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Antisemitismus in der Schweiz: unterschätzt und kaum beachtet

Dezember 2020

Auch bei uns erleben Jüdinnen und Juden vor allem in den sozialen Medien zunehmend antisemitische Beleidigungen und Drohungen. Eine neue Website will Gegensteuer geben.

Sprache ist ein oft unterschätztes Machtinstrument und Mittel zur Ausübung von Gewalt. Für die Antisemitismusforscherin und Linguistin Monika Schwarz-Friesel ist Hassrede deshalb eine ‚geistige Gewaltanwendung‘. Sie greift die Würde von Menschen an, degradiert sie, verletzt sie seelisch, liefert sie anderen aus. Und sie spielt eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung von antisemitischen Einstellungen und Meinungen. Nicht zuletzt bereitet sie ein gesellschaftliches Klima vor, das physische Gewalthandlungen als legitim erscheinen lässt.

Schweizer Jüdinnen und Juden fühlen sich bedroht

Auch in der Schweiz prägt Antisemitismus den Alltag von hier lebenden Jüdinnen und Juden zunehmend. Dies zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Rund die Hälfte der Befragten hat angegeben, im Alltag oder online belästigt worden zu sein. Am häufigsten sind antisemitische Anfeindungen in den Sozialen Medien. Physische Gewalt wie Körperverletzungen oder Tätlichkeiten sind dagegen selten. Am häufigsten berichten streng-orthodoxe Jüdinnen und Juden von verbalen Übergriffen. Ein Sechstel von ihnen ist von Sachbeschädigungen betroffen oder hat Gewalt erfahren.

Studie der ZHAW

Die Studie der Zürcher Fachhochschule ZHAW ist in Zusammenarbeit mit der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus entstanden. An der Umfrage vom Sommer 2020 haben 487 Personen teilgenommen.

Vor allem in drei Alltagsbereichen kommen Diskriminierungen gehäuft vor: an Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche. Dabei geht es weniger um eine Einschränkungen im religiösen Leben, sondern vor allem um diskriminierende Äusserungen.

Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden im Alltag machen, wirken sich auch auf ihr Sicherheitsgefühl aus. So meidet fast jede dritte befragte Person zum Teil jüdische Veranstaltungen, weil er oder sie sich vor verbalen Angriffen fürchtet. Eine Mehrheit der Befragten wünscht sich denn auch, dass die Behörden die Sicherheitsbedürfnisse der jüdischen Bevölkerung stärker beachten und sich für mehr Sicherheit einsetzen.

Ein weiterer Beleg für diese Entwicklung findet sich auf der Website der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Die Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft erscheinen hier besonders häufig als Opfer von Fällen, welche die Rassismusstrafnorm betreffen.

Antisemitismus im Alltag ist problematisch

Vielen ist jedoch nicht bewusst, dass ihre Überzeugungen antisemitisch geprägt sind oder dass sie mit ihren Äusserungen jahrhundertealte Vorurteile über Juden und Jüdinnen bedienen.

Ein weit verbreitetes Phänomen ist zum Beispiel die Gleichsetzung von Juden und Jüdinnen mit Israel und seiner Regierungspolitik, wie unter anderem auch eine Tangram-Ausgabe von 2017 zeigt. Eine Kritik der israelischen Politik ist zwar legitim, sie ist jedoch dann problematisch, wenn sich die Kritik einer judenfeindlichen Argumentationsweise bedient. Häufig werden Juden und Jüdinnen dabei so hingestellt, als ob sie weltweit und unweigerlich mit Israel verbunden wären. Dabei wird ihnen jede Individualität oder Pluralismus abgesprochen. Wenn das Bewusstsein für die Problematik solcher Äusserungen jedoch fehlt, können sich Unwahrheiten und Verschwörungsmythen über das jüdische Volk ungebremst ausbreiten. Die sozialen Netzwerke bieten dafür einen geeigneten Nährboden.

Definition von Antisemitismus

Die GRA und viele Nichtregierungsorganisationen übernehmen die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA):

«Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.»

Stop-Antisemitismus-Website

Eine neu erstellte Website der GRA Stiftung gegen Rassismus will diesem Trend entgegenhalten und für das Thema sensibilisieren. Sie enthält eine Sammlung von 18 authentischen, antisemitisch geprägten Zitaten aus dem Schweizer Alltag. Bei jeder Aussage wird beispielhaft erklärt, weshalb sie problematisch oder diskriminierend ist und wie man darauf reagieren könnte. Denn wer hat das nicht schon erlebt: Man fühlt zwar, dass eine Aussage unfair oder problematisch ist, kann es aber nicht genau in Worte fassen.

Die Website versteht sich als Anlaufstelle für eine engagierte Zivilbevölkerung, die Haltung und Zivilcourage zeigen will oder sich im Sinne von Counter Speech aktiv sein will. Die Infos können aber auch von Lehrpersonen benutzt werden, um Schüler und Schülerinnen zu sensibilisieren – oder von Fachpersonen Sozialer Arbeit, die Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit leisten.

Weiter finden Betroffene Adressen von Stellen, die Unterstützung oder Beratung anbieten.

ZHAW Departement Soziale Arbeit

Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in der Schweiz

In jüngerer Zeit haben verschiedene wissenschaftliche Studien auf das Phänomen des Antisemitismus aufmerksam gemacht. Zum einen veröffentlichte die European Union Agency for Fundamental Rights (2018) Ergebnisse einer Befragung unter 16 395 Jüdinnen und Juden in zwölf europäischen Ländern – die Schweiz war unter diesen Ländern allerdings nicht vertreten.

Antisemitismus in der Schule

Handlungsmöglichkeiten der Schulsozialarbeit

Antisemitismus ist im Kontext der Sozialen Arbeit in Schulen kaum Thema. Diese Lücke schliesst das Praxisbuch, indem es historische und aktuelle Grundlagen zum Thema, Handlungsempfehlungen und Perspektiven der interviewten Schulsozialarbeiter_innen aufzeigt. Gleichzeitig verdeutlicht es einen Prozess der Annäherung an die Thematik und ihre Vertiefung durch Studierende der Sozialen Arbeit und spricht gerade deshalb zukünftige und praktizierende Sozialarbeitende, aber auch Lehrende und Trainer_innen in Bildungsbereichen an.


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