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Krankentaggeldversicherung: Was man für die Sozialberatung wissen muss

26.09.2024 - 40 Min. Lesezeit

Gesundheitswesen
Betriebliche Sozialarbeit
Peter Mösch Payo

Peter Mösch Payot

Co-Präsident und verantwortlicher Experte Rechtsberatung

Person liegt im Krankenbett mit Pulsmessungs-Fingerklemme.

Bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit, Mutterschaft oder Unfall stellt sich in der Sozialberatung oft die Frage, welche Deckung durch eine Krankentaggeldversicherung gegeben ist. In unserem aktuellen Beitrag bietet unser Sozialrechtsexperte Peter Mösch Orientierung in diesem komplexen Thema.

Die Schweiz kennt für Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit keine gesetzlich obligatorische Krankentaggeldversicherung. Entsprechende Versicherungen, die freiwillig abgeschlossen werden können, haben unterschiedliche Voraussetzungen und Leistungen. Das macht die Rechtslage zur Absicherung von Erwerbsausfällen durch Arbeitsunfähigkeit relativ komplex. Das Thema ist für die Sozialberatung von grosser Bedeutung. Im Folgenden erläutern wir die Grundlagen zu Ansprüchen und Leistungen, den Zusammenhang mit Lohnansprüchen nach dem Arbeitsrecht und die Möglichkeit des Übertritts in eine Einzelversicherung nach Beendigung der Anstellung. Wie immer streuen wir zu all diesen Themen wichtige Tipps für die Sozialberatung ein.  

Die freiwillige Taggeldversicherung deckt das Risiko eines vorübergehenden Lohn- bzw. Erwerbsausfalls ab. Versicherte Arbeitnehmende und Selbständige erhalten ein Krankentaggeld, wenn sie wegen Krankheit, Mutterschaft oder Unfall teilweise oder voll arbeitsunfähig sind.  

Bei Unfall und Mutterschaft haben Taggeldversicherungen eine ergänzende Rolle, da in diesen Fällen häufig die gesetzliche Unfallversicherung, bzw. die Mutterschaftsversicherung (EOG) ins Spiel kommt. Im Folgenden fokussieren wir auf die Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit, da diese in der Praxis die wichtigste Rolle spielen. 

Verschiedene Arten der Versicherung

Taggeldversicherungen gibt es als Einzel- und als Kollektivversicherungen. Bei Letzteren sind die Mitarbeitenden eines Arbeitgebenden oder die Mitglieder eines Verbandes, z.B. eines Branchenverbandes, versichert.  

Das Krankentaggeld kann nach zwei verschiedenen Gesetzen versichert werden: Es gibt Versicherungen, deren Voraussetzungen und Leistungen sich auf das Krankenversicherungsgesetz (KVG) stützen. Die grosse Mehrzahl sind jedoch Krankentaggeldversicherungen nach Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Diese stützen sich auf das Privatversicherungsrecht.  

Krankentaggeldversicherungen (KTV) nach dem KVG sind Sozialversicherungen. Das bedeutet, dass die wesentlichen Grundregeln für Anspruchsvoraussetzungen und Leistungen sich aus dem Gesetz ergeben. Die Verfahren sind nach den Sozialversicherungsgrundsätzen zu führen, so sind etwa Verfügungen zu erlassen, zumindest wenn das verlangt wird, und es bestehen Rechtsmittelmöglichkeiten mit Einsprachen etc. Solche Versicherungen werden von Krankenkassen angeboten.  

Krankentaggeldversicherungen (KTV) nach dem VVG beruhen dagegen auf einem privatrechtlichen Versicherungsvertrag. Sie können von Privatversicherungen oder Krankenkassen angeboten werden. Die Durchführung richtet sich nach Privatrecht und untersteht der Aufsicht über die Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG). Das bedeutet, dass die Ansprüche und Leistungen primär vertraglich vereinbart sind. Das hat etwa zur Folge, dass die Versichernden über Leistungen keine Verfügung erlassen, und dass die Beteiligten bei Streitigkeiten Ansprüche klageweise beim Gericht geltend machen müssen. Das macht die Rechtsstellung der versicherten Person schwierig. Solche Klagen sollten nur mit juristischer Unterstützung eingereicht werden.

Wie eine Versicherung zustande kommt

Krankentaggeldversicherungen können in verschiedenen Konstellationen ins Spiel kommen. Für bestimmte Fälle sind sie zwingend abzuschliessen: 

  • Selbständige können ihr Risiko versichern, einen Erwerbsausfall durch Arbeitsunfähigkeit zu erleiden. Einen Anspruch auf Versicherung gibt es jedoch nicht. Das bedeutet, dass die Versicherungen frei sind, ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen sie selbständige Personen aufnehmen. Es ist zum Beispiel möglich, die Aufnahme von einer Gesundheitsprüfung abhängig zu machen. Personen mit einer risikobehafteten Gesundheitssituation finden also oft keine Versicherung, bzw. nur unter Vorbehalten oder für sehr hohe Prämien. 
  • Für bestimmte Branchen geben Gesamtarbeitsverträge obligatorisch vor, dass die Arbeitgebenden eine Krankentaggeldversicherung abschliessen, oder ein bestimmtes Niveau der Absicherung von Erwerbsausfall wegen Krankheit gewähren müssen.  
  • Für Mitarbeitende im öffentlichrechtlichen Bereich kann auf der Basis des öffentlichen Dienstrechts (Personalgesetze, -reglemente etc.) direkt oder auch indirekt (z.B. über Leistungsverträge) der Abschluss einer KTV oder ein bestimmtes Schutzniveau bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit vorgegeben sein.  
  • Mitarbeitende bei privaten Arbeitgebenden können auf der Basis des Arbeitsvertrages und des Personalreglementes versichert sein. Hier ist folgender Hintergrund zu beachten: Privatrechtlich angestellte Arbeitnehmende haben im Rahmen des Obligationenrechts einen gesetzlichen Anspruch auf Lohnfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit.1 Wenn die Krankentaggeldversicherung mit Blick auf Voraussetzungen und Leistungen insgesamt gleichwertig ist, so ersetzt sie die Lohnfortzahlungspflicht. Ist dies nicht der Fall, so ergänzen Krankentaggelder die Ansprüche nach OR.

Praxisfrage 1

Besteht überhaupt eine Krankentaggeldversicherung?

Anspruchsvoraussetzungen und Leistungen der KTV 

Die zentrale Voraussetzung für KTV-Leistungen ist eine ausgewiesene Arbeitsunfähigkeit, die durch das versicherte Risiko der Erkrankung (bzw. der Mutterschaft oder des Unfalls) bewirkt wird. Was dies, vor allem bei längeren Arbeitsunfähigkeiten, im Lichte der so genannten Schadenminderungspflicht, bedeutet, wird im zweiten Teil genauer erläutert. Zunächst folgt ein Überblick für KTV nach VVG und solchen nach KVG.  

Taggeldversicherungen nach dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG)

In der Taggeldversicherung nach dem VVG (Versicherungsvertragsgesetz) gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit.  

Vertragsabschluss: Die Versicherung kann frei entscheiden, ob sie Personen in eine Einzelversicherung aufnimmt, bzw. ob sie etwa mit einem Arbeitgeber oder einem Branchenverband eine Kollektivversicherung abschliesst. Es besteht also gegenüber der Versicherung kein Anspruch auf eine Versicherung nach VVG.  

Gesundheitsprüfungen, Versicherungsvorbehalte und Ausschlüsse: Für bestehende Krankheiten können im Versicherungsvertrag zeitlich unbefristete Vorbehalte für vorbestehende Erkrankungen angebracht werden. Möglich sind auch generelle Ausschlüsse der Leistungspflicht bei bestimmten Krankheiten. 

Die (vorbehaltlose) Aufnahme von neuen Mitarbeitenden in die Versicherung kann von Gesundheitsprüfungen abhängig gemacht werden. Ein Vorbehalt oder Ausschluss bedeutet, dass eine Arbeitsunfähigkeit, die auf der vorbehaltenen Krankheit beruht, nicht versichert ist und somit nicht zu Leistungen führt. Möglich ist auch, dass für Personen mit erhöhten Gesundheitsrisiken erhöhte Prämien verlangt werden. Entscheidend sind die Regelungen in den einzelnen Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB).  

Die Höhe und die Dauer der Leistungen können frei vereinbart werden. Bei Summenversicherungen ist beim Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit eine bestimmte Summe geschuldet. Bei Schadenversicherungen hingegen ist der Erwerbsausfall, also der konkrete Lohnausfall, bzw. häufig ein Teil davon (etwa 80%) versichert.  

Viele Versicherungsverträge orientieren sich für die Dauer der Leistungen an den Regeln der Taggeldversicherungen nach KVG (720 Tage innert 900 Tagen). Entscheidend sind auch hier die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB). 

Bei Beendigungen des Arbeitsverhältnisses von Personen, die in diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig sind, ist Folgendes zu beachten: Die Leistungspflicht der Versichernden läuft bei Beendigung des Versicherungsverhältnisses für einen laufenden Schaden (anders als bei den KTV nach KVG) grundsätzlich weiter, auch wenn die Person nicht mehr angestellt ist und somit der Versicherung nicht mehr untersteht.2 Das kann aber in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) anders geregelt sein. Zum Teil ist auch die Leistungspflicht für die Zeit nach der Anstellung in den AVB zeitlich beschränkt (z.B. auf 90 Tage).  

Taggeldversicherungen nach KVG

Bei Taggeldversicherung nach KVG (vgl. Art. 67 bis 77 KVG) besteht eine Aufnahmepflicht. Das heisst, die Krankenversicherungen sind verpflichtet, Personen aufzunehmen, die in der Schweiz wohnen oder arbeiten und zwischen 15 und 65 Jahre alt sind. Die von Krankenkassen angebotene Einzelversicherung sind vor allem für Selbständige von Bedeutung. Dabei gilt, dass sie für die gleichen Leistungen die gleichen Prämien erheben. Bei den Kollektivversicherungen sind die Arbeitgebenden Vertragspartner*in der Versicherung. Versichert sind die Arbeitnehmenden. Kollektivversicherungen kommen zum Teil auch für Selbständige vor, namentlich über Berufsverbände als Versicherungspartner. Hier können die Prämien nach dem Risiko des einzelnen Vertrags festgelegt werden. 

Versicherungsvorbehalte für bestehende Krankheiten fallen nach fünf Jahren weg. 

Mit Blick auf die Höhe und Dauer der Leistungen ist nicht gesetzlich geregelt, wie hoch das versicherte Taggeld ist, und wie lange es gewährt werden muss: Die Taggeldversicherungen nach KVG richten die Taggelder ab einer Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent während mindestens 720 Tagen innerhalb von 900 Tagen aus. Bei Schwangerschaft und Geburt gelten besondere Regelungen. 

Das KVG schreibt den Versichernden keine Mindesthöhe des Taggeldes vor. Die Versichernden sind also nicht verpflichtet, einen Versicherungsschutz anzubieten, der den möglichen Erwerbsausfall bei Krankheit wirklich abdeckt. Viele Versichernden bieten nur ein sehr geringes Taggeld nach KVG an, da für sie Versicherungen nach VVG (siehe oben) mehr Spielraum in der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen bieten. Das ist auch der Grund, weswegen solche Versicherungen selten geworden sind. 

Bei Beendigung der Versicherungsunterstellung enden auch laufende Taggeldleistungen. Will man also etwa bei Arbeitsverhältnissen mit Kollektivtaggeldversicherungen für bestehende Arbeitsunfähigkeiten weiterhin Leistungen erhalten, muss der Übertritt in die Einzelversicherung erklärt werden (siehe unten).

Praxisfrage 2

Welche Ansprüche bestehen wofür, ab wann, in welchem Umfang und wie lange gegenüber der Krankentaggeldversicherung?

Praxisfrage 3

Bestehen (zusätzlich zum Krankentaggeld) Ansprüche auf Lohnersatz gegenüber der Arbeitgeberschaft?

Austritt aus der kollektiven Krankentaggeldversicherungen und Zügerrechte

VVG-Taggeldversicherungen 

(Übertritt in eine Einzelversicherung) 

Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Krankentaggeldversicherung (AVG) sehen in der Regel ein allgemeines Übertrittsrecht von der Kollektiv- in die Einzelversicherung vor, etwa nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Dieses «Zügerrecht» ist an gewisse Fristen gebunden, die in den AVB geregelt sind. Für den Übertritt besteht gemäss den AVB meist eine Frist von 30 Tagen ab dem jeweils geltenden Zeitpunkt (Beendigung des Versicherungsvertrages oder Beendigung der Leistungen). Manchmal wird das Übertrittsrecht für Arbeitnehmende in Kollektivversicherungen auch bis zum Ende eines bestehenden Leistungsbezugs gewährt, selbst wenn dieser weit nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses liegt. 

Die AVB der Versicherungen sehen häufig vor, dass bei Kollektivversicherungen die Arbeitgebende (als Versicherungsnehmende) die betroffenen Mitarbeitenden über das Übertrittsrecht und die Frist zur Geltendmachung rechtzeitig zu informieren hat. Diese Verpflichtung kommt den Arbeitgebenden im Übrigen schon aus dem Arbeitsrecht zu (Art. 331 Abs. 4 OR und Art. 3 Abs. 3 VVG). Wird die Information verletzt, kann das Schadenersatzansprüche gegenüber der Arbeitgeberschaft zur Folge haben. In den meisten Fällen hat die Versicherung selbst nach den AVB keine allgemeine Informationspflicht zum Übertrittsrecht. 

Für arbeitslose Personen garantiert das Versicherungsvertragsgesetz einen Anspruch auf Übertritt in die Einzelversicherung zu den bisher versicherten Leistungen, wenn man aus einer Kollektivversicherung ausscheidet, namentlich wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird (Art. 100 Abs. 2 VVG). Natürlich müssen dann die Prämien von der betroffenen Person selbst geleistet werden.  

Dieser gesetzliche Anspruch auf Übertritt besteht so nur für arbeitslose Personen, die im Sinne des AVIG als arbeitslos gelten. Im Zweifel ist also eine Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung notwendig, um von diesem Recht in diesem Umfang profitieren zu können.  

Die Versichernden haben für arbeitslose Personen die Pflicht dafür zu sorgen, dass die versicherte Person schriftlich über ihr Recht zum Übertritt in die Einzelversicherung aufgeklärt wird. Dies geschieht in der Regel über die Arbeitgebenden als Versicherungsnehmer*in, welche die Mitarbeitenden z.B. mit der Kündigung über diese Möglichkeit informiert.  

Die versicherte arbeitslose Person hat ihr Übertrittsrecht innert drei Monaten nach Erhalt der Mitteilung geltend zu machen.  

Neue Vorbehalte bei Versicherungswechsel 

Praktisch alle wichtigen Krankentaggeldversicherungen haben sich einem freiwilligen Freizügigkeitsabkommen unterstellt. Dieses sieht vor, dass beim Übertritt von einer Kollektivversicherung zur nächsten – etwa bei einem Stellenwechsel – keine neuen Vorbehalte gegenüber dem bisherigen Versicherungsumfang gemacht werden dürfen. Das gilt auch, wenn der Wechsel mit einem Unterbruch von höchstens drei Monaten erfolgt (Art. 2 Abs. 1 lit. a Abkommen).  

Bei Übertritten von Einzelversicherungen in Kollektivversicherungen dürfen bei einem lückenlosen Übertritt ebenfalls keine neuen Vorbehalte gemacht werden.  

Der Übertritt von einer Kollektiv- in eine Einzelversicherung führt zu deutlich höheren Prämien, weil Einzeltarife höher sind als Kollektivprämien. Dennoch kann diese Vorgehensweise in gewissen Fällen ratsam sein. Die Versicherung darf die übertretende Person nicht ablehnen und darf auch keinen Vorbehalt für vorbestandene Krankheiten anbringen. Hingegen können die Versichernden einen neuen Vorbehalt auf den zusätzlich versicherten Teil anbringen, wenn die übertretende Person die Versicherungsleistungen oder ihren Beschäftigungsgrad später erhöhen.

KVG-Taggeldversicherungen

Eine Person, die aus einer Kollektivversicherung ausscheidet, hat das Recht, zu den bisher versicherten Leistungen ohne neue Vorbehalte in die Einzelversicherung überzutreten, etwa wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird. Natürlich muss die betroffene Person die hohen Prämien dann selbst bezahlen.  

Die Versichernden haben dafür zu sorgen, dass die versicherte Person schriftlich über ihr Recht zum Übertritt in die Einzelversicherung aufgeklärt wird. Unterlässt er dies, so bleibt die versicherte Person in der Kollektivversicherung. Sie hat ihr Übertrittsrecht innert drei Monaten nach Erhalt der Mitteilung geltend zu machen.  

Wenn die versicherte Person die Versicherung wechseln muss, etwa weil sie ein Arbeitsverhältnis beendet und ein anderes neu aufnimmt, dürfen keine neuen Versicherungsvorbehalte angebracht werden.

Praxisfrage 4

Inwieweit ist es nach einer Kündigung sinnvoll, ein Übertritt in die Einzelversicherung zu prüfen, und wie ist vorzugehen?

Zweiteiliger Beitrag

In einem zweiten Teil, welcher in einigen Wochen erscheinen wird, gehen wir auf spezifische Praxisprobleme wie die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, die Arbeitsunfähigkeit am Arbeitsplatz, Schadenminderungspflichten, die Versicherungspflicht während der Arbeitsunfähigkeit sowie die Koordination mit anderen Leistungen ein.

Autor*in