt, obwohl das Kind in der Schweiz „nur“ vorläufig aufgenommen war. Bemerkenswerterweise wurde das Urteil einstimmig gefällt. 

Das wichtigste in Kürze

SSI

Das Kind im Zentrum der gemeinsamen elterlichen Sorge

Broschüre

Aus dem Inhalt:Gemeinsame Elterliche Sorge: die wichtigsten Neuerungen ab dem 1. Juli 2014 Rückwirkende Beantragung der gemeinsamen elterlichen Sorge Wer entscheidet über was? Umzug in der Schweiz oder ins Ausland Gemeinsam Eltern bleiben – trotz Trennung oder Distanz Konflikte mit dem anderen Elternteil? Es geht um die Kinder! Nach der Trennung eine sichere Basis für elterliches Handeln aufbauen

Handbuch zum Migrationsrecht

Das Handbuch zum schweizerischen Migrationsrecht wird für seine übersichtliche, praxistaugliche und auch für Laien gut verständliche Darstellung gerühmt. In der aktualisierten 2. Auflage berücksichtigt es neben dem aktuellen Stand der Rechtsprechung die neusten Gesetzgebungsprojekte dieses äusserst dynamischen Rechtsgebiets und bleibt damit ein verlässliches Nachschlagewerk. Es diskutiert ausserdem die migrationspolitischen Perspektiven im Nachgang zur Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» vom 9. Februar 2014 und zeigt, wie und wo neue Verfassungsbestimmungen in Konflikt geraten mit dem Freizügigkeitsabkommen und der Europäischen Menschenrechtskonvention.Durch die Einbettung der Thematik in einen historischen, politischen und demografischen Kontext gibt das Buch zudem einen fundierten Einblick in das System der schweizerischen Migrationspolitik.

Migrationsabwehr im Fokus der Menschenrechte

Der kompetente Ausländerrechtler, engagierte Anwalt und profilierte Kritiker der schweizerischen Migrationspolitik fokussiert in seinem neuen Buch die schweizerische Politik der Migrationsabwehr unter menschenrechtlichen Aspekten. In einem ersten Teil zeigt er anhand früherer Texte, die er erweitert und aktualisiert hat, die zunehmend restriktivere schweizerische Rechtspraxis zu Familiennachzug und Verbleiberecht auf. Spescha weist nach, dass erst unter dem Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte diesbezügliche Verhärtungen etwas aufzuweichen scheinen. Dass die schweizerische Migrationspolitik keineswegs familienfreundlich ist, fördert ein Rechtsvergleich der Bestimmungen zum Familiennachzug und Verbleiberecht im neuen Ausländergesetz und dem deutschen Zuwanderungsgesetz im zweiten Teil der Textsammlung zu Tage. In einem separaten Aufsatz beschreibt der Autor sodann die besondere strukturelle Gefährdung von Migrantinnen und in einem weiteren Beitrag führt er uns das anwaltliche Selbstverständnis als ausländerrechtlicher Praktiker im Spannungsfeld zwischen rechtlich geschütztem Nationaldenken und Grundrechten vor Augen. Im dritten Teil des Buches widmet sich Spescha populistischen Anfechtungen der Grund- und Menschenrechte in der schweizerischen Migrations- und Einbürgerungspolitik, die sowohl die humanitäre Tradition der Schweiz als auch die Rechtsstaatlichkeit unserer Demokratie bedrohen. Im Schlussaufsatz (Zorn und Wertewärme im «Kulturkonflikt») spannt er einen Bogen von drastischen Wortmeldungen zu kulturbedingten Gewaltexzessen über Instrumentalisierungsversuche «krimineller Taten mit Migrationshintergrund» und kontroverse integrationspolitische Standpunkte bis hin zu Erkenntnissen der Völkermordforschung und Entwicklungspsychologie zur männlichen Gewaltneigung. Der breitgefächerte Text mündet in eine Konkretisierung des Begriffs der «Wertewärme» und zeigt, bei welchen migrationsrechtlichen Fragen Grund- und Menschenrechte hier und jetzt zu verteidigen sind. Das Buch enthält für juristische Praktiker, migrations- und integrationspolitisch Interessierte und Menschenrechtsaktivisten gleichermassen eine Fülle von Argumenten und wegweisende Überlegungen.


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