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Kindesschutz - der Wunsch nach höherer Qualität

September 2018 / Lisa Stalder

Kindesschutz wird hierzulande von niemandem infrage gestellt. Doch weil unter Kindesschutz verschiedenes aufgefasst werden kann und viele Akteure in der Praxis tätig sind, passieren noch immer Fehler. Dies will die Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz ändern. Die Vorstandsmitglieder Helga Berchtold und Patrick Fassbind erklären wieso.

Es war im Jahr 1989, als die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet wurde. Diese hat die Sicht auf die Kinder weltweit verändert. Denn erstmals wurde die Kindheit als geschützter Lebensabschnitt definiert; Kinder werden seither als eigenständige Individuen angesehen, die eine eigene Meinung haben und diese auch äussern dürfen. Die Schweiz hat die Konvention 1997 ratifiziert. Nun, gut 20 Jahre später, ist der Kindesschutz hierzulande ein vieldiskutiertes Thema. Dies hat nicht zuletzt mit der Schaffung von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) zu tun, die Anfang 2013 ihre Arbeit aufnahmen. 

Während heute niemand mehr den Kindesschutz infrage stellt, gelingt es in der Praxis nicht immer, dessen Ansprüchen gerecht zu werden. Dies nicht zuletzt, weil sich die Arbeitsrealitäten der verschiedenen Institutionen (zu) stark unterscheiden. Die 2016 gegründete Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz (IGQK) will dies nun ändern. Die IGQK, die aus Fachpersonen mit Expertise im Kindesschutz aus Praxis, Behörden und Hochschulen besteht, hat sich der Weiterentwicklung und Sicherung von Qualität im Kindeschutz verpflichtet. Sie strebt eine „an den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern orientierten Praxis“ an, wie sie auf ihrer Webseite schreibt.
 

Wo die Probleme liegen und wie diese angegangen werden sollen, erklären die beiden Vorstandsmitglieder der IGQK Helga Berchtold und Patrick Fassbind gegenüber sozialinfo.ch.

Was ist Ihre Motivation, sich für die Qualität im Kindesschutz zu engagieren?

Helga Berchtold: Seit mehreren Jahren beschäftige ich mich in unterschiedlichen beruflichen Funktionen mit dem Kindesschutz. Grundsätzlich kann ich sagen, dass ich den Ehrgeiz habe, mich qualitativ immer zu verbessern. Eigene Fehler zu analysieren und dadurch die Qualität meiner Arbeit im Interesse der Kinder und den Familien stetig zu optimieren. Mich interessiert der Dialog zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Umsetzung in der Praxis. Ich bin überzeugt davon, dass nachhaltiger und qualitativ hochstehender Kindesschutz nur möglich ist, wenn Theorie und Praxis eine gemeinsame Sprache finden. Dazu braucht es den beidseitigen Willen, sich gemeinsam für das Wohl der Kinder und deren Familien einzusetzen. In den vergangenen Jahren wurde viel geforscht, insbesondere bei Instrumenten und Methoden für die Praxis als Hilfestellungen für fundierte Abklärungen von Kindeswohlgefährdungen. Die Implementierung dieser Hilfestellungen in der Praxis ist hoch anspruchsvoll, nicht weil der Wille fehlt, sondern weil es eine grosse Flexibilität der Sozialarbeitenden wie der Institutionen braucht, tatsächlich eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen. Qualität im Kindesschutz ist aber weit mehr als die Durchführung professioneller Abklärungen. Es geht auch darum, die einzelnen Aspekte in der Mandatsführung zu verbessern. Damit meine ich zum Beispiel, wie wir den Willen der Kinder eruieren und diesen in den Handlungsplan miteinbeziehen können. Das ist extrem wichtig, wenn es beispielsweise um die Platzierung von Kindern oder die Durchsetzung von Besuchsrechtszeiten geht. 

HELGA BERCHTOLD

ist Sozialarbeiterin und Bereichsleiterin Kindes- und Erwachsenenschutz der Sozialregion Dorneck des Kantons Solothurn.

Patrick Fassbind: Qualität im Kindesschutz ist existentiell – für die Kinder, die Eltern und deren Umfeld. Letztlich aber auch für die Legitimation der kindsschutzrechtlichen Akteure. Erstere haben Anspruch darauf, unabhängig von ihrem Wohnort, in familiären Krisensituationen – so früh wie möglich – qualitativ hochstehende Hilfe und Unterstützung zu erhalten, beziehungsweise von den Kindesschutzbehörden in kindsschutzrechtliche Verfahren einbezogen zu werden, die fachlich und qualitativ den höchsten Anforderungen und aktuellen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Praxis entsprechen. Ziel muss es dabei sein, wenn immer möglich auf Überzeugung basierende freiwillige Lösungen zu finden. Nur so können Kindesschutzmassnahmen im Sinne präventiver frühzeitiger Einflussnahmen oder Interventionen verhindert werden. Das ist nicht nur eine Frage der Professionalität, Fachlichkeit, Interdisziplinarität, Aus- und Weiterbildung sowie Ressourcen, sondern auch der interdisziplinären Vernetzung und Zusammenarbeit, des Wissenstransfers, der Behördenphilosophie, der Werthaltung und des Managements. Diese vernetzte Komplexität fasziniert mich, weshalb ich mich aus Überzeugung und Begeisterung für Qualität im Kindesschutz engagiere.

PATRICK FASSBIND

ist Dr. iur., Advokat, Leiter und Spruchkammervorsitzender der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) des Kt Basel-Stadt

Wo sehen Sie in Ihrem beruflichen Kontext einen Bedarf, den professionellen Kindesschutz qualitativ zu verbessern?

Helga Berchtold: Aus meiner Perspektive gehört der Kindesschutz – die Arbeit mit Kindern und deren Familien – zu den anspruchsvollsten Aufgaben im Feld der Sozialen Arbeit. Kindesschutz ist eine interdisziplinäre komplexe Aufgabe und deshalb sehr fehleranfällig. Der qualitative Anspruch muss sich letztendlich in der täglichen Arbeit mit den Kindern und den Familien zeigen. Das alleine zählt. Qualität kann nicht angeordnet werden, sie ist ein dauernder Prozess. Konkrete Möglichkeiten oder Notwendigkeiten, den Kinderschutz zu professionalisieren, sehe ich an allen Fronten. Ein grosses Problem orte ich in der Kommunikation zwischen den Professionen und Institutionen, aber auch zwischen den Fachpersonen und den betroffenen Kindern und Familien. Jede involvierte Profession (Justiz, Medizin, Psychologie, Pädagogik) definiert den Begriff Kindesschutz spezifisch für ihr eigenes Fachgebiet. In der konkreten Fallarbeit kann es sein, dass alle dieselben Wörter benutzen, aber nicht dasselbe darunter verstehen. Das kann fatale Folgen haben für die Einschätzung von der Gefährdung von Kinder und deren Familien oder für das soziale Umfeld. Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld ist die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen und das Feststellen des adäquaten Unterstützungsbedarfs für die Familien. Hier müsste ein Paradigmenwechsel stattfinden, weg von der Diagnosestellung durch die Fachpersonen hin zu einer dialogisch-systemischen Erarbeitung des Unterstützungsbedarfs. Dabei sollten die Kinder im Zentrum stehen. Es geht darum herauszufinden, was ihr Wille ist. 

Patrick Fassbind: Es gibt im Kindesschutz auf der qualitativen Ebene noch sehr viel zu tun – im freiwilligen, wie auch im behördlichen Bereich. Diese Bereiche durchdringen sich sehr stark. Insbesondere die Prävention und der freiwillige Kindesschutz müssen in einigen Regionen der Schweiz noch stark ausgebaut werden. Nur so können behördliche Interventionen durch die Kesb verhindert werden, welche in der Regel viel zu spät erfolgen. Mit der Einführung der professionell und interdisziplinär zusammengesetzten Kindesschutzbehörden im Jahre 2013 konnte in der Schweiz der erste Grundstein zu einem qualitativ hochstehenden Kindesschutz gelegt werden. Dies bedeutet schon für sich alleine einen fachlichen und qualitativen Quantensprung. Wir stehen trotzdem am Anfang, weil sich ein professioneller Kindesschutz mit Qualitätsstandards und Benchmarks in der Schweiz erst noch entwickeln muss. Das braucht Zeit, Ressourcen, Aus- und Weiterbildung, gutes Management und perfekte Vernetzung unter sowie Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren des Kindesschutzes. Nur wenn die vielen Zahnräder perfekt ineinander greifen, kann gute Qualität entstehen. Qualität hat auch mit Wirksamkeit der initiierten Massnahmen zu tun. Darüber wissen wir noch zu wenig. Eine enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft tut hier Not. Die Qualität ist schliesslich auch in Bezug auf die Kommunikation zu verbessern. Kindesschutz steht gesellschaftlich und medial sehr stark in der Kritik. Es ist die Aufgabe der professionellen behördlichen und wissenschaftlichen Akteure, die Funktionen, Aufgaben und Inhalte des Kindesschutzes sowie die Vorgehensweisen transparent, verständlich und deutlich gegen aussen zu tragen. 

Die Qualität im Fokus

„Kindesschutz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Entwicklung und Perspektiven“ – so lautet der Titel des ersten Nationalen Qualitäts-Dialogs, der am 8./9. November auf dem Gurten in Bern stattfindet. Durchgeführt wird die Tagung von der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz (IGQK), welche für den Anlass ein spezielles Format gewählt hat. Im Unterschied zu klassischen Konferenzen und Tagungen orientiert sich diese Veranstaltung an der Barcamp-Methodik. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten die Möglichkeit, Themen, die sie für die Qualität im Kindesschutz als wichtig erachten, in verschiedenen Gefässen einzubringen. Ziel ist es, das Thema Qualität im Kindesschutz aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. 
Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.qualitaet-kindesschutz.ch

Weshalb braucht es in der Schweiz eine „Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz?

Helga Berchtold: Aus meiner Sicht braucht es eine Kraft, die das Thema „Qualität im Kindesschutz“ zur Diskussion stellt. Wir brauchen eine Organisation, welche die dringend notwendig Verständigung professions- und kantonsübergreifende Verständigung herbeizuführen. Die gemeinsame Sprache ist die Voraussetzung, um gemeinsame Standards zu entwickeln, und um verbindliche messbare Resultate zu erlangen.

Patrick Fassbind: Mir geht es vor allem um die Zusammenarbeit, die Vernetzung und den Wissens- und Know-how-Transfer. Dafür stellen wir in der Interessengemeinschaft lokale Qualitätszirkel, regionale Qualitätswerkstätten und einen nationalen Qualitätsdialog auf die Beine. Fachleute aller relevanten Fachrichtungen sollen sich niederschwellig, regelmässig und kostenlos über wichtige Themen interdisziplinär austauschen können. Das gab es bisher noch nicht. Genau in der Ausfüllung dieser „Marktlücke“ besteht der grosse Mehrwert der IGQK.


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