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Krankentaggeldversicherung Teil 3: Anspruchsvoraussetzungen, Pflichten und Versicherungsschutz

06.03.2025 - 58 Min. Lesezeit

Peter Mösch Payo

Peter Mösch Payot

Co-Präsident und verantwortlicher Experte Rechtsberatung

Eine Person sitzt im Rollstuhl vor einer Glasfront und schaut hinaus.

Bei KTG-Leistungen ist die wichtigste Frage, ob eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Sie ist die Voraussetzung, damit jemand überhaupt Taggelder erhält. Mit der Anspruchsberechtigung sind aber auch Pflichten verbunden. Was Sozialberatende dazu wissen müssen, und wie es um den sozialrechtlichen Versicherungsschutz während des KTG-Bezugs steht, erörtert dieser Beitrag.

Dreiteilige Serie zur Krankentaggeldversicherung

Im ersten Teil hat unser Sozialrechtsexperte Peter Mösch Payot die Grundlagen zu Ansprüchen und Leistungen, den Zusammenhang mit Lohnansprüchen nach dem Arbeitsrecht und die Möglichkeit des Übertritts in eine Einzelversicherung nach Beendigung der Anstellung dargestellt.


Dieser Fokusartikel befasst sich mit drei Fragestellungen rund um Krankentaggeldleistungen, die in der Sozialberatung von Bedeutung sind:

  • Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Bezug von Krankentaggeldern
  • Schadenminderungspflichten der Versicherten, insbesondere bei längerfristiger Erkrankung
  • Versicherungsschutz während des Bezuges von Krankentaggeldern

Die Ausführungen beziehen sich auf Taggelder, wie sie üblicherweise bei kollektiven Krankentaggeldversicherungen abgesichert werden.1

Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für Krankentaggelder

Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist in Art. 6 ATSG definiert:

Arbeitsunfähigkeit liegt vor bei einer Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die sich auf die Fähigkeit auswirkt, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten.

Bei «langer Dauer» (bei KVG-Taggeldversicherungen ab ca. sechs Monaten; bei VVG-Taggeldversicherungen häufig schon ab drei bis fünf Monaten) wird auch eine zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt.

Die Arbeitsunfähigkeit in diesem Sinn ist im Sozialversicherungsrecht von grösster Bedeutung, weil sie wichtig für die Bestimmung diverser Ansprüche ist:

  • In der Unfallversicherung ist sie dafür ausschlaggebend, ob Taggelder gewährt werden.
  • In der IV ist sie Voraussetzung für diverse Eingliederungsmassnahmen2 und eine der Voraussetzungen für die Rente3.
  • Wichtig ist der Begriff aber ebenso in der Arbeitslosenversicherung, weil dort bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit Leistungen gewährt werden können, und weil die Arbeitsunfähigkeit der Vermittlungsfähigkeit entgegenstehen kann (vgl. Ausführungen Teil 2).
  • In der beruflichen Vorsorge spielt die Arbeitsunfähigkeit eine Rolle bei der Frage, ob die invalidisierende Gesundheitsschädigung ihren Anfang genommen hat als (noch) eine Versicherungsunterstellung bestand, was für die Leistungspflicht der Pensionskasse matchentscheidend ist (Art. 23 BVG).

Ebenfalls ist die Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG eine Anspruchsvoraussetzung für Leistungen der Krankentaggeldversicherung nach KVG (Art. 72 Abs. 2 KVG).

Arbeitsunfähigkeit bei KTG nach VVG

Wie in Teil 1 dieser Serie dargestellt, sind die meisten der Krankentaggeldversicherungen solche nach Privatrecht, also nach Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Bei diesen ist die Arbeitsunfähigkeit nicht direkt aus Art. 6 ATSG ableitbar. Aber in den meisten Fällen nehmen die Allgemeinen Vertragsbedingungen (AVB) der Krankentaggeldversicherungen nach VVG auf diesen Begriff der Arbeitsunfähigkeit Bezug oder umschreiben sie in ähnlicher Weise.

Im Kern ist eine Arbeitsunfähigkeit dann gegeben, wenn eine Einbusse des funktionellen Leistungsvermögens im bisherigen Beruf besteht.4 Der Grad der Arbeitsunfähigkeit gibt dabei an, in welchem Umfang die betroffene Person aus krankheitsbedingten Gründen nicht (mehr) nutzbringend tätig sein kann.

Als Beispiel: 60% Arbeitsunfähigkeit bedeutet, dass man in der vorgegebenen Zeit der Anstellung noch zu 40% nutzbringend sein kann. Das kann sachlich bedeuten, dass die bisherigen Tätigkeiten noch zu 40% möglich sind, oder zeitlich, dass in der vorgesehenen Zeit noch 40% der Leistung erbracht werden kann. Häufig kombinieren sich die sachliche und zeitliche Komponente der Arbeitsunfähigkeit.

Eine Arbeitsunfähigkeit kann auch vorliegen, wenn die Tätigkeit zwar möglich, aber nicht mehr zumutbar ist, etwa wegen einer erheblichen Gefahr, dass die weitere Tätigkeit den Gesundheitszustand verschlimmern würde.5 Bei kollektiven Krankentaggeldversicherungen nach VVG führt Arbeitsunfähigkeit in der Regel nur dann zu einer Leistung, wenn die Erkrankung einen Erwerbsausfall, also einen Lohnverlust, zur Folge hat.6 Bei Krankentaggeldversicherungen nach KVG muss dabei für Leistungen eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50% vorliegen.7 Bei Taggeldversicherungen nach VVG kann auch ein Ausfall zu einem tieferen Grad versichert sein, je nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen.

Beweis der Arbeitsunfähigkeit

Die Arbeitsunfähigkeit ist eine Voraussetzung für die Leistungen der KTV.8 Dabei gilt für das Privatrecht, dass immer die Person die entsprechenden Tatsachen beweisen muss, welche daraus Rechte ableitet (Art. 8 ZGB). Bei Sozialversicherungen wie der Krankenversicherung nach KVG muss jedoch der Versicherungsträger abklären, ob die Voraussetzungen für den Anspruch vorliegen (Art. 43 ATSG), wobei die versicherte Person eine Mitwirkungspflicht hat und sich den entsprechenden Abklärungen unterziehen muss (Art. 28 ATSG).

Wenn jedoch die Arbeitsunfähigkeit nicht genügend belegt werden kann, trägt immer die betroffene Person die Folgen, weil dann der Anspruch nicht (mehr) besteht. Bei KTV nach VVG sind die entsprechenden Abklärungsinstrumente und die dazugehörigen Verpflichtungen der Versicherten häufig auch in den Allgemeinen Vertragsbedingungen (AVB) beschrieben.

Das zentrale Beweismittel einer Arbeitsunfähigkeit ist ein entsprechendes ärztliches Zeugnis. Dabei dürfen Krankentaggeldversicherungen, sowohl nach KVG als auch nach VVG, detaillierte Arztzeugnisse verlangen, welche aussagekräftigere Auskunft über die noch bestehende funktionale Arbeitsfähigkeit geben (siehe dazu etwa die Vorlagen von Swiss Insurance Medicine). Ein solches Zeugnis sollte die Modalitäten der Untersuchung und Behandlung umschreiben. Es beinhaltet im Idealfall die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auf der Basis eines Arbeitsplatzbeschriebes und kann dadurch einen stärken Beweiswert haben als ein simples Arztzeugnis.

Versichernde können zusätzlich ärztliche Berichte einholen. Solche beinhalten zusätzlich zum (detaillierten) Arztzeugnis Hinweise zur Krankengeschichte und eine summarisch begründete Diagnose. Oftmals werden auch Angaben gemacht, welche die Zumutbarkeit einer Tätigkeit bestimmen lassen.

Bei längeren Arbeitsunfähigkeiten wird von versicherten Personen im Sinne der Mitwirkungspflicht oft verlangt, sich einer vertrauensärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Bei VVG-Versicherungen sind die entsprechenden Pflichten in den AVB geregelt. Dabei müssen sich die Informationen, welche die untersuchende Arztperson der Versicherung weitergibt, auf dasjenige beschränken, was zur Prüfung des Anspruchs notwendig ist.

Einschränkungen der Leistungen durch Vorbehalte

Grundsätzlich gilt ein Anspruch unabhängig davon, welche Erkrankung Grund für die Arbeitsunfähigkeit ist. Die Krankentaggeldversicherungen können aber generell in den Versicherungsbedingungen (AVB) oder konkret für die*den Antragsteller*in eine Gesundheitsprüfung vorsehen und Gesundheitsvorbehalte anbringen.

Oft werden etwa vorbestehende Leiden vom Versicherungsschutz ausgenommen. Manchmal wird in den AVB für bestimmte (z.B. psychische) Erkrankungen ein genereller Vorbehalt vorgesehen. Es können zudem so genannte arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeiten von der Leistungspflicht ausgenommen sein (siehe unten).

Ansprüche auf Krankentaggelder bei arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeiten

In der Praxis stellt sich seit einigen Jahren die Frage, ob für Krankentaggeldversicherungen nach KVG oder VVG auch bei der so genannten arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit eine Leistungspflicht besteht.10 Dabei geht es um Fälle psychischer Belastung, insbesondere bei Konfliktsituationen, Mobbing oder Stress, wo sich die Arbeitsverhinderung auf die konkrete Stelle bezieht und im Übrigen keine oder kaum Einschränkungen für eine Arbeitstätigkeit bestehen.

Bei KVG-Taggeldversicherungen gilt im Prinzip ein Anspruch, weil Art. 72 Abs. 2 KVG und Art. 6 ATSG erfüllt sind und eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit also ein versichertes Ereignis darstellt.

Bei den viel häufiger vorkommenden VVG-Versicherungen gilt grundsätzlich, dass bei Arbeitsunfähigkeit auch dann ein Anspruch besteht, wenn diese arbeitsplatzbezogen ist. Ausnahmen können bestehen, wenn die Vertragsbedingungen (AVB) die arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeiten ausschliessen.11 Das ist in der Praxis der Entwicklung der Versicherungsbedingungen zunehmend der Fall, weil das Bundesgericht für diese Fälle bei der verwandten Frage des zeitlichen Kündigungsschutzes (Sperrfrist bei Arbeitsunfähigkeit) den Schutz der Arbeitnehmenden in seiner Rechtsprechung stark gelockert hat. Das hat möglich gemacht, dass eine Kündigung in vielen Fällen ohne Abwarten der Sperrfrist möglich ist, wenn die Arbeitsunfähigkeit wirklich nur arbeitsplatzbezogen ist.12 Zu prüfen sind die gleichen Regeln wie bei anderen Ausschlüssen.

Schadenminderung

Bei Krankentaggeldversicherungen nach KVG ist gemäss Art. 21 Abs. 1 ATSG zu beachten, dass Leistungen in zwei Fällen gekürzt oder verweigert werden können: Erstens, wenn der Versicherungsfall (also die Arbeitsunfähigkeit) bei der Ausübung eines Vergehens oder eines Verbrechens herbeigeführt oder verschlimmert wurde. Zweitens, wenn die Arbeitsunfähigkeit vorsätzlich selbst herbeigeführt wurde.

Bei längerer Dauer (in der Praxis sind ca. sechs Monate gemeint) liegt eine Arbeitsunfähigkeit nur noch vor, wenn sie nicht mehr nur für den bisherigen Arbeitsplatz besteht, sondern auch weitere zumutbare Tätigkeiten, so genannte Verweistätigkeiten, betrifft. Bei langer Dauer der Erkrankung ist nämlich gemäss Art. 6 Abs. 2 ATSG eine Arbeitsunfähigkeit nicht mehr gegeben, wenn nur die bisherige Tätigkeit funktional ausgeschlossen oder beschränkt wäre, eine Verweistätigkeit aber möglich und zumutbar ist.13

Bei den Krankentaggeldversicherungen nach VVG geht die so genannte Schadenminderungspflicht weiter, wobei die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) zu beachten sind. Dazu gehört oft, dass sich die Betroffenen bei der ALV oder der IV anmelden, oder dass sie zumutbare medizinische Behandlungen oder Eingliederungsmassnahmen, etwa der IV, auf sich nehmen. Bei Verletzungen dieser Bedingungen können die Leistungen gekürzt oder eingestellt werden.

VVG-Taggeldversichernde dürfen bei einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit überdies in Anwendung von Art. 61 VVG eine angemessene Frist von ca. drei bis fünf Monaten ansetzen, innert welcher ein Stellenwechsel bzw. ein Berufswechsel zu erfolgen habe, und gleichzeitig die Leistungseinstellung androhen.14 Eine längerfristige Arbeitsunfähigkeit ist nur versichert, wenn auch andere Tätigkeiten und Berufe nicht mehr möglich oder zumutbar sind.

Zu beachten sind aber die Rahmenbedingungen der Schadenminderung. Die entsprechenden Verweistätigkeiten müssen medizinisch und tatsächlich möglich, realisierbar und zumutbar sein, damit die Arbeitsunfähigkeit für die Zukunft abgelehnt und die Leistungen eingestellt werden können.

Praxisfrage 8

Was sollten Beratungspersonen prüfen, wenn eine KTV bei längerer Erkrankung eine Arbeitsfähigkeit in Verweistätigkeiten behauptet und die Leistungen einstellt?

Praxisfrage 9

Wie können Beratungspersonen zur Wahrnehmung des Rechtsschutzes vorgehen, insbesondere auch bei VVG-Krankentaggeldversicherungen?

Versicherungsschutz während des Bezuges von Krankentaggeldern

Wenn eine Person Krankentaggelder bezieht, stellt sich die Frage, ob sie während der Zeit des Bezuges Beiträge an die Sozialversicherungen bezahlen muss und entsprechend vom Versicherungsschutz profitiert. Die Antwort ist je nach Sozialversicherung verschieden.

AHV/IV/EO

Auf Krankentaggeldern werden keine Beiträge erhoben (Art. 6 Abs. 2 lit. b AHVV). Anders sieht es aus für Lohnersatzleistungen der Arbeitgebenden. Auf diese werden dieselben Abzüge wie auf einen Lohn erhoben.

ALV

Auf Krankentaggeldern werden keine ALV-Abzüge vorgenommen. Aber solange das Arbeitsverhältnis besteht, wird die Zeit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Beitragszeit angerechnet, unabhängig davon, ob Krankentaggelder gewährt werden (Art. 13 Abs. 2 lit. c AVIG). Hingegen sind Krankentaggelder während der Zeit, in der kein Arbeitsverhältnis besteht, nicht beitragswirksam.

UVG

Für die Unfallversicherung werden während des Bezuges keine Prämienbeiträge erhoben. Ein Versicherungsschutz ist gegeben, solange ein Anspruch auf mindestens die Hälfte des Lohnes besteht. Allfällige Krankentaggelder werden dabei als Bestandteil dem Lohn angerechnet (Art. 7 Abs. 1 lit. b UVV).

BVG

Krankentaggelder gelten nicht als versicherter Lohn. Solange aber ein Arbeitsverhältnis noch besteht und eine Lohnfortzahlungspflicht nach OR bestehen würde (Art. 8 Abs. 3 BVG), ist der Lohn weiterhin versichert.

Familienzulagen

Grundsätzlich ist der Anspruch auf Familienzulagen an den Lohnanspruch und das Arbeitsverhältnis gekoppelt (Art. 13 Abs. 1 FamZG). Bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit und einem Erlöschen des Lohnanspruchs bleibt aber der Anspruch auch bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den laufenden und drei weitere Monate bestehen (Art. 10 FamZV).21

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