Das Thema der KTG-Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit ist für die Sozialberatung und Betroffene sehr wichtig. Die Klärung und Koordination der Ansprüche ist oft komplex, zumal die Schweiz keine obligatorische Krankentaggeldversicherung kennt. Unser Beitrag liefert wichtiges Grundlagenwissen für eine professionelle Sozialberatung in Fragen zum KTG.
Dreiteilige Serie zur Krankentaggeldversicherung
Im ersten Teil hat unser Sozialrechtsexperte Peter Mösch Payot die Grundlagen zu Ansprüchen und Leistungen, den Zusammenhang mit Lohnansprüchen nach dem Arbeitsrecht und die Möglichkeit des Übertritts in eine Einzelversicherung nach Beendigung der Anstellung dargestellt.
Im vorliegenden zweiten Teil geht es darum, wie KTG-Leistungen mit anderen Versicherungsleistungen koordiniert werden.
Im demnächst folgenden dritten Teil wird unser Sozialrechtsexperte auf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung, auf die Schadenminderungspflichten der Versicherten beim Leistungsbezug und auf die versicherungsmässige Absicherung während des Bezuges von Krankentaggeldern eingehen.
Dieser Fokusartikel befasst sich mit folgenden Koordinationsfragen rund um Krankentaggeldleistungen:
- Die Koordination mit Leistungen der Arbeitslosenversicherung (ALV)
- Die Koordination von Taggeldern unterschiedlicher Krankentaggeldversicherer mit Taggelder der Unfallversicherung (UV) und der Invalidenversicherung (IV) sowie der Erwerbsersatzordnung (Mutterschaftsentschädigung etc.)
- Die Grundlagen des Zusammenspiels mit Renten der Invalidenversicherung, der Pensionskasse oder der Unfallversicherung
- Konkrete Praxistipps: Wo und wie ist im Zweifel juristische Unterstützung einzuholen?
Die Ausführungen beziehen sich auf Taggelder, wie sie meist bei kollektiven Krankentaggeldversicherungen abgesichert werden.1
Inner- vs. extrasystemische Koordination
Bei der der «innersystemischen Koordination» geht es um das oft komplexe Zusammenspiel von Leistungen aus zwei unterschiedlichen Sozialversicherungen. Bei Krankentaggeldern, die häufig privatrechtliche Natur haben (bei den KTV nach VVG), wird diese Koordination noch komplexer. Hier spricht man von «extrasystemischer Koordination».
Dabei geht es im Kern immer um zwei Fragen: Erstens um die Vorleistungspflicht, solange noch umstritten ist, welche von zwei möglichen Versicherungen Leistungen gewähren muss. Und zweitens um die Leistungskoordination, wenn mehrere Versicherungen Leistungen erbringen müssen.
Krankentaggelder und Arbeitslosenversicherung
Nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses kann in zeitlicher Hinsicht weiterhin ein Anspruch auf Krankentaggelder bestehen, wenn gemäss den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) bei Arbeitsunfähigkeit eine Nachdeckung besteht. Je nach AVB ist dafür ein Übertritt in die Einzelversicherung notwendig (siehe Praxisfrage 4, Teil 1). Mit diesem Übertritt können auch Arbeitsunfähigkeiten abgedeckt sein, die erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auftreten. Gleichzeitig kann ein Anspruch auf Arbeitslosentaggelder bestehen.
Praxisfrage 5
Inwieweit kann ein Anspruch auf Arbeitslosentaggelder trotz Arbeitsunfähigkeit bestehen?
Diese Frage führt häufig zu Unklarheiten. Immerhin ist die Vermittlungsfähigkeit eine Anspruchsvoraussetzung für Leistungen der ALV (Art. 15 AVIG). Zudem müssen die weiteren Anspruchsvoraussetzungen (namentlich auch die Beitragszeit oder Befreiung davon) erfüllt sein.
Die Arbeitslosenversicherung kennt aber bei Arbeitsunfähigkeiten zwei Spezialfälle, in denen ein Anspruch auf Taggelder trotz fraglicher oder nicht bestehender Arbeitsfähigkeit bestehen kann:
- Erster Spezialfall: Bei vorübergehender krankheitsbedingter ganzer oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit besteht während 30 Tagen (maximal 44 Tagen innerhalb der Rahmenfrist) ein Anspruch auf ein volles Arbeitslosentaggeld (Art. 28 Abs. 1 AVIG) in der Höhe von 70% oder 80% des massgebenden AHV-Lohnes plus Zuschläge für allfällige Kinder- und Ausbildungszulagen (Art. 22 und Art. 23 Abs. 1 AVIG). Diese Frist beginnt dann und nur dann neu zu laufen, wenn die Arbeitsunfähigkeit nachweislich unterbrochen wird oder wenn eine Arbeitsunfähigkeit aus einem anderen Grund direkt an eine vorherige Arbeitsunfähigkeit anschliesst2. Wenn die betroffene Person danach weiterhin vorübergehend vermindert arbeitsfähig ist, und gleichzeitig Leistungen einer Krankentaggeldversicherung bezieht, gewährt die ALV das volle Taggeld, wenn sie zu mindestens 75 Prozent arbeitsfähig ist und das um 50 Prozent gekürzte Taggeld, wenn sie zu mindestens 50 Prozent arbeitsfähig ist.
- Zweiter Spezialfall: Im Rahmen der Vorleistungspflicht kann auch bei angenommener langfristiger gesundheitlicher Einschränkung ein Anspruch auf Arbeitslosentaggelder bestehen (Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 2 AVIG i.V.m. Art. 15 AVIV). Wird neben der Anmeldung bei der ALV eine Anmeldung bei der IV oder der Unfallversicherung vorgenommen und besteht eine Arbeitsfähigkeit von mindestens 20%, so muss die ALV grundsätzlich ein volles Arbeitslosentaggeld gewähren. Dies gilt längstens bis zur Erschöpfung der ALV-Taggelder bzw. bis zum Entscheid der anderen Versicherung3.
Hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzung der Beitragszeit bestehen Spezialregeln zu Gunsten von Personen, die krankheitsbedingt arbeitsunfähig sind. So werden Krankheitszeiten während der Anstellung als Beitragszeit anerkannt, auch wenn dann gar keine Beiträge bezahlt wurden, etwa weil keine Lohnfortzahlungspflicht mehr bestand (und somit auch keine Abzüge vom Lohn vorgenommen wurden), oder wenn während der Anstellung Krankentaggelder gewährt wurden, auf welche keine Abzüge für die Sozialversicherungen vorgenommen werden (vgl. Art. 13 Abs. 2 lit. C AVIG). Hat die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vor der Anmeldung bei der ALV mehr als ein Jahr gedauert, so liegt ein Grund für eine Beitragsbefreiung vor (Art. 14 Abs. 1 lit. B AVIG). Das generiert immerhin einen Anspruch auf 90 Taggelder der ALV.
Leistungskoordination
Wenn umstritten ist, ob überhaupt Anspruch auf ALV- oder auf Krankentaggelder bestehen, spielt die Frage der Vorleistung in der Praxis kaum eine Rolle. Wenn aber die beiden Risiken Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit zusammenfallen, und Ansprüche bei beiden Systemen bestehen, müssen die Leistungen koordiniert werden. Dabei gilt es, drei Konstellationen zu unterscheiden:
- Für 30 Tage (maximal 44 Tage innerhalb der Rahmenfrist) gewährt die Arbeitslosenversicherung ein volles Taggeld (Art. 28 Abs. 1 AVIG) trotz vorübergehender – ganzer oder teilweiser – Arbeitsunfähigkeit. Um eine Überentschädigung zu vermeiden, werden die Taggelder der Krankentaggeldversicherung, sowohl diejenigen nach KVG als auch nach VVG, an das ALV-Taggeld angerechnet. Gleiches gilt für allfällige Taggelder der Unfallversicherung (Art. 28 Abs. 2 AVIG). Das kann dazu führen, dass die Person faktisch gar kein ALV-Taggeld erhält. Eine versicherte Person, die einen Anspruch sowohl auf Krankentaggelder als auch auf ALV-Taggelder hat, kann bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit die Krankentaggelder für die Dauer der 30 Tage aufschieben und die Taggelder der ALV beziehen. Das gilt sowohl für VVG- wie für KVG-Taggeldversicherungen (vgl. Art. 100 VVG i.V.m. Art. 73 Abs. 2 KVG). So werden in dieser Zeit keine der beschränkten Krankentaggelder verbraucht.
- Besteht nach den 30 Tagen weiterhin Anspruch auf Leistungen der ALV und der KTV (nach KVG oder VVG) , werden diese je nach Mass der Arbeitsunfähigkeit wie folgt koordiniert: Bei einer Arbeitsunfähigkeit (AUF) von bis zu 25 Prozent wird die volle Arbeitslosenentschädigung (ALE) gewährt, aber kein Krankentaggeld. Bei einer AUF von 25 bis 50 Prozent wird je eine halbe ALE und ein halbes Krankentaggeld gewährt (wenn die Versicherung dies generell vorsieht). Bei einer AUF von mehr als 50% wird das volle Krankentaggeld gewährt, aber keine ALE.
- Im Fall einer Vorleistung der ALV (vgl. Art. 15 AVIG), was mit einer Anmeldung bei der IV bereits bei einer ausgewiesenen Arbeitsfähigkeit von 20 Prozent der Fall ist (siehe Praxisfrage 5), so gewährt die Arbeitslosenversicherung weiterhin ein volles Taggeld. Krankentaggeldversicherungen nach VVG koordinieren die Anrechnung in diesen Konstellationen in der Regel gemäss den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Der Anspruch wird meist bei Überentschädigung reduziert (siehe Praxisfrage 7).
Es gibt auch den Fall, dass jemand zwar arbeitslos ist, aber keine Ansprüche gegenüber der ALV (mehr) hat. Dann bestehen unter Umständen auch keine Ansprüche gegenüber der KTV. Warum? Bei Arbeitsunfähigkeiten, die erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehen, ist fraglich, ob ein versicherter Erwerbausfall besteht. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die versicherte Person erwerbstätig wäre, sobald sie die Arbeitsfähigkeit wieder erlangen würde.
In der Gerichtspraxis spielt eine Rolle, wann die Arbeitsunfähigkeit begann. War das vor dem Stellenverlust, so wird vermutet, dass der Erwerbsausfall auch bei Verlust des Jobs weiterhin versichert ist. Eine Person hingegen, die erst während der Arbeitslosigkeit (ohne Taggeldanspruch gegenüber der ALV) arbeitsunfähig wird, hat nachzuweisen, dass sie ohne Gesundheitsschaden erwerbstätig wäre. Gelingt das nicht, werden seitens der KTV keine Leistungen gewährt.4
Von Bedeutung ist das auch in Fällen, wo die ALV keine Leistungen gewährt, weil die betroffene Person ausgesteuert wurde. Um Leistungen der Krankentaggeldversicherung zu erhalten, müsste sie den schwierigen Beweis erbringen, dass sie ohne die AUF erwerbstätig wäre. Das ist in der Regel unmöglich.
Praxisfrage 6
Was ist gegenüber der Arbeitslosenversicherung bei arbeitsunfähigen Personen mit Krankentaggeldern besonders zu beachten?
Bei der Koordination von Krankentaggeldern und ALV-Taggeldern sind folgende Tipps hilfreich:
- Bei Personen, die ihre Stelle voraussichtlich verlieren werden, sollten Beratungspersonen schnellstmöglich eine ALV-Anmeldung prüfen, insbesondere auch, damit die Voraussetzung der Beitragszeit überhaupt eingehalten werden kann und eventuell längere Ansprüche bei längerer Beitragszeit nicht verloren gehen.
- Die Arbeitslosenkasse ist mit Blick auf die Eröffnung der Rahmenfrist darauf hinzuweisen, dass sie eine Beratung schuldet, um zu prüfen, welches der richtige Zeitpunkt für die Anmeldung ist. Beratungspersonen können dazu auf die entsprechende Vorgabe des Seco verweisen5.
- Dabei ist es hilfreich, proaktiv ein Arztzeugnis einzureichen (oder die Einreichung in Aussicht zu stellen), welches darüber Auskunft gibt, ob die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich vorübergehend ist.
- Belegt das Arztzeugnis, dass die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich vorübergehend sein wird, so sollten Beratungspersonen die Stellen der Arbeitslosenversicherung (RAV und die Arbeitslosenkasse) darauf hinweisen, dass gemäss Art. 28 AVIG eine Rahmenfrist zu eröffnen ist, bzw. dass die Vermittelbarkeit in diesem Fall nicht abgelehnt werden darf.
- Belegt eine Arztperson, dass die Arbeitsunfähigkeit eher langfristig sein wird, so ist mit ihr zu klären, ob eine Restarbeitsfähigkeit von 20% besteht. Wenn ja, ist dies auszuweisen. Um den Anspruch auf Vorleistung auszulösen und die Rahmenfrist zu wahren, ist eine rasche Anmeldung (nicht nur eine Meldung) bei der Invalidenversicherung ratsam.
- Wenn die ALV trotz vorübergehender Arbeitsunfähigkeit ein volles Taggeld gewährt (30 Tage), sollten Beratungspersonen mit der KTV prüfen, ob die Leistungen sistiert werden sollen. Für die Zeit danach ist mit der Arbeitslosenkasse und der KTV gut zu prüfen, ob die Leistungen gemäss der Koordinationsregeln von Art. 73 KVG und Art. 28 Abs. 4 AVIG korrekt gewährt werden. Auch hier ist wichtig, dass das Mass der Arbeits(un)fähigkeit ärztlich gut dokumentiert ist.
Krankentaggelder und Unfalltaggelder
Es gibt immer wieder Konstellationen, wo umstritten ist, ob eine Arbeitsunfähigkeit auf einen Unfall, bzw. eine nach Unfallversicherungsgesetz (UVG) versicherte Berufskrankheit zurückzuführen ist, oder auf eine nicht nach UVG versicherte Erkrankung. Bis dies geklärt ist, werden Vorleistungen gewährt. Im Weiteren kann es sein, dass Ansprüche aus beiden Versicherungen bestehen, etwa wenn eine (Teil-)Arbeitsunfähigkeit zum einen aus einem Grund eintritt, der nach UVG versichert ist (Unfall oder Berufskrankheit), gleichzeitig aber auch eine versicherte Krankheit besteht, die zu einer (Teil-)Arbeitsunfähigkeit führt. Hier stellt sich die Frage der Leistungskoordination.
Für die Antwort auf diese beiden Fragen muss unterschieden werden, ob es um Krankentaggeldversicherungen nach KVG oder nach VVG geht (Privatversicherungsrecht).
Vorleistungsfrage
Das ATSG legt fest, dass die Krankentaggeldversicherung nach KVG vorleistungspflichtig ist (Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG). Bei Krankentaggeldversicherungen nach VVG hingegen kommt wegen deren privatversicherungsrechtlichen Charakters keine Anwendung des ATSG in Frage. Die SUVA, der Schweizerische Versicherungsverband und Santé Suisse haben sich aber darauf geeinigt, dass in diesem Fall die Krankentaggeldversicherer ihre Leistungen vorschussweise gewähren.6
Wenn die Unfallversicherung zunächst Leistungen gewährt, den Zusammenhang zwischen Unfallereignis (bzw. Berufskrankheit) und Arbeitsunfähigkeit jedoch später nicht mehr anerkennt, so kommt danach ein Anspruch auf Krankentaggelder in Frage. Voraussetzung ist, dass die entsprechende Krankentaggeldversicherung dann überhaupt noch leistungspflichtig ist, und dass die Arbeitsunfähigkeit ausschliesslich durch unfallfremde Faktoren verursacht wurde. Bleibt aber die Frage der Kausalität (Unfall oder Krankheit) umstritten, so sind beide Leistungsansprüche unabhängig voneinander zu prüfen. Eine Vorleistungspflicht besteht dann nicht, was zu erheblichen Lücken für Betroffene führen kann.
Leistungskoordination
Wenn die Arbeitsunfähigkeit ganz oder teilweise auf einen Unfall zurückzuführen ist, zudem gleichzeitig eine Krankheit eine ganze oder teilweise Arbeitsunfähigkeit bewirkt, haben Betroffene einen kumulativen Anspruch auf beide Leistungen. Dies gilt sowohl für VVG-, als auch für KVG-Taggeldversicherungen. Dabei wird das Taggeld der Unfallversicherung voll gewährt, auch wenn die relevante Gesundheitsschädigung gemeinsam von einem Unfall und einer Krankheit verursacht wird (Art. 36 Abs. 1 UVG).
Bei Überentschädigung wird aber das Krankentaggeld gekürzt:
- Bei den den KVG-Krankentaggeldversicherern besteht eine hohe Überentschädigungsgrenze (Art. 69 ATSG). Diese ist erst erreicht, wenn die Leistungen insgesamt den mutmasslich entgangenen Verdienst plus die Mehrkosten durch den Krankheitsfall und allfällige Erwerbseinbussen von Angehörigen überschreiten würden (vgl. Art. 122 Abs. 2 KVV i.V.m Art. 69 Abs. 2 ATSG).
- Bei VVG-Taggeldversicherern legen meistens die Allgemeinen Versicherungsbedingungen die Überentschädigungsgrenze fest. Dabei ist immer genau zu prüfen, wie diese Überentschädigung und die entsprechende Kürzung gemäss Reglement berechnet wird, z.B. auf den versicherten Verdienst, auf den effektiven Verdienstausfall oder auf das versicherte Taggeld (siehe Praxisfrage 7).7
Koordination bei Taggeldern aus unterschiedlichen Krankentaggeldversicherungen
Zuständigkeit
Bei mehreren möglichen Krankentaggeldversicherungen müssen Sozialberatende die Frage der Zuständigkeit für einen Leistungsfall prüfen. Dabei ist der Zeitpunkt entscheidend, zu dem die versicherte Arbeitsunfähigkeit begonnen hat. Solange dieser unklar ist, ist weder bei KVG- noch bei VVG-Versicherungen ein Anspruch auf Vorleistungen vorgesehen.
Meist sehen die Kollektivtaggeldversicherungen vor, dass ein Leistungsanspruch nur besteht, wenn die versicherte Arbeitsunfähigkeit während der Versicherungsdeckung, also während des Arbeitsverhältnisses begann. Diese Frage kann umstritten sein, etwa bei vorbestehenden Erkrankungen, Rückfällen oder bei Arbeitsunfähigkeiten, die auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sind. In diesem Fall ist es unvermeidlich, dass die medizinischen Grundlagen genau erhoben und analysiert werden (siehe Praxisfrage 2, Teil 1).
Die Leistungen enden bei KVG-Taggeldversicherungen grundsätzlich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, ausser es wird ein Übertritt in die Einzelversicherung erklärt. Bei VVG-Taggeldversicherungen werden die Leistungen im Prinzip auch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses weiter gewährt. Die AVB der Versicherungen können aber Beschränkungen der Nachleistungen vorsehen, oder diese davon abhängig machen, dass ein Übertritt in die Einzelversicherung erfolgt (siehe Praxisfrage 4, Teil 1).
Leistungskoordination
Es kommt auch vor, dass Personen Anspruch auf Krankentaggeld unterschiedlicher Taggeldversicherungen haben, etwa bei Teilzeittätigkeiten, wo über die jeweiligen Arbeitgeber je eine Taggeldversicherung abgeschlossen wurde. Dann stellt sich die Frage der Leistungskoordination.
Bei mehreren KVG-Taggeldversicherungen (das kommt selten vor) gilt gemäss Art. 122 Abs. 2 KVV, dass jedes der beiden Taggelder im Verhältnis zum Gesamtbetrag gekürzt wird. Eine Kürzung ist jedoch nur zulässig, wenn die Taggelder den entgangenen Verdienst, plus Mehrkosten wegen der Gesundheitsschädigung (inkl. evtl. Einkommenseinbussen von Angehörigen) überschreiten würden.
Sind mehrere VVG-Taggeldversicherungen leistungspflichtig, richtet sich die Koordination nach den jeweiligen Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB). Eventuell wird reglementarisch eine Überentschädigung wie bei den KVG-Taggeldversicherungen erst angenommen, wenn der effektive Erwerbsausfall überschritten würde. Oft wird aber eine Überentschädigung bereits angenommen, wenn die kumulativen Leistungen den versicherten Verdienst überschreiten oder sobald das versicherte Taggeld erreicht wird.8
Beratungspersonen sollten Kürzungen bei Teilarbeitsunfähigkeiten besonders genau prüfen. Häufig darf nämlich bei richtiger Auslegung der Reglemente ein der Teilarbeitsfähigkeit entsprechendes Taggeld (z.B. ein halbes Taggeld bei einer Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent) nur gekürzt werden, wenn es zusammen mit der anderen Leistung, etwa dem Taggeld einer anderen Versicherung, die Überentschädigungsgrenze überschreitet.
Krankentaggelder und Taggelder der Invalidenversicherung
Taggelder der Invalidenversicherung werden nach den Regeln von Art. 22 IVG insbesondere Personen gewährt, die
- an bestimmten erwerbsorientierten Eingliederungsmassnahmen der IV teilnehmen,
- an bestimmten beruflichen Abklärungsmassnahmen der IV teilnehmen (Art.16 IVV),
- auf den Beginn einer Umschulung warten (Art. 18 IVV),
- bis 60 Tage nach einer erstmaligen beruflichen Ausbildung, einer Umschulung oder eines Arbeitsversuches auf Stellensuche sind (Art. 19 IVV).9
Vorleistungen
Fragen der Vorleistungen spielen in in diesen Fällen kaum eine Rolle, da aufgrund der gemeinsamen Voraussetzung einer bestehenden (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit kaum je umstritten ist, ob ein Anspruch auf Krankentaggelder oder auf IV-Taggelder besteht. Sollte doch ein solcher Fall eintreten, gehen KVG-Taggelder den IV-Taggeldern vor (Art. 70 Abs. 2 lit. ATSG). Im Regelfall gilt bei Taggeldern aus VVG-Taggeldversicherungen das gleiche, massgebend sind jedoch die jeweiligen Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB).
Leistungskoordination
Hat eine Person Anspruch auf KTV- und auf IV-Taggelder, gehen gemäss Art. 110 der Krankenversicherungsverordnung (KVV) Leistungen der IV (wie auch etwa der Unfallversicherung) den KVG-Leistungen vor. Kumulativ sind aber auch Krankentaggelder zu gewähren, wobei diese dann bei Überentschädigung gekürzt werden können (Art. 69 ATSG). Wenn jemand IV-Taggelder bezieht, kann der Bezug von Krankentaggeldern aufgeschoben werden, wodurch sich der Anspruch verlängert (Art. 72 Abs. 5 KVG).
Bei VVG-Taggeldversicherungen richtet sich die Koordination nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Meist wird dort eine kumulative Gewährung nicht ausgeschlossen, aber mit einer Überentschädigungskürzung versehen. Sozialberatende sollten immer genau prüfen, auf welcher Basis die Überentschädigung berechnet wird (z.B. auf ein bestimmtes Taggeld, den versicherten Verdienst oder auf den Verdienstausfall etc.). 10
Krankentaggelder und Taggelder aus der Erwerbsersatzordnung, insbesondere Mutterschaftsentschädigung
In der Praxis stellen sich vor allem Fragen der Leistungskoordination, wenn jemand während des Bezugs von Krankentaggeldern einen Anspruch auf Erwerbsersatz erhält, insbesondere bei einer Geburt, oder wenn jemand während des Bezugs von EO-Taggeldern, etwa Mutterschaftsentschädigung, zusätzlich durch Krankheit arbeitsunfähig wird.
Die Rechtsfolgen sind zu danach unterscheiden, ob eine KTV nach KVG oder nach VVG besteht:
In den eher seltenen Fällen einer Krankentaggeldversicherung nach Krankenversicherungsrecht (KVG) geht die Mutterschaftsentschädigung dem KVG-Taggeld im Prinzip vor (Art. 110 KVV; vgl. auch Art. 16g EOG). Der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung ist dabei in Fällen, wo schon vor der Geburt ein Anspruch auf ein KVG-Taggeld bestand, mindestens gleich hoch wie dieses (so genannter Besitzstand, vgl. Art. 16g Abs. 2 lit. b EOG).
Das Krankentaggeld nach KVG muss im Weiteren neben der Mutterschaftsentschädigung gewährt werden bis zur so genannten Überentschädigungsgrenze gemäss Art. 69 Abs. 2 ATSG, also bis zum mutmasslich entgangenen Verdienst unter Einbezug von krankheitsbedingten Mehrkosten und allfälligem Erwerbsausfall von Angehörigen wegen der Erkrankung der betroffenen Person.
Bei Krankentaggeldversicherungen nach Privatversicherungsrecht (VVG) sind vor allem die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) zu beachten.
In vielen AVB ist das Risiko Mutterschaft, unabhängig von einer Erkrankung, eigenständig versichert (etwa als «Geburtengeld» ). In solchen Fällen werden mit der Geburt Leistungen der KTV zusätzlich zur Mutterschaftsentschädigung nach EOG gewährt. Meist wird aber die Leistung mittels einer Überentschädigungsklausel beschränkt, je nach AVG meist auf die Höhe des Taggeldes oder des versicherten Verdienstes.
Ob bei Arbeitsunfähigkeiten, die während des Bezuges von Mutterschaftsentschädigungen eintreten, zusätzlich zu dieser auch Krankentaggelder gewährt werden, ist ebenfalls in den AVB der Versicherung geregelt. Zum Teil sind solche Leistungen für die Dauer des Bezuges von Erwerbsersatz ausgeschlossen. Zum Teil können Leistungen gewährt werden und sind dann auf eine reglementarisch bestimmte Überentschädigungsgrenze zu kürzen.
Krankentaggelder und Rentenleistungen der IV, der UV und der Pensionskasse
Besteht sowohl ein Anspruch auf Krankentaggelder nach KVG als auch auf Rentenleistungen bei Invalidität, so sind diese nebeneinander zu gewähren (Art. 68 ATSG). Vorbehalten ist eine Überentschädigung (Art. 69 Abs. 2 ATSG). Diese würde dann vorliegen, wenn die gesamten Leistungen aus Taggeldern und Renten den mutmasslich durch die Gesundheitsschädigung entgangenen Verdienst plus die verursachten Mehrkosten und Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen.
Leistungskoordination
Bei Taggeldversicherungen nach VVG sehen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) üblicherweise vor, dass der versicherten Person Rentenansprüche etwa der IV oder der Unfallversicherung bis zur reglementarischen Überentschädigung angerechnet werden. Diese Rentenleistungen müssen die Betroffenen häufig im Voraus an die Versicherung abtreten. Ein Rückforderungs- und Drittauszahlungsrecht der Krankentaggeldversicherer für gewährte Vorschüsse ist häufig auch explizit in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgesehen. Das macht es zulässig, dass die Invalidenversicherung oder die Unfallversicherung Rentenleistungen im Umfang der bereits für den entsprechenden Zeitraum gewährten Krankentaggelder direkt an die Taggeldversicherung zur Verrechnung auszahlen.11 Damit werden die entsprechenden Nachleistungen der IV an die bevorschussend gewährten Taggelder angerechnet. Die Art und der Umfang der Anrechnung richtet sich nach den AVB, die hierfür genau zu analysieren sind.
Leistungskoordination mit beruflicher Vorsorge
Obligatorische Renten der beruflichen Vorsorge können durch das Reglement der Pensionskasse bis zum Ende des Anspruchs auf Krankentaggelder nach KVG aufgeschoben werden. Das ist dann zulässig, wenn sich die Arbeitgeberin mindestens zur Hälfte an den Prämien für die Krankentaggeldversicherung beteiligt hat, und wenn das Taggeld mindestens 80% des Lohnes abdeckt (vgl. Art. 26 BVV2 i.V.m. Art. 26 Abs. 2 BVG). Das gilt gemäss Bundesgericht im Prinzip auch bei einem Anspruch auf Taggelder einer privatrechtlichen VVG-Taggeldversicherung.12 Wenn bei diesen Versicherungen aber eine versicherte Person in die Einzelversicherung übertritt, ist ein Leistungsaufschub der Renten der beruflichen Vorsorge nicht zulässig.13
Hingegen gilt bezüglich überobligatorischen Rentenleistungen der beruflichen Vorsorge, dass Kürzungen bzw. ein Aufschub sowohl für die berufliche Vorsorge als auch für das Krankentaggeld im Prinzip zulässig sind. Um Deckungslücken zu vermeiden, müssen aber die Pensionskasse und der private Krankentaggeldversicherer die Leistungen gemäss dem Anteil am Gesamtbetrag übernehmen.14 In der Praxis machen diese Regeln erhebliche Probleme, weil sich insbesondere die Pensionskassen reglementarisch nicht unbedingt freiwillig an diese Gerichtspraxis halten und die Versicherten gegen beide Versicherungen vorgehen müss(t)en.
Praxisfrage 7
Inwieweit dürfen Krankentaggeldversicherungen nach VVG Taggelder wegen Überentschädigung kürzen und was ist dabei zu beachten?
Überentschädigungskürzungen kommen in diversen Konstellationen vor, etwa wenn
- gleichzeitig ALV-Taggelder als Vorleistung gewährt werden
- gleichzeitig IV-Taggelder gewährt werden
- Leistungen der Unfallversicherung oder anderer Krankentaggeldversicherungen ausgerichtet werden
- Nachzahlungen von Renten der Unfallversicherung, der beruflichen Vorsorge und insbesondere der Invalidenversicherung angerechnet werden
Die Auslegung der Bestimmungen in den AVB zur Überentschädigung kann schwierig sein. Dabei gilt vor allem auch, dass unklare Regeln zu Gunsten der Versicherten auszulegen sind.
Im Zweifelsfall empfiehlt sich für Beratungspersonen,
- im ersten Schritt die AVB einzuverlangen und selber zu prüfen, sowie bei der koordinierenden/kürzenden Krankentaggeldversicherung um eine genaue schriftliche Erklärung und Begründung zu ersuchen.
- Im zweiten Schritt juristischen Rat zur Prüfung der Auskunft der koordinierenden Versicherung einzuholen. Eventuell können dazu auch die Ombudsstellen einbezogen werden.14
- Im dritten Schritt eine Einsprache (KVG-Taggeldversicherungen) oder eine Klage (VVG-Taggeldversicherungen) zu prüfen. Juristische Unterstützung ist dabei unabdingbar.
1 Für Selbständige, die für sich eine freiwillige Krankentaggeldversicherung abschliessen, gelten ähnliche Regeln, soweit sie eine Erwerbsausfallversicherung abschliessen (so genannte Schadenversicherung). Sollten sie aber eine bestimmte Summe versichern, können die Koordinationsregeln abweichen. Zur Reflexion der entsprechenden Regeln muss hier auf Spezialliteratur verwiesen werden. Vgl. insb. Häberli Christoph/Husmann David (2015). Krankentaggeld, versicherungs- und arbeitsrechtliche Aspekte. Stämpfli: Bern.
2 Vgl. Urteil 8C_705/2023 vom 18.06.2024 E. 6.3.2 und C 169 der AVIG-Praxis ALE (Stand 1.1.2025).
3 Vgl. zur Reduktion bei einem IV-Vorbescheid im Detail AVIG-Praxis ALE (Stand 1.1.2025), C 29 ff. Im Internet verfügbar unter https://www.arbeit.swiss/secoalv/de/home/service/publikationen/kreisschreiben---avig-praxis.html.
4 Vgl. BGE 141 III 241.
5 Vgl. dazu Audit-Letter 2/2014, S. 2; Im Internet verfügbar unter https://www.arbeit.swiss/secoalv/de/home/service/publikationen/audit-letter.html
6 Im Internet verfügbar unter https://www.svv.ch/de/branche/regelwerke/abkommen-zur-vorleistungspflicht-der-krankenversicherung.
7 Siehe hierzu vertiefend Häberli Christoph/Husmann David (2015). Krankentaggeld, versicherungs- und arbeitsrechtliche Aspekte. Stämpfli: Bern.
8 Sollten die beiden Versicherungen nicht den Erwerbsausfall versichern, sondern eine bestimmte Summe vorsehen (so genannte Summenversicherungen, wie sie insbesondere bei Selbständigen vorkommen) so sind die Leistungen im Prinzip ohne Kürzung zu koordinieren.
9 Vgl. dazu en détail Kreisschreiben Taggelder der Invalidenversicherung (Stand 1.1.2025), Rz. 101 ff. Im Internet verfügbar unter: https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6438/download
10 Vgl. Art. 22 Abs. 2 lit. b ATSG; für die IV auch Art. 85bis IVV; siehe dazu BGE 136 V 381.
11 BGE 128 V 243.
12 BGer C_1026/2008 vom 24.8.2009.
13 BGE 128 V 243.
14 Ombudsstelle Krankenversicherung bei VVG- oder KVG-Krankentaggeldversicherungen, die von Krankenkassen angeboten werden (Im Internet verfügbar unter https://om-kv.ch); Ombudsstelle Privatversicherungen bei VVG-Krankentaggeldversicherungen, die von Privatversicherungen angeboten werden (Im Internet verfügbar unter https://versicherungsombudsman.ch/).