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Besonders verletzliche Personen im Dublin-System

März 2016 / Nathalie Poehn (Gastbeitrag)

Im folgenden Gastbeitrag von Nathalie Poehn, Geschäftsleiterin der SBAA, erfahren Sie, weshalb sich die Schweiz auf ihre humanitäre Tradition besinnen und Rückschaffungen nach Italien vermeiden sollte.

Im Dezember 2015 hat die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) den Fachbericht „Besonders verletzliche Personen im Dublin System: Das Beispiel Italien“veröffentlicht. Seither hat sich die Lage der Flüchtenden weiter verschlechtert. Höchstzahlen und Transitzonen ausserhalb der Grenzen Europas dominieren die Diskussion um die Zukunft der europäischen Migrationspolitik.

Das Dublin-System ist überholt

Das in der Schweiz im Dezember 2008 eingeführte Dublin-System bezweckt die Verhinderung von mehrfachen Asylgesuchen derselben Person in verschiedenen, dem Dublin-System angeschlossenen, Ländern. Seit dem 01. Juli 2015 ist die Dublin-III-Verordnung für die Schweiz definitiv in Kraft. Die Schweiz schickt gemäss dieser Verordnung Asylsuchende in die Erstaufnahmeländer zurück, wenn sie bereits in einem anderen Schengen-Staat registriert worden sind, aber auch wenn sie lediglich durch einen anderen Schengen-Staat gereist sind, ohne dort registriert worden zu sein.

Migration befindet sich in stetem Wandel und das Dublin-Verfahren ist in seiner aktuellen Form nicht mehr legitim. Leid, Stillschweigen und Überforderung sind nur einige Stichworte zu Dublin. Immigration wird nicht geregelt, sondern kriminalisiert. Flüchtlinge werden nicht geschützt, sondern auf dem Mittelmeer oder in den Strassen Italiens alleine gelassen. Die Strategie wurde deutlich zum eigentlichen Problem. Das Dublin-Verfahren muss überdacht werden, denn es hält dem zentralen Gedanken der EU, der Solidarität, in keiner Weise stand – hat diesem nie standgehalten.

Nathalie Poehn - engagiert für Menschenrechte

Nathalie Poehn ist seit September 2014 die Geschäfts-leiterin der SBAA. Sie hat Religionswissenschaften, Islamwissenschaften und Menschenrechte studiert. Unter anderem arbeitete sie bei SOS Rassismus Deutschschweiz, UN Women Schweiz und als Hilfswerksvertreterin bei HEKS. Sie ist seit mehreren Jahren Vizepräsidentin und Redaktionsmitglied der "Weltethos Initiative Schweiz" und unterstützt mehrere freiwillige Projekte.

Noch immer sind es Länder wie der Libanon, Jordanien oder auch die Türkei, welche die meisten Flüchtlinge aufnehmen und nicht europäische Länder.  Rückführungen nach Italien sind höchst problematisch. Die Lebensbedingungen, welche die Flüchtenden dort vorfinden sind inadäquat. Asylsuchende erhalten keine angemessene Unterkunft, viele sind obdachlos und überleben nur mit Hilfe von karitativen Organisationen und freiwilligen HelferInnen. Schwierigkeiten können sich bereits bei der Einreichung des Asylgesuchs in Italien ergeben und der Zugang zu medizinischer Versorgung ist nicht sichergestellt. Neben der prekären Lage in Italien sind insbesondere die Praxis der schweizerischen Behörden und die Rechtsprechung problematisch, die zu den strengsten im Schengen-Raum gehören.

In dubio pro refugio

Allzu oft diskutieren wir darüber, wie wir Asylsuchende abschrecken, ausschaffen oder zurückweisen können, viel zu selten darüber, wie wir sie bei uns empfangen und ihnen Schutz gewähren. Das Fehlen von legalen Fluchtrouten oder der Möglichkeit eines Botschaftsasyls führen dazu, dass sich viele Flüchtlinge Schleppern anvertrauen und sich dabei stark verschulden und in Gefahr geraten. Viele sind Opfer jahrelanger, beispielloser Ausbeutung und korrupter, gewalttätiger Regierungen. Sie brauchen Schutz, Betreuung und zuallererst ein Asylverfahren, das sich an den Bedürfnissen der Schwächsten orientiert. Doch Europa entsolidarisiert sich und beschliesst Höchstgrenzen für Asylsuchende. Die EU und die Schweiz dürfen nicht weiterhin Flüchtlinge von einem Land zum andern abschieben. Die Verteilung von Flüchtlingen auf die verschiedenen Länder Europas muss gerechter angegangen werden. Nur das ist Solidarität. In unserem Fachbericht haben wir mehrere Schicksale von Menschen dokumentiert, die aufgrund des Dublin-Systems nach Italien zurückgeführt wurden. Exemplarisch steht dafür die Geschichte von "Mariama".

"Mariama" lebte seit ihrer Geburt mit ihrer Familie bei einem Mauren. Ihre Eltern kamen als Sklaven zu diesem Mann. Mit 9 Jahren wurde sie erstmals vergewaltigt und im Alter von 13 Jahren mit einem älteren Mann zwangsverheiratet, der sie misshandelte und sie nach drei Jahren mit ihren beiden Kindern alleine liess. 2012 konnte sie fliehen, gelangte nach Italien und von da in die Schweiz. 2014 stellte sie ein Asylgesuch und wurde einige Tage von der Polizei festgehalten, bevor sie in ein Empfangszentrum gebracht wurde. Dort wurde eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine schwere Depression mit latenter Suizidalität diagnostiziert. Trotzdem bekam sie einen Nichteintretensentscheid und wurde aufgefordert, nach Italien zurück zu kehren.

Dieses Beispiel zeigt, dass die migrationspolitischen Interessen der Schweiz oft höher gewichtet werden, als die Interessen der Asylsuchenden.

Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen

In Zeiten, in denen so viele Menschen wie im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht sind, gilt es, Unmenschlichkeit und Fremdenfeindlichkeit zu verhindern. Wir haben uns in unserer Bundesverfassung und durch die Ratifikation zahlreicher Verträge und Abkommen verpflichtet, Flüchtlingen Asyl zu gewähren und sollten uns verpflichtet fühlen, sie willkommen zu heissen. Nicht auch einen Teil an der Lösung dieser humanitären Notlage zu leisten und sich weiter darauf zu berufen, Nicht-Mitglied der Europäischen Union zu sein, ist angesichts der momentanen Lage unangemessen und verantwortungslos. Wir brauchen keine weiteren Parolen und Hetzte, wir brauchen Lösungen und eine konstruktive Zusammenarbeit. Dazu müssen nun alle beitragen. Die Schweiz ebenso wie die EU.

Die Verantwortlichkeit kann nicht nur den einzelnen Staaten auferlegt werden - eine europaweite – wenn nicht weltweite - Lösung muss gefunden werden. Das Asylverfahren muss auf die Bedürfnisse der Schwächsten und Verletzlichsten ausgerichtet sein: In dubio pro refugio. Unser Umgang mit den Verletzlichsten ist der Spiegel unserer Gesellschaft.

Menschenrechte gelten für alle - auch für Asylsuchende und MigrantInnen!

Autorin: Nathalie Poehn

Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz

Besonders verletzliche Personen im Dublin-System: Das Beispiel Italien

Unser Fachbericht führt aus, dass die Rechte von besonders verletzlichen Personen im Dublin Verfahren meist ungenügend umgesetzt werden. Er zeigt auf, wo die Rechte von besonders verletzlichen Personen missachtet oder wo ihre Bedürfnisse hinter die restriktive Migrationspolitik zurückgestellt werden. 

Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH

Handbuch zum Asyl- und Wegweisungsverfahren

Die zweite, komplett überarbeitete Auflage des Handbuches zum Asyl- und Wegweisungsverfahren bietet einen umfassenden Überblick über das Schweizer Asylverfahren und die aktuelle Rechtsprechung. Durch das europäische Asylsystem hat sich auch das Schweizer Asylrecht seit der ersten Auflage des Handbuches wesentlich verändert, insbesondere das Dublin-System hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Weiter beschreibt das Buch das Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft, der Asylgewährung sowie der Prüfung von Wegweisungshindernissen. Zudem werden die Rechte und Pflichten erläutert, die sich aus dem jeweiligen asylrechtlichen Status ergeben.

Schengen und Dublin in der Praxis / Schengen et Dublin en pratique

Die aktuellen Problemfelder des sich rasant entwickelnden Schengener und Dubliner Rechts standen im Mittelpunkt zweier im Juni 2014 an der Juristischen Fakultät der Universität Basel durchgeführten Tagungen («Schengen in der Praxis – aktuelle Fragen» und «Dublin in der Praxis – aktuelle Fragen»). In den schriftlichen Fassungen ihrer Referate erörtern 18 ausgewiesene Fachleute die schwierigen und mitunter drängenden Rechtsfragen rund um das Schengener Polizei- und Kooperationsrecht sowie die Dubliner Asyl-Zusammenarbeit auf übersichtliche und verständliche Art und Weise. Sie berücksichtigen dabei auch die zwischenzeitlich neu erfolgten Rechtsentwicklungen. 

Humanrights.ch

Dublin-System: Die Staaten schieben Verantwortung ab - auch die Schweiz

Die Rückschaffungen nach Ungarn, welche die Schweiz im Rahmen des Dublin-Abkommens regelmässig durchführt, sind angesichts von menschenrechtsverletzenden Praktiken hochproblematisch. Dies hält die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) in einer Medienmitteilung fest, welche am 4. September 2012 anlässlich des Besuchs des ungarischen Aussenministers in Bern veröffentlicht wurde. 


Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA)

Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht zeigt anhand von konkreten dokumentierten Fällen auf, wie sich das Asyl- und das Ausländergesetz auf die Situation der betroffenen Menschen auswirken. Gestützt auf Falldokumentationen erstellt sie zudem Berichte und Analysen zu verschiedenen Migrationsthemen. Die SBAA arbeitet unabhängig von jedem politischen, ideologischen, wirtschaftlichen und finanziellem Einfluss.

Die Beobachtungsstelle beobachtet die Anwendung der beiden Gesetze und informiert über die Verletzung von Menschenrechten, der Menschenwürde, internationaler Konventionen oder über der Bundesverfassung. Die auf ihrer Website dokumentierten Fälle stehen der Öffentlichkeit zur Verwendung in der politischen Auseinandersetzung frei zur Verfügung. Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, arbeitet sie mit Organisationen, Vereinen, Gruppen und Einzelpersonen zusammen, die bereits im Bereiche des Ausländerrechts und des Asylrechts tätig sind. Mittels Medienarbeit und Veranstaltungen sensibilisiert sie die Öffentlichkeit für die Auswirkungen der verschärften Gesetze auf die Betroffenen.

Der Verein wurde 2007 gegründet, nachdem eine Mehrheit der Schweizer StimmbürgerInnen einer Verschärfung der Asyl- und Ausländergesetzgebung zugestimmt hatte. Persönlichkeiten und Organisationen, die sich für ein doppeltes Nein am 24. September 2006 eingesetzt hatten, wollten anhand von konkreten Beispielen aufzeigen, wie sich die verschärften Gesetze auf die Situation der Betroffenen auswirkten. Damit sollte geprüft und dokumentiert werden, inwiefern die neuen Gesetze wie befürchtet Flüchtlinge gefährden, neue Sans-Papiers und unsichere Situationen für die Betroffen schaffen, und teilweise auch neue Kriminalität produzieren. 

Bericht bestellen:

Der Bericht "Besonders verletzliche Personen im Dublin-System" kann unter dokumentation@beobachtungsstelle.ch bestellt werden.


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