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Sozialversicherungsdetektive – zwischen Vertrauensbildung und Persönlichkeits-verletzung

November 2018 / Lisa Stalder

Die Befürworter sehen es als Massnahme, die „Wildwuchs verhindern“ und „als letztes Mittel“ eingesetzt werden soll. Gegner sprechen indes von einem „starken Eingriff in die Privatsphäre“ und von einer „Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien“ – am 25. November wird über die das „Sozialdetektiv“-Gesetz abgestimmt. Ein Überblick.

Da ist beispielsweise der Inhaber eines Ladens im Kanton Bern. 2003 war er von einer Hebebühne fast sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Die Schweizerische Mobiliar als Unfallversicherung zahlte ihm in der Folge die Behandlungskosten sowie Taggelder aus. Im September stellte sie die Zahlungen gestützt auf den Bericht eines Privatdetektivs ein. Dieser hatte den Versicherten in der Zeit vom 7. Juli 2004 bis zum 12. August 2004, sowie vom 27. Januar bis zum 26. Februar 2007 an verschiedenen Tagen observiert. Das Ergebnis dieser Überwachung: Der angeblich Arbeitsunfähige war bis zu zwölf Stunden täglich in seinem Geschäft tätig.

Ähnlich ist der Fall einer Frau, die mit ihrem Velo in eine Autotür geknallt war. Sie behauptete, an einem Schleudertrauma zu leiden. Sie ging nicht mehr zur Arbeit und bezog zehn Jahre lang eine IV- und eine Suva-Rente von mehreren Hunderttausend Franken. Als sie eine Rentenerhöhung beantragte, wurden die Versicherer misstrauisch und liessen die Frau heimlich filmen. Auf den Aufnahmen ist die angeblich bettlägerige Frau beim Schleppen von Taschen, bei der Gartenarbeit und beim Schmücken vom Weihnachtsbaum zu sehen.

Zurzeit ist eine Mehrheit für das neue Gesetz

Eine Umfrage von Tamedia hatte Ende Oktober ergeben, dass sich derzeit 68 Prozent der Stimmberechtigten für Sozialdetektive aussprechen. Diese klare Zustimmung kommt aus dem Lager der bürgerlichen Anhänger mit Ja-Anteilen zwischen 73 und 86 Prozent. Skepsis herrscht hingegen bei den Wählerinnen und Wählern von SP und Grünen, welche das Gesetz mit 60 beziehungsweise 58 Prozent ablehnen. Eine effektive Bekämpfung des Missbrauchs sei im Sinn der ehrlichen Versicherten, die sonst unter Generalverdacht gestellt würden, führen die Befürworter der Vorlage als Hauptargument an. Das Gesetz verletze die Privatsphäre aller und sei eine Gefahr für den Rechtsstaat, argumentieren die Gegner primär.

Es sind Betrugsfälle wie diese, die die Versicherungen dazu bewegten, Versicherte überwachen zu lassen. Doch damit war im Oktober 2016 vorerst Schluss: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg kam damals zum Schluss, dass im Schweizer Sozialversicherungsrecht die Grundlage für solche Eingriffe in die Privatsphäre fehlten. Lediglich drei Wochen nach dem Urteil fasste die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit den Entschluss, die Gesetzesgrundlage nachzuliefern. Die Vorlage wurde knapp eineinhalb Jahre später vom Parlament verabschiedet. Am 25. November befindet nun die Schweizer Stimmbevölkerung über die Revision des Sozialversicherungsrechts. Dagegen hat ein Bürgerkomitee um die Schriftstellerin Sibylle Berg das Referendum ergriffen. Dies mit dem Argument, das Gesetz gehe zu weit und verletze die Privatsphäre. Zudem sei es „schludrig“ formuliert.

Betroffenenorganisationen sind entschieden gegen das neue Gesetz

Nicht nur den Mitgliedern des Referendumskomitees bereitet das neue Gesetz grosse Sorgen. Auch links-grüne Parteien, Gewerkschaften und Betroffenenorganisationen wehren sich gegen das Gesetz zur Überwachung von Versicherten. Missbrauch müsse zwar bekämpft werden, schreibt die Selbsthilfeorganisation Procap in ihrer Stellungnahme. Das Gesetz gehe aber zu weit. Procap kritisiert, dass das Gesetz „viel zu stark in die Privatsphäre eingreift, unverhältnismässig ist und rechtsstaatliche Prinzipien verletzt“. Die Fachorganisation Pro Infirmis kritisiert, dass mit dem neuen Versicherungsgesetz private Überwachungsfirmen mehr Rechte hätten als die Polizei, da es keinen richterlichen Beschluss mehr brauche, um jemanden in seiner privaten Umgebung zu überwachen. Auch Insieme Schweiz lehnt die Gesetzesänderung entschieden ab. Gegen Versicherungsmissbrauch seien Massnahmen zu treffen, welche die rechtsstaatlichen Prinzipien nicht verletzten. Das sei bei dieser Vorlage nicht gegeben. Besonders Menschen, die IV-Leistungen beziehen, würden durch das Gesetzt unter Generalverdacht des Versicherungsbetrugs gestellt, schreibt Insieme Schweiz. 

Ein Ja hat Folgen für die Sozialhilfe

Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) berät zwar vorwiegend Sozialhilfebezüger, ist aber auch ganz klar der Meinung: „Es braucht keine weiteren Rechtsgrundlagen, da verdeckte Observationen in den Aufgabenbereich der Polizei gehören und folglich im Rahmen der Strafprozessordnung zu erfolgen haben.“ Dies schreibt die UFS sozialinfo.ch auf Anfrage. Bei einer Annahme sei zu befürchten, dass dies „zusätzlichen Rückenwind für die Befürworter solcher Massnahmen in der Sozialhilfe“ geben würde. Es sei zu befürchten, dass dann weitere Gemeinden und Kantone sogenannte Rechtsgrundlagen erarbeiten würden, damit Mitarbeitende von Kantons- und Gemeindeverwaltungen sowie Privatdetektive Sozialhilfebeziehende verdeckt observieren dürfen.

Befürworter wollen Wildwuchs verhindern

Befürworter der Gesetzesänderung betonen hingegen, dass es bei der Abstimmung vom 25. November darum gehe, „in einem sehr sensiblen Bereich Wildwuchs zu verhindern“, wie BDP-Nationalrat Lorenz Hess sagt. Die Überwachung von Missbrauchsverdächtigen sei lediglich „ein letztes Mittel“ für Extremfälle. Auch Monika Dudle-Ammann, Präsidentin IV-Stellen-Konferenz, relativiert die Bedeutung von Observationen. Bei der Invalidenversicherung (IV) würden pro Jahr rund 77000 Fälle bearbeitet. Bei rund 2000 müsse man etwas genauer hinschauen. Insgesamt 240 Fälle würden schliesslich observiert, sagte sie gegenüber dem Schweizer Fernsehen.

Eine Erfahrung, die einen im Griff behält

Für manch einen Versicherten oder eine Versicherte ist dies nur ein kleiner Trost. Denn bereits der Gedanke daran, als Betrüger angesehen zu werden und allenfalls Versicherungsleistungen zu verlieren, kann für Betroffene fatale Folgen haben. Dies zeigte sich beispielsweise bei jener Frau, die sich bei der Stiftung Pro Mente Sana beraten liess. Sie wollte wissen, welche Konsequenzen ein Ja zur Gesetzesrevision haben könnte. Allein der Gedanke, dass sie oberwacht werden könnte, hat bei der Frau einen Rückfall ausgelöst, wie eine Sprecherin von Pro Mente Sana gegenüber sozialinfo.ch sagt. Auch sind Fälle von Menschen dokumentiert, die überwacht wurden und nun mit den Folgen dieser Überwachung zu kämpfen haben – auch dann, wenn ihre Renten nicht gestrichen wurden. Sie fühlen sich verfolgt, schauen sich stets um, um sicher zu sein, dass ihnen niemand folgt. Es sei, so sagt eine junge Frau, eine Erfahrung, die einen ein Leben lang im Griff behalten wird.

Komitee auch dank Social Media erfolgreich

Während an manchen Gesetzen über Jahre hinweg geschräubelt wird, ging es bei der Revision des Sozialversicherungsrechts ganz schnell. Im Oktober 2016 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schluss, dass im Schweizerischen Sozialversicherungsrecht eine klare gesetzliche Grundlage für die Observation von Personen fehlt, die mutmasslich Versicherungsmissbrauch betreiben. Lediglich drei Wochen nach dem Urteil fasste die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit den Entschluss, die Gesetzesgrundlage nachzuliefern. Die Vorlage wurde knapp eineinhalb Jahre später vom Parlament verabschiedet – und diese erfüllte fast alle Wünsche der Versicherungslobby. Die politische Linke, Behindertenorganisationen und Gewerkschaften verurteilten das unverhältnismässig strenge Gesetz zur Überwachung von Versicherten zwar, wollten jedoch kein Referendum ergreifen. Dies übernahm schliesslich eine Bürgerbewegung um die Schriftstellerin Sibylle Berg, den Anwalt Philip Stolkin und den Jungpolitiker Dimitri Rougy. So schnell wie das Gesetz von den Räten verabschiedet wurde, so schnell hatte das Referendumskomitee schliesslich die nötigen Unterschriften zusammen. In 62 Tagen kamen über 55‘000 Unterschriften zusammen. Damit wurde die gesetzte Maximalfrist um 38 Tage unterboten. Dieser Erfolg kam nicht zuletzt wegen einer starken Präsenz auf Social Media zustande. 


AvenirSocial und der VPOD mobilisieren gemeinsam gegen die willkürliche Überwachung von Versicherten

Am 25. November stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Sozialversicherten ab. AvenirSocial und der VPOD vertreten die Interessen der Fachpersonen der Sozialen Arbeit, welche in ihrer Arbeit direkt oder indirekt in Kontakt mit Sozialversicherungen und KlientInnen stehen, die Anspruch auf Leistungen haben. Die beiden Verbände sind höchst besorgt über die neuesten Resultate der Abstimmungsumfragen und kämpfen mit vereinten Kräften für ein NEIN zur willkürlichen Überwachung von Versicherten.Sozialmissbrauch schadet allen! (MM Schweizerischer Gewerbeverband)

Tages-Anzeiger

Wegen Überstunden wurde Heinz (60) heimlich überwacht

Ständiger Blick in den Rückspiegel: Wie es ist, vom Sozialdetektiv observiert zu werden. Rainer Deecke arbeitet in der Kanzlei «Schadenanwälte», er hat es oft mit verunfallten oder erkrankten Personen zu tun, die um eine Rente kämpfen. Auch mit solchen, die heimlich überwacht wurden. Zwei seiner Klienten wollen ihre Geschichte der Zeitung erzählen.Zum Thema: «Wer Angst vor Beschattung hat, verkriecht sich zu Hause» – Basler Psychiater warnt vor Sozialdetektiven (Tageswoche)

KRISO

Zur Verschärfung der Überwachung von Versicherten

Als kritische Sozialarbeitende unterstützen wir den Widerstand gegen Sozialdetektive und das Referendum gegen die „Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten“. Das Gesetz betrifft sowohl staatliche als auch private Versicherungen wie AHV, ALV, EL, IV, Krankenkassen, Unfallversicherungen etc. Es betrifft also potenziell alle von uns, in der Regel aber viele Personengruppen, die schon heute diskriminiert sind.


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