In Arztpraxen können soziale Folgeprobleme von Erkrankungen frühzeitig erkannt und abgefangen werden. Soziale Beratung sollte deshalb in die medizinische Grundversorgung integriert werden, sagt Dunja Vetter im Interview. In Basel leitet sie ein entsprechendes Pilotprojekt.
Gesundheitliche Probleme bergen oft das Risiko, soziale Probleme nach sich zu ziehen, etwa, wenn dadurch die Erwerbsfähigkeit oder anderweitige gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt werden. Soziale Arbeit kann deshalb im Gesundheitsbereich durch frühzeitiges Intervenieren präventiv wirken und soziale Folgeprobleme von Erkrankungen zu vermeiden helfen.
In Spitälern sind Sozialberatungsangebote mittlerweile vielerorts etabliert. In der ambulanten Gesundheitsversorgung hingegen fehlen bislang vergleichbare psychosoziale Angebote. Dabei bietet Soziale Arbeit im ambulanten Bereich ein grosses Potenzial, wie ein Pilotprojekt der «Caritas beider Basel» zeigt. Die Organisation bietet in neun Basler Arztpraxen eine niederschwellige Sozialberatung an. Im Gespräch zeigt Projektleiterin Dunja Vetter auf, was der Nutzen und das Potenzial der Beratung direkt in der Arztpraxis ist.
« Soziale und medizinische Probleme treten oft gemeinsam auf. »
Sozialinfo/Martin Heiniger: Mit Sozialberatung in Arztpraxen haben Sie ein neues Angebot geschaffen. Wie ist das zustande gekommen?
Dunja Vetter: Die tägliche Arbeit am Lindenberg 20 in Basel (Geschäftsstelle Caritas beider Basel) zeigte und zeigt uns, dass soziale und medizinische Probleme oft gemeinsam auftreten. Davon haben wir uns inspirieren lassen, denn wir sehen den Bedarf, Soziale Arbeit auch in der Grundversorgung zu verankern. Deshalb haben wir das in Basel initiiert. Dieser Ansatz wird etwa in skandinavischen Ländern oder Kanada bereits umgesetzt. Da ist es Gang und Gäbe, dass Soziale Arbeit in der Grundversorgung mit drin ist.
Zweijähriges Pilotprojekt
Die «Caritas beider Basel» führt gegenwärtig ein zweijähriges Pilotprojekt durch, um ein niederschwelliges soziales Beratungsangebot als Teil der medizinischen Grundversorgung direkt in Arztpraxen zu installieren.
Das Projekt, an dem neun Praxen beteiligt sind, läuft noch bis Ende dieses Jahres. Es wird von der Christoph Merian Stiftung finanziert und wissenschaftlich von der Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit, begleitet.
Die Caritas beider Basel strebt an, eine langfristige Finanzierung über die öffentliche Hand aufzugleisen.
Ihre Organisation, die Caritas beider Basel, nimmt hier eine Vorreiterrolle ein?
Ja, wir konnten das als kleine Organisation umsetzen, vielleicht gerade weil wir so klein sind und schnell agieren können. Ohne das Engagement der Christoph Merian Stiftung wäre das nicht möglich gewesen. Sie hat uns Gelder gesprochen, um das Pilotprojekt für zwei Jahre mit vier Praxen hier in Basel Stadt durchzuführen. Weil der Bedarf so gross ist, sind unterdessen noch fünf weitere Praxen dazugekommen, die als Selbstzahler ihren Patient*innen Sozialberatung anbieten.
Welchen Gewinn haben die Praxen, Sozialberatung anzubieten?
Der Arzt oder die Ärztin ist oft die Vertrauensperson Nummer eins der Patient*innen. Viele der Anliegen, die die Patient*innen in die Hausarztpraxis bringen, sind aber gar nicht medizinischer Natur. Ärzt*innen erzählen uns, dass die Patient*innen zunehmend auch mit sozialen Problemen an sie gelangen. Durch unser Angebot können wir die Ärzt*innen entlasten und den Patient*innen wird eine ganzheitliche Grundversorgung geboten.
Sind das eher Praxen mit einer gewissen Grösse, Gemeinschaftspraxen etwa, die das im Moment anbieten?
Nicht einmal, es sind auch kleinere Praxen mit dabei. Es gibt drei grosse Praxen und eine psychiatrische Praxis mit zwei Psychiatern und mehreren delegierten Psychotherapeut*innen, aber die anderen sind kleinere Praxen mit ein oder zwei Ärzt*innen.
Welche sozialen Problemlagen bearbeiten Sie mit den Patient*innen?
Das ist recht unterschiedlich. In den Kinderarztpraxen geht es oft um die Frage, was bei der IV wann angemeldet werden kann. Dabei geht es um Themen wie Geburtsgebrechen eines Kindes oder sonstige medizinische Massnahmen. Da begleite ich sie im Sinne eines Case Managements durch diesen Prozess. Dann kommen auch Eltern zu mir, die überfordert oder erschöpft sind und Entlastung brauchen. Ihnen kann ich aufzeigen, was es an Entlastungsangeboten gibt und wie das finanziert werden kann. Und dann geht es natürlich auch um finanzielle Probleme, Sozialversicherungsfragen oder psychosoziale Beratungsthemen.
Wie ist es in den Hausarztpraxen?
Da geht es vorwiegend um Sozialversicherungsfragen. Ein Klassiker sind Fragen zur IV, etwa bei Personen, die neu angemeldet sind und eine Begleitung brauchen. Dann geht es auch oft um berufliche Massnahmen, um Rentenabklärung, oder darum, wie jemand mit einem Negativentscheid umgehen soll. Es kann sich auch die Frage stellen, wie es weitergeht, wenn die Krankentaggeldversicherung ausläuft. In den psychiatrischen Praxen geht es nebst Sozialversicherungsfragen zudem oft um psychosoziale Beratung, etwa um den Umgang mit Einsamkeit oder wie ein Helfernetz aufgebaut werden kann. Wenn der Arzt oder die Ärztin den Patient*innen zu solchen Themen eine kompetente Beratung anbieten kann, dann hat er auch gewonnen. In der Zeit kann er andere Patient*innen behandeln.
« Der grosse Benefit unseres Angebots ist, dass die Beratungen direkt in der Arztpraxis stattfinden, also in einer vertrauten Umgebung. »
Was ist die Rolle der Ärzt*innen?
Auf der Seite der Ärzt*innen ist wichtig, dass sie auch eine soziale Anamnese machen, also nach dem sozialen Umfeld und den Problemen fragen. Das heisst, sie müssen soziale Probleme erkennen, und das ist manchmal auch nicht so einfach. Dazu müssen sie etwa auch danach fragen, wie es zuhause aussieht, mit der Partnerschaft oder mit den Finanzen. Wenn sich soziale Problemlagen zeigen, dann können die Ärzt*innen die Patient*innen an mich überweisen.
Dürfen die Klient*innen auch von sich aus zu Ihnen kommen?
Ja, sie dürfen auch ohne ärztliche Überweisung zu mir in die Sprechstunde kommen, solange sie in der Arztpraxis sind. Es kommen immer mal wieder Patient*innen zu mir, die meine Flyer im Wartezimmer gesehen haben. Aber in den meisten Fällen passiert das durch den Arzt, bzw. die Ärztin oder die MPA.
Funktioniert die Zusammenarbeit mit den Ärzt*innen eher beiläufig oder haben Sie auch geplanten regelmässigen Austausch?
Es gibt teilweise Fallbesprechungen oder Round-Table-Gespräche mit allen Beteiligten. Aber abgesehen davon ist es für mich wichtig, an den Teamsitzungen teilzunehmen und, so banal es tönt, auch an den Kaffeepausen dabei zu sein, damit sich alle daran gewöhnen, auch mit der Sozialen Arbeit zusammen zu arbeiten. Ich verschicke auch regelmässig Fallbeispiele aus meiner Arbeit, um aufzuzeigen, was für ein Pflichtenheft ich habe, weil manche gar nicht wissen, was Soziale Arbeit leisten kann und was für Fragen ich bearbeite.
Kommen Sie mit Ihrem Angebot an Klient*innen, die sonst nicht unbedingt in Kontakt kommen mit Sozialer Arbeit?
Absolut! Ich glaube, dass die Scham relativ gross ist, eine solche Beratung in Anspruch zu nehmen. Wenn man das in einer Arztpraxis machen kann, wo im Wartezimmer niemand weiss, weshalb jemand da ist, dann senkt das die Hemmschwelle. Das ist ein grosser Vorteil, da ich dadurch früh intervenieren und viele Abwärtsspiralen aufhalten kann.
Welche Rolle spielen die Krankheiten der Klient*innen in Ihrer Beratung?
Die Krankheit spielt bei mir an sich keine grosse Rolle. Natürlich ist sie wichtig, aber ich muss mich nicht allzu sehr damit auseinandersetzen, welche Krankheit im Hintergrund ist. Ich habe auch zu medizinischen Aspekten kein Fachwissen und damit auch keine Befugnis. Das brauche ich auch nicht, da es bei mir dann ja immer um die z.B. sozialversicherungsrechtlichen Fragen geht, die damit im Zusammenhang stehen.
Gibt es spezielle Kompetenzanforderungen an die Sozialarbeitenden in Arztpraxen?
Bei der Caritas beider Basel, wo ich angestellt bin, ist das Hauptthema Armut. Hier in der Arztpraxis sind nicht viele von Armut betroffen. Da kommen alle, von der Professor*in der Uni Basel bis zur Sozialhilfebeziehenden. Aber es hat sich herauskristallisiert, dass es viele Fragen zu Sozialversicherungen gibt, und dazu habe ich eine Weiterbildung gemacht.
Sozialhilfebeziehende sind ja bereits mit einer sozialen Beratung vernetzt. Weshalb kommen die trotzdem zu Ihnen?
Es ist leider nicht so, dass alles in Ordnung ist, wenn man bei der Sozialhilfe ist. Genau diese Personen haben oft grosse Probleme, mit den Finanzen zurecht zu kommen. Viele Ausgaben werden nicht übernommen, sind aber trotzdem da. Gerade mit Kindern ist man als Sozialhilfeempfänger*in sehr exkludiert. Dann kommt die Caritas beider Basel oder eben die Sozialberatung in der Arztpraxis ins Spiel und kann Entlastung bieten mit diversen Angeboten und Stiftungsgesuchen. Hier kann man vieles abfangen.
Wie wichtig war die Reputation von Caritas beim Start des Projektes? Hat das geholfen beim Vertrauen und der Bereitschaft der Ärzte, sich darauf einzulassen?
Der Name Caritas hat bei den Ärzt*innen Vertrauen geweckt, das hat sicher geholfen. Mit Caritas im Hintergrund habe ich den direkten Zugang zu unseren internen Fonds und vielen unserer Dienstleistungen. So kann ich zum Beispiel die Karten für den Caritas-Markt und die Kulturlegi direkt ausstellen und mitgeben. Als Einzelperson ohne diesen Hintergrund und das grosse Netzwerk, auf das ich zurückgreifen kann, wäre es schwierig gewesen.
Ihr werdet ja mit der BFH auch von einer Forschungseinrichtung begleitet. Wie wichtig ist das für Sie?
Die wissenschaftliche Begleitung wird gefordert von den Arztpraxen, und das ist auch richtig so. Es soll wissenschaftlich begleitet sein. Es sind ja auch schon ein paar Produkte entstanden, und das hilft massiv, wenn man eine Grundlage hat. Wenn die von uns angefragte Stiftung das Geld spricht, werden wir auch die ökonomischen Aspekte unseres Angebots erforschen.
Ist es denkbar, dass dereinst eine Weiterbildung geschaffen werden könnte in diesem Gebiet?
Es gibt bereits einen Master für Klinische Soziale Arbeit, und es ist ja klinische Soziale Arbeit, einfach ambulant. Im stationären Bereich ist Soziale Arbeit ja total normal: im Kantonsspital, im Kinderspital, in der Psychiatrie, überall ist Soziale Arbeit mit drin. Weshalb nicht auch im ambulanten Bereich in der Grundversorgung? Man kann das gut auf den ambulanten Bereich adaptieren.
Autor*in
Martin Heiniger
Dass Vorbeugen besser sei als heilen, ist eine alte Weisheit. Dazu gehört auch die Prävention sozialer Probleme, da sich psychosoziale und gesundheitliche Problemlagen oft gegenseitig bedingen bzw. verstärken.
Damit Soziale Arbeit präventiv wirksam werden kann, muss sie vulnerable Menschen jedoch erst erreichen. Da Hausärzt*innen für viele Menschen die erste Anlaufstelle für eine Vielzahl von Anliegen und Problemen sind, bietet sich hier ein niederschwelliger Zugang zu Angeboten der Sozialen Arbeit. Deshalb hat die Caritas beider Basel ein Pilotprojekt lanciert, das Sozialberatung direkt in Arztpraxen integriert.
Wenn es dadurch gelingt, Behandlungskosten zu senken und die Arbeitsmarktfähigkeit der betreffenden Patien*innen zu erhalten, könnte es sich im Endeffekt sogar finanziell lohnen, die medizinische Grundversorgung mit einem Angebot sozialer Beratung zu ergänzen.