«Nicht über uns - mit uns!» - Arbeit mit Netzwerken im Kindesschutz
Kinder bei der Planung von Kindesschutzmassnahmen zu beteiligen, ist ein wichtiges und anerkanntes Anliegen. Die praktische Umsetzung hingegen ist herausfordernd, und oft fehlen entsprechende Werkzeuge. Das Modell signs of safety® bietet einen innovativen Ansatz dazu.
Passanten am Flussufer einer Schweizer Kleinstadt alarmieren die Polizei. Ihnen ist eine Frau mit zwei Kindern, ein und vier Jahre alt, aufgefallen. Die junge Frau ist sichtlich schwer betrunken. Die Kinder spielen unmittelbar am fliessenden Gewässer. In der Folge des Polizeieinsatzes werden die Kinder vorübergehend bei der Grossmutter und dem Vater untergebracht. Die Mutter wird zum freiwilligen Alkoholentzug in eine Klinik eingewiesen.
Die KESB erteilt der zuständigen Kindesschutzstelle den Abklärungsauftrag. Es gilt zu klären, ob die beiden Kinder in der Obhut der Mutter verbleiben können oder ob eine Fremdplatzierung zur Sicherung des Kindeswohles angezeigt ist.
Erste Abklärungen zeigten, dass ein dauernder Verbleib der Kinder bei der Grossmutter oder beim Vater nicht möglich ist. Der Alkoholabusus der Mutter erwies sich als schwerwiegend und - bezogen auf die Gefährdung des Kindeswohles - zentral.
Die Durchführung von Kindesschutzmassnahmen, die ausschliesslich von Fachpersonen abgewickelt werden, generieren nicht selten unbefriedigende Resultate. Da die Fachpersonen ausserhalb der Bürozeiten kaum erreichbar sind, werden Notfallsituationen oft über Pikettdienste der KESB bearbeitet. Diese Einsätze bringen gezwungenermassen Administrativentscheide hervor, welche unter Einbezug des familiären Netzwerkes kindgerechter hätten gelöst werden können. Studien belegen, dass sich betroffene Kinder bei behördlichen Entscheiden nicht einbezogen fühlen. Sie geben vielfach an, nicht zu verstehen, wie Massnahmen entstanden sind. Die Kinder werden aus ihrem gewohnten und vertrauten Umfeld gerissen, sind verunsichert und werden in ihrer persönlichen Handlungsfähigkeit beschnitten. An dieser defizitären Praxis setzt das Modell signs of safety® an.
Methodische Instrumente und Vorgehen
Eine Kindesschutzintervention nach signs of safety® beginnt mit dem Aufbau des Netzwerkes rund um die betroffene Familie. Familienangehörige und weitere nahestehende Personen zeigen sich oft bereit, gefährdete Kinder zeitweilig bei sich aufzunehmen und für sie zu sorgen. Gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten und den Kindern wird mittels Genogrammen ein informiertes verbindliches Netzwerk, bestehend aus Angehörigen, Freunden und Bekannten, aufgebaut. Diese Personen sind Teile eines (Sicherheits-)Netzwerkes, welches für die betroffene Familie rund um die Uhr verfügbar ist. Notfallsituationen können dadurch rasch erfasst werden. Die Kinder bleiben im Fokus der Aufmerksamkeit.
Die Situation erfassen die Erziehungsberechtigten unter Moderation der abklärenden Fachperson anhand der 3-Spalten-Methode.
Die betroffenen Kinder geben die erlebte Situation unter Anleitung der abklärenden Fachperson mittels der 3-Häuser-Methode wieder.
Auf Grund der vorliegenden Informationen wird ein Schadensstatement formuliert. Dieses beinhaltet sämtliche Fakten der vorliegenden Kindeswohlgefährdung und gibt den entstandenen Schaden unbeschönigt und konkret wieder. Das Schadensstatement wird allen Personen des Netzwerkes kommuniziert. Aus dem Schadensstatement resultieren Sicherheitsziele. Diese werden mit den Erziehungsberechtigten und den Kindern erarbeitet und in einem Sicherheitsplan festgehalten. Parallel dazu werden die Betroffenen im Aufbau ihrer Arbeitsbeziehungen zu ihrem Netzwerk unterstützt und angeleitet. An dieser Stelle werden die konkreten Aufgaben innerhalb des Netzwerkes verteilt. Dabei übernehmen die einzelnen Personen ausschliesslich Aufgaben, welche sie gut leisten können und wollen. Am Ende des ersten Interventionszyklus bilden sich die Massnahmen in Form des Sicherheitshauses ab.
Die Mutter erklärt sich noch während des Klinikaufenthaltes zur Kooperation mit der Fachperson bereit. Sie ist mit dem Vorgehen nach signs of safety® einverstanden. Im Zuge der Intervention wird das Genogramm erarbeitet. Das Netzwerk, bestehend aus Grosseltern, Kindesvater, Freundinnen und Nachbarn, wird auf dessen Bereitschaft zur Zusammenarbeit abgefragt. Ein erstes Sicherheitsziel ist, dass die Besuche der Kinder bei der Mutter durch Personen des Netzwerkes begleitet werden. Es werden Notfall-Personen definiert, welche es bei erneutem Alkoholkonsum der Mutter zu kontaktieren gilt. Detaillierte Betreuungspläne werden erarbeitet und durch Personen des Netzwerkes umgesetzt. Der Sicherheitsplan wird der zuständigen KESB zur Genehmigung vorgelegt. Er wird mit allen Beteiligten in regelmässigen Abständen überprüft und gegebenenfalls angepasst. Trotz der unmittelbaren Kindeswohlgefährdung kann eine Fremdplatzierung der Kinder abgewendet werden. Die Kinder können in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Sie werden gehört, befinden sich in Sicherheit und können sich auf die vereinbarten Verbindlichkeiten verlassen.
Gemeinsame Erzählung stärkt Beziehungen
Der gewonnene Mehrwert durch das Interventionsmodell von signs of safety® ist für die Familie – und für die darauffolgende Mandatsführung der Beistandspersonen – beachtlich. Die Geschehnisse und Umstände, welche zu einer Gefährdung führten, werden mittels Words and Pictures durch die Erwachsenen gemeinsam dokumentiert. Es werden sehr einfache Sätze und Zeichnungen wie beispielsweise das «Sicherheitshaus» verwendet. Die abklärende Fachperson unterstützt die Eltern hierbei. Das Ziel ist eine gemeinsame Erzählung der erlebten Geschichte für die Kinder. Es unterstützt jedoch die gesamte Familie in der Erfassung des Geschehenen und miteinander darüber zu sprechen.
Ergebnis des Prozesses ist ein gemeinsames Buch mit vielen bunten Seiten, Zeichnungen, Bilden, Collagen und einfachen Sätzen, welches die Geschehnisse aus gemeinsamer Sicht der Eltern und Kinder wiedergibt. Das Buch gehört ausschliesslich der Familie und bleibt allen Betroffenen jederzeit zugänglich.
Stimme der Kinder im Zentrum
Die Arbeit nach signs of safety® setzt eine neugierige, radikal wertschätzenden Haltung voraus. Die Maxime, dass die Stimmen der Kinder aufgenommen werden müssen und Kinder primär zu ihrer Familie gehören, muss den gesamten Prozess über gewahrt sein. Im Kindesschutz wird viel davon gesprochen, die Kinder am Prozess verstärkt zu beteiligen. Die Absicht scheitert oft daran, dass griffige Instrumente und praktische Anleitungen zur Beteiligung der Kinder fehlen. signs of safety® bietet dazu ein breites, praxisorientiertes Spektrum an einsetzbaren Instrumenten.
Die Autorin
ESTHER LEHNER
Sozialarbeiterin FH, Projektleiterin sikokids, Hardstrasse 4, 4127 Birsfelden
lehner@bohren-lehner.ch , Telefon 061 921 35 27
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