Wie innovativ ist der Sozialbereich?
Krisen, wie wir sie mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie erleben, bieten jeweils einen Anstoss für Wandel. Doch hat die Krise im Sozialbereich zu echten Innovationen geführt? Dieser Beitrag macht eine Einordnung und erörtert die Bedingungen, die für Innovation erforderlich sind.
Wir haben in den letzten beiden Jahren erlebt, wie Bildungsinstitutionen rasch auf Distance Learning umstellen und Unternehmen ihre Aktivitäten ins Home-Office verlegen mussten, aus Restaurants wurden Takeaways, Konzerte verlagerten sich in den digitalen Raum. Der Sozialbereich blieb von diesen Entwicklungen nicht verschont und musste sich ebenfalls anpassen. Wie sind die Innovationen aus dem Sozialbereich einzuschätzen?
Was bedeutet «Innovation»?
In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass eine Innovation zumindest zwei Eigenschaften erfüllen muss: Erstens gelten innovative und kreative Ideen an sich noch nicht als Innovation. Um als Innovation zu gelten, muss die Idee umgesetzt worden sein. Bei einer Innovation handelt es sich also immer um bereits implementierte Neuerungen. Zweitens muss die Neuerung oder soziale Handlungsweise zumindest für das betrachtete System als Neuerung wahrgenommen werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass eine Innovation nicht immer eine Neuerung darstellen muss, die es zuvor auf der Welt noch nie gegeben hat. Es reicht aus, wenn die Neuerung für den betroffenen Bereich als neu empfunden wird. So wurden Chatbots in der Privatwirtschaft schon länger eingeführt. Wird ein solcher im Sozialbereich eingeführt, so kann dies als Innovation bezeichnet werden. Auch die Nachahmung innerhalb eines Bereichs gilt als Innovation. Führt eine Organisation Chatbots erfolgreich ein, kann dies für andere Organisationen durchaus sinnvoll sein, auch einen Chatbot einzuführen.
Inkrementeller Wandel: eine bestehende Lösung wird nicht grundlegend verändert, sondern lediglich schrittweise verbessert, indem auf das Bestehende aufgebaut wird
Radikaler / disruptiver Wandel: völlige Umstrukturierung einer bisherigen Lösung durch einen ganz neuen Denk- und Problemlösungsansatz.
Gerade im öffentlichen Sektor machen Nachahmungen den Grossteil der Innovationen aus. Ein Blick auf die Innovationslandschaft in Dänemark, eines der fortschrittlichsten Länder in Sachen Innovation im öffentlichen Sektor, zeigt, dass es sich bei 72% der Innovationen um Lösungen handelt, die von Lösungen in anderen Bereichen entweder inspiriert und adaptiert oder kopiert wurden (COI und OPSI 2021).
Uneinigkeit besteht in der Frage, ob eine Innovation eine radikale Veränderung herbeiführen muss oder ob auch inkrementeller Wandel als Innovation gelten kann. Dabei liegt die Schwierigkeit darin, einzuschätzen, ab wann eine Veränderung als radikal bzw. disruptiv eingestuft werden kann. Für das Observatorium für Innovation im öffentlichen Sektor der OECD (Observatory of Public Sector Innovation, OPSI), sind sowohl inkrementelle wie auch disruptiv Veränderungen notwendig, um den Staat fit für die Zukunft zu gestalten.
GASTAUTORIN: ANGELINA DUNGGA
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Public Sector Transformation, Berner Fachhochschule (BFH)
Webseite: Institut Public Sector Transformation | BFH Wirtschaft
Systematik der Innovationstypen: Das Facetten-Modell
Das OPSI teilt Innovationen anhand eines Facettenmodells in vier verschiedene Typen ein. Neuerungen, mit denen ein bestehendes System optimiert werden soll, werden gemäss diesem Modell als verbesserungsorientierte Innovationen («enhancement-oriented innovation») bezeichnet. Nehmen wir als Beispiel die App NoA-Coach der Gesundheitsförderungen Schweiz. Hier unterstützt eine Smartphone-App die ambulante Suchtberatung mittels eines digitalen Selbstmanagement-Assistenten. Ziel ist es, die Zahl der Behandlungsabbrüche und der Rückfälle zu reduzieren sowie die Beratungsergebnisse zu verbessern. Es geht also darum, die Effizienz und Effektivität einer bestehenden Lösung, der Suchtberatung, zu verbessern. Die damit einhergehende Veränderung wird als inkrementell gesehen. Das bedeutet, dass das bestehende System der ambulanten Beratung nicht an sich hinterfragt oder grundlegend verändert, sondern lediglich schrittweise verbessert wird, indem auf das Bestehende aufgebaut wird. Somit wird mit der Neuerung das bestehende System gestützt und erhalten. Die Treiber für diese Art von Veränderungen sind bereits omnipräsent. Verbesserungsorientierte Innovationen werden hauptsächlich durch Sparmassnahmen, durch das Leistungsdenken, das dem New Public Management (NPM) entspringt, sowie durch das Vorhandensein neuer technologischer Möglichkeiten getrieben.
Neurungen, die den Status Quo hinterfragen, werden als adaptive Innovationen («adaptive innovation») bezeichnet. Als Beispiel für eine solche Innovation kann der Chat mit Gleichaltrigen der Pro Juventute angeführt werden. Bei dieser Lösung wird Peer-Support als neuer Beratungsansatz eingeführt (sozialinfo.ch 2021): Jugendliche werden per Chat von ihren Peers beraten. So können sich beratende und hilfesuchende Personen auf Augenhöhe begegnen. Diese Neuerung kann als leicht systemkritischer betrachtet werden, da die verbreitete Fachperson-Klient*in-Beziehung ein Stück weit aufgebrochen wird. Es wurde eine Neuerung als Antwort auf die Frage entwickelt, wie die Beratungsleistung unter Berücksichtigung des heutigen Wissensstandes und den neuen technologischen Möglichkeiten sinnvoll gestaltet werden könnte.
In der Praxis fällt es schwer die Grenze zwischen verbesserungsorientierter und adaptiver Innovation zu ziehen. Adaptive Innovationen weisen jedoch einen höheren experimentellen Charakter auf, weil die Lösung zwar auf Bestehendem aufbaut, trotzdem jedoch mit gewissen Unsicherheiten arbeitet, da sie Erprobtes teilweise wesentlich verändert. Adaptive Innovationen entstehen oft Bottom-Up, als Reaktion auf Erfahrungen im Feld. Je grösser die Ungewissheit, umso stärker wird der explorative Charakter und umso radikaler kann die Veränderung ausfallen.
Werden für die Entwicklung der Neuerung noch die Erforschung möglicher Zukünfte einbezogen und bewegen wir uns in einem Themenbereich, der mit grossen Unsicherheiten behaftet ist, wie z.B. die Nutzung von künstlicher Intelligenz, und wir arbeiten vorausschauend (vorausschauende Innovation / «anticipatory innovation»).
Soll die Neuerung dem öffentlichen Sektor bzw. der Gesellschaft dazu verhelfen ein bestimmtes grösseres gesamtgesellschaftliches Ziel bzw. eine Mission zu erreichen, wie z.B. die Reduktion von CO2-Emissionen oder die Reduktion von Armut, so handelt es sich um missionsorientierte Innovation («mission-oriented innovation»). So verfügen wir in der Schweiz z.B. über eine Strategie Digitale Schweiz. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Innovationsfacetten wird in Abb. 1 übersichtlich illustriert.
Adaptive und vorausschauende Innovationen setzen Umdenken voraus
Gemäss dem Facettenmodell des OPSI entstehen disruptive Veränderungen an der Schwelle zwischen adaptiven und vorausschauenden Innovationen (Roberts, o.J.). Treiber für adaptive und vorausschauende Innovationen sind auf gesellschaftlicher, organisationaler wie auch individueller Ebene zu verorten. Damit jedoch adaptive Innovationen effektiv entstehen können, braucht es förderliche Bedingungen.
Die nachhaltige Förderung von adaptiven Innovationen erfordert ein stärkeres Umdenken und geeignete Strukturen und Methoden. Sie sind von einem Wandel weg vom New Public Management-Denken hin zu einem New Public Governance-Ansatz (NPG) gekennzeichnet (Torfing 20216). Eindrücklich wird diese neue Grundhaltung rund um die Aktivitäten von «Powercoders» gelebt. Powercoders ist eine Non-Profit-Organisation, die sich für die berufliche Integration von Flüchtlingen einsetzt. Sie arbeitet mit Staat und Wirtschaft zusammen, um Menschen mit Fluchthintergrund für die IT-Branche auszubilden und in Firmen zu platzieren. Alle Akteure begegnen sich hier auf Augenhöhe. Ihr Zusammenspiel baut jeweils auf die jeweiligen Interessen und Kapazitäten der Beteiligten. Dieser Ansatz überwindet herkömmliche Denkweisen, indem Flüchtlinge klar als Ressource und nicht als Last für die Gesellschaft gedacht werden und die Wirtschaft nicht erst nach Abschluss der Ausbildung einbezogen wird, sondern Teil der Lösung wird. Weiter konnte hier Bildung nicht als reine staatliche Aufgabe betrachtet, sondern es wurden sämtliche Akteure einbezogen, um einen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen.
Tatsächlich baut der New Public-Governance-Ansatz auf eine andere Grundeinstellung in Bezug auf den Markt und die Menschen. Der NPG-Ansatz basiert auf einem Bürgerkonzept, das Bürger*innen nicht mehr als Kund*innen, sondern als aktive und fähige Akteure wahrnimmt. Mitarbeitende des öffentlichen Sektors nehmen eine Rolle als Befähiger*innen von Bürger*innen ein und die Führungskräfte fokussieren auf Prozess und Wirkung statt auf Input- und Output. Analog werden auch Wirtschaftsakteure als Partner betrachtet. Diese Einstellung gründet auf der Einsicht, dass es die Ressourcen und Kapazitäten aller braucht, um geeignete Lösungen zu entwerfen und sie umzusetzen, aber auch um die Probleme zu erkennen und zu benennen.
Rasches Lernen und partizipative Führung als Grundpfeiler
Innovation kann überall entstehen. Sie kann von Staat, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft aus, aber auch von Mitarbeitenden, Führungskräften oder von Politiker*innen initiiert werden. Die Funktion oder organisationale Hierarchie ist dafür nicht ausschlaggebend. Tatsächlich wurden in 87% der Innovationen in Dänemark entweder von Mitarbeitenden initiiert oder getrieben (COI und OPSI 2021).
Damit Engagement entsteht, müssen die Mitarbeitenden auch befähigt werden. Es braucht eine Führung, die nicht mehr auf Leistungsprüfungen basiert, sondern auf Vertrauen. Es braucht auch eine Kultur, die es Mitarbeitenden erlaubt, sich neues Wissen über ihr Fachgebiet, aber auch über neue Technologien und über die Akteure in ihren Netzwerken stetig erweitern. Zu einer innovationsförderlichen Infrastruktur gehört zudem auch ein guter Informationsfluss sowie der gegenseitige Wissensaustausch dazu. Um kreativen Ideen nachzugehen, braucht es zudem Experimentierräume und Ressourcen, die es ermöglichen, neue Ideen auszutauschen und möglichst rasch umzusetzen und die Ergebnisse zu evaluieren. Es braucht Methoden und Tools, die das rasche Lernen unterstützen, wie z.B. Design Thinking und agiles Arbeiten. Es braucht Foren und Kanäle, die Lehren und Praktiken rund um Innovation teilen.
Digitale Transformation und Wandel können demnach am besten herbeigeführt werden, indem die Voraussetzungen für das Entstehen von Innovation geschaffen werden. In diesem Sinne wurde auch die Deklaration zu Innovation im öffentlichen Sektor formuliert, welches die Schweiz unterzeichnet hat.
Dungga A., Ferri C., Schmidt K., Neuroni A. (2020). Das Schaffen einer innovationsförderlichen Verwaltungskultur für die digitale Transformation. In: Stember J., Eixelsberger W., Spichiger A., Neuroni A., Habbel FR., Wundara M. (eds) Handbuch E-Government, pp 1-26. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21596-5_56-1
OECD-OPSI, Europäische Kommission (2021). Public Sector Innovation Facets. Mission-oriented Innovation. URL: OECD-Innovation-Facets-Brief-Mission-Oriented-Innovation-2021.pdf (oecd-opsi.org)
OECD-OPSI, Europäische Kommission (2021). Public Sector Innovation Facets. Enhancement-oriented Innovation. URL: Innovation-Facets-Brief-Enhancement-Oriented-Innovation-2021.pdf (oecd-opsi.org)
OECD-OPSI, Europäische Kommission (2021). Public Sector Innovation Facets. Adaptive Innovation. URL: OECD-Innovation-Facets-Brief-Adaptive-Innovation-2021.pdf (oecd-opsi.org)
OECD-OPSI, Europäische Kommission (2021). Public Sector Innovation Facets. Anticipatory Innovation. URL: OECD-Innovation-Facets-Brief-Anticipatory-Innovation-2021.pdf (oecd-opsi.org)
Buisman, Heather (2021, March 24th). Public sector innovation scan of Denmark. Paris: OPSI, OECD. https://oecd-opsi.org/public-sector-innovation-scan-of-denmark/
COI, OPSI (2021). Public Sector Innovation. Scan of Denmark. URL: Public-Sector-Innovation-Scan-of-Denmark.pdf (oecd-opsi.org)
Roberts, Alex (o.J.). Public Sector Innovation Facets. Blogbeitrag auf oecd-opsi.org. URL: Public Sector Innovation Facets - Observatory of Public Sector Innovation Observatory of Public Sector Innovation (oecd-opsi.org)
Torfing, Jacob (2016). Colllaborative Innovation in the Public Sector. Georgetown University Press.
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