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Beratung in Uniform: Soziale Arbeit beim Militär

November 2022

Angehörige der Armee haben das Recht auf eine Soziale Beratung. Die Mitarbeitenden des Sozialdienstes der Armee stellen sicher, dass dieses Recht gewährleistet ist. Nebst festangestellten, zivilen Sozialberater*innen sind auch Milizsozialberater*innen im Einsatz.

Militärdienst zu leisten kann für Betroffene eine Zäsur sein. Bei jungen Menschen fällt die Rekrutenschule (RS) in eine bewegte Zeit: Auszug aus dem Elternhaus, Abschluss der Lehre oder Matur und Einstieg in Berufsleben oder Studium prägen diese Lebensphase. Dieser Übergang ins Erwachsenenleben verläuft nicht immer reibungslos. So kann es sein, dass Rekrut*innen in der RS erfahren, dass sie ihre Lehrabschlussprüfung nicht bestanden haben, und sich daher bereits wieder um eine neue Lehrstelle bemühen müssen. Manche möchten sich neu orientieren, da sie nicht in ihrem gelernten Beruf weiterarbeiten möchten.

Angehörige der Armee in schwierigen Lebenssituationen haben Anrecht auf psychologische, medizinische, seelsorgliche und soziale Beratung. Nebst dem psychologisch-pädagogischen Dienst und der Armeeseelsorge verfügt die Armee auch über einen Sozialdienst, der Betroffene berät und sie dabei unterstützt, dass der Übertritt zurück ins zivile Leben gut klappt.

Ich treffe zwei Angehörige des Sozialdienstes der Armee auf dem Waffenplatz Thun und spreche mit ihnen über diese und weitere Aufgaben ihres Dienstes. Corinne Stettler ist zivil angestellte Sozialberaterin beim Sozialdienst der Armee. Dominik Baiges leistet an diesem Tag einen seiner 15 jährlichen Diensttage als Milizsozialberater in Thun. Aktuell findet vor Ort der Workshop «LAVORO» statt, mit dem Rekruten bei der Stellensuche unterstützt werden.


Viele öffentliche Sozialdienste wissen gar nicht, dass es uns gibt.

Corinne Stettler

Martin Heiniger / sozialinfo.ch: Was ist das Besondere am Sozialdienst der Armee?

Dominik Baiges: Eine Besonderheit ist, dass wir nicht mit dem Geld des Bundes arbeiten, sondern mit Stiftungsgeldern. Unsere Ausgaben sind also nicht im Armeebudget drin.

Sozialdienst der Armee

Nach Art 31. Militärgesetz haben alle Angehörigen der Armee Anrecht auf psychologische, medizinische, seelsorgliche und soziale Beratung. Der Sozialdienst der Armee, der psychologisch-pädagogische Dienst und die Armeeseelsorge setzen dieses Recht um.

Der Sozialdienst der Armee ist in Bern stationiert, ist aber an 32 Standorten in der ganzen Schweiz tätig. Der Dienst ist aus der Stiftung Schweizerische Nationalspende hervorgegangen und ist seit 1998 bei der Gruppe Verteidigung integriert.

Nebst zivilen Sozialberater*innen steht ein Fachstab von rund 60 Milizsozialarbeitenden zur Verfügung. Diese müssen im Minimum 15 Diensttage pro Jahr leisten bzw. verfügbar sein.

Der Fachstab hat einen Frauenanteil von 30-40%; und besteht besteht unter anderem aus ausgebildeten Fachpersonen der Sozialen Arbeit, Personen aus dem phil.hist Bereich (z.B. Lehrer/innen, Soziolog/innen) und Personen aus dem Schweizer Sozialwesen.

Obwohl rund 1200 Beratungen pro Jahr gemacht werden ist der Sozialdienst der Armee weder in der Öffentlichkeit noch im Feld der Sozialen Arbeit sehr bekannt.

Corinne Stettler: Hier muss man noch unterscheiden: Wir zivil Angestellten sind vom Bund angestellt. Aber die finanziellen Unterstützungen für unsere Klient*innen sind durch Spendengelder und insgesamt neun Stiftungen finanziert. Im Vergleich zum öffentlichen Sozialdienst können wir dadurch relativ rasch und unbürokratisch handeln, da wir keine Steuergelder benötigen und keine Anträge stellen müssen.

Dominik Baiges: Da die RS nur 18 Wochen dauert, ist es wichtig, dass wir schnell reagieren können. Wenn es zwei Monate ginge, bis Entscheide über Unterstützung getroffen werden, wären möglicherweise Existenzen bedroht.

Corinne Stettler: Was auch besonders ist, ist unsere Organisationsstruktur. Wir sind ein relativ kleiner ziviler Dienst mit fünf festangestellten Sozialarbeitenden für alle Sprachregionen ausser Rätoromanisch. Dazu haben wir halbjährlich eine/n Hochschulpraktikant*in. In unserer Arbeit werden wir aber vom militärischen Fachstab unterstützt. Er besteht aus rund 60 Milizsozialberater*innen, die uns in allen Projekten und in unserem Auftrag unterstützen.

Dominik Baiges: Wir Milizsozialberater*innen werden jeweils nur für einzelne Diensttage aufgeboten. Da es zwei RS-Starts pro Jahr gibt, wäre es nicht nützlich, wenn wir 3 Wochen am Stück präsent sein würden, denn dann würden wir den Rest des Jahres fehlen.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen ziviler und Milizsozialberatung?

Dominik Baiges: Die Hauptarbeit von uns Milizsozialarbeiter*innen ist die direkte Arbeit mit den Angehörigen der Armee. Innerhalb der zweiten bis vierten Woche besuchen wir die Rekrutenschulen, wo wir die Erstgespräche machen mit denjenigen, die sich vorgängig angemeldet haben. Dabei erfassen wir die Situation und leiten wenn nötig erste Sofortmassnahmen ein. Zur weiteren Bearbeitung übergeben wir das Dossier dann den zivilen Sozialarbeiter*innen.

Corinne Stettler: Wir zivil angestellten Sozialarbeiter*innen sind auch Teil des militärischen Fachstabes und haben innerhalb von diesem Führungsfunktionen inne. Wir stellen den Wissenstransfer sicher, bilden Milizsozialarbeitende aus und organisieren regelmässige Weiterbildungen. Wir überprüfen auch die Qualität der Beratungen.

CORINNE STETTLER

Sozialarbeiterin MSc BFH
Fachspezialistin Sozialdienst der Armee

DOMINIK BAIGES

Milizsozialberater beim Sozialdienst der Armee

Kommen nebst Rekrut*innen auch andere Armeeangehörige zu Ihnen in die Beratung?

Corinne Stettler: Grundsätzlich können sich alle Angehörigen der Armee bei uns melden. Da die Rekrut*innen mengenmässig die grösste Gruppe sind, sind sie unsere Hauptadressat*innen. Wir führen rund 600 Gespräche bei jedem RS-Start. Es melden sich aber auch Personen aus den WKs und vom Kader bei uns. Zudem sind wir zuständig für Angehörige des Rotkreuzdienstes, für Personen im Zivilschutz, für Hinterbliebene von Personen, die im Dienst gestorben sind, oder auch für sogenannte Militärpatient*innen. Das sind Personen, die im Dienst verletzt wurden oder aufgrund einer Krankheit ausgeschieden sind. Während wir etwa Rekrut*innen nur kurzzeitig beraten, begleiten wir Militärpatient*innen bis ans Lebensende, wenn das nötig oder gewünscht ist.

Gibt es auch Klient*innen, die zugewiesen werden?

Corinne Stettler: Nein, alle die kommen, kommen freiwillig. Natürlich kann der Schulkommandant, der ja für das Wohl der Truppe zuständig ist, auf unser Angebot hinweisen, wenn er merkt, dass jemand Schwierigkeiten hat.

Dominik Baiges: Es kommt aber auch vor, dass die Vorgesetzten wichtiger finden, dass jemand an einer Schiessübung teilnimmt, als zu uns zu kommen. Dann ist es an uns, uns für das Recht des Rekruten oder Soldaten auf Beratung einzusetzen.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit den öffentlichen Sozialdiensten?

Corinne Stettler: Bei Klient*innen, die von der Sozialhilfe abhängig sind, nehmen die Sozialdienste oft vordienstlich mit uns Kontakt auf, sofern sie von uns wissen. Während der RS übernehmen wir die Existenzsicherung. Dadurch gibt es eine Entlastung der Sozialdienste, aber auch der Rekruten, da unsere Gelder nicht rückzahlungspflichtig sind. Bei komplexeren Fällen, etwa wenn die Person zu einer unterstützten Familie gehört, dann belassen wir die Unterstützung beim Sozialdienst. Der Aufwand, sie für drei oder vier Monate abzulösen, wäre unverhältnismässig. Aber viele öffentliche Sozialdienste wissen gar nicht, dass es uns gibt.

Wie ist das Ansehen der Sozialberatungsstelle innerhalb der Armee?

Corinne Stettler: Da wir in die Gruppe Verteidigung integriert sind, sind wir nahe bei den Leuten. Zum anderen sind wir organisational gut verankert. Der Chef des Personellen der Armee ist als Brigadier gleichzeitig unser Chef.

Domink Baiges: Meine Erfahrung ist, wenn wir auf Platz kommen, dann ist viel Akzeptanz da. Ich habe schon oft von Personen mit höheren Dienstgraden gehört «es ist gut, dass es euch gibt, ihr helft den Rekruten, abzuschalten und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren». Das ist gerade in gefährlichen Situationen wichtig, beim Umgang mit einem Gewehr beispielsweise. Da sollte man mit seinen Gedanken nicht bei der Jobsuche sein.

Mit welchen Themen haben Sie sonst noch zu tun?

Dominik Baiges: Oft geht es um Finanzen. Bei manchen reicht der Erwerbsersatz hinten und vorne nicht, etwa wenn jemand bereits Familie hat und dann aufgrund einer Einbürgerung zur RS verpflichtet wird. Zudem gibt es rechtliche Probleme, wie etwa unrechtmässige Kündigung am Arbeitsplatz oder wenn Arbeitgeber ihre Lohnfortzahlungspflicht nicht wahrnehmen.

Corinne Stettler: Dazu haben wir «PRO IURE» geschaffen, ein Sozialberatungsangebot für rechtliche Fragen. Wenn ein*e Sozialarbeiter*in eine rechtliche Frage nicht beantworten kann, kann sie oder er eine Beratung zu rechtlichen Fragen aufgleisen. Wir haben dazu einige Anwält*innen und Jurist*innen in unserem militärischen Fachstab, sogar einen Richter.

Dominik Baiges: Bei psychosozialen Problemen können wir zudem unsere Nachbarangebote, die Armeeseelsorge und den Psychologisch-Pädagogischen Dienst der Armee beiziehen. Es stehen uns also verschiedene Ressourcen zur Verfügung.

Wie kommt jemand dazu, als Milizsozialarbeiter*in zu arbeiten?

Dominik Baiges: Es gibt verschiedene Werdegänge bei uns. Ich habe die RS und WKs gemacht. Da mir das Militär wie auch das Soziale am Herzen liegen, habe ich nach meinem Studium eine Möglichkeit gesucht, beides zu vereinbaren. Dabei bin ich auf den Sozialdienst der Armee gestossen. Da ich nicht vier Wochen am Stück abwesend bin, sondern immer nur einzelne Einsatztage habe, ist es auch für den Arbeitgeber akzeptabel.

Corinne Stettler: Als noch dienstpflichtiger Offizier ist Dominik eher die Ausnahme. Achtzig Prozent unsers Fachstabs sind nicht bzw. nicht mehr dienstpflichtig, sondern haben sich freiwillig zu diesem Dienst verpflichtet.

Profitieren Sie in Ihrer alltäglichen Arbeit als Sozialberater*in von den Erfahrungen beim Militär?

Dominik Baiges: Ja, erstens ist das Setting anders. Obwohl es auch hier oft um Geld geht, arbeiten wir anders als auf einem öffentlichen Sozialdienst. Dadurch, dass die Klient*innen aus diversen Kantonen und Sprachregionen stammen, lernt man zudem viel darüber, wie es in anderen Kantonen läuft, etwa dass die SKOS-Richtlinien andernorts ganz anders interpretiert werden. Dann profitiere ich von den Stabskursen, die wir jährlich besuchen können. So hatten wir etwa einen Kurs zum Thema Traumaberatung.

Corinne Stettler: In der Armee lernt man, zu improvisieren und mit Unvorhergesehenem umzugehen. Du kannst etwas planen, und es kommt fast immer anders. Indem man hier lernt, unter erschwerten Bedingungen zu arbeiten, wird man selbstständiger, gelassener und kreativer. Das sind Kompetenzen, die für Arbeitgebende interessant sind.

Braucht es eine positive Grundeinstellung zum Militär, um diese Arbeit zu machen?

Dominik Baiges: Ich glaube, man sollte grundsätzlich positiv eingestellt sein und ein Verständnis dafür haben, weshalb es uns gibt. Dann muss man auch verstehen, wie der Laden funktioniert. Für die Arbeit auf dem Platz wäre es eher schwierig, wenn man das Militär grundsätzlich ablehnen würde. Dass man grundsätzlich positiv eingestellt ist, heisst aber nicht, dass man nicht auch kritisch sein kann.

Corinne Stettler: Grundsätzlich findet man überall etwas, was einem nicht gefällt, und das muss sich einfach die Waage halten. Aber wenn man grundsätzlich nicht einverstanden damit ist, dass es uns braucht, dann leistet man wohl nicht freiwillig Dienst. Kritisch sein darf man natürlich immer, das ist sogar gewünscht. Aber wenn man immer Grundsatzdiskussionen führen müsste, wäre es schwierig.

Kommt es vor, dass das militärische Umfeld normative oder professionelle Grundsätze der Sozialen Arbeit tangiert, oder es erschwert, diesen gerecht zu werden?

Dominik Baiges: Über diese Frage könnte man lange diskutieren. Wir beraten ja Individuen, die meistens nicht gewählt haben, da zu sein. Wir versuchen, in diesem Kontext das Beste zu geben. Man kann natürlich Sinn und Unsinn des Militärs diskutieren, und man kann kritisch sein und das System zu einem gewissen Grad hinterfragen. Aber die Leute im Stich zu lassen, nur weil sie im Militär sind, das ginge gegen jeden meiner Grundsätze.

Corinne Stettler: Im Arbeitsalltag denke ich an das Individuum mir gegenüber, das ich beraten will. Ich unterstütze Menschen, damit sie Teil des Systems bleiben, und der Auftrag des Systems ist im schlimmsten Fall die Landesverteidigung. Dafür ist eine Armee letztlich da, aber soweit denke ich nicht immer im Arbeitsalltag. Ich hatte viel mehr Mühe, als ich auf dem öffentlichen Sozialdienst gearbeitet habe. Durch das Tripelmandat und die hohe Dossierlast gab es viel mehr Widersprüche. Ich hatte oft das Gefühl, Dossiers nur zu verwalten und meinen Grundsätzen und denjenigen der Profession nicht zu genügen.


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