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Eine neue Kunst des Zusammenlebens entwickeln

Februar 2020

Soziale Probleme können immer weniger losgelöst von ökonomischen und ökologischen Fragen betrachtet werden. Neue Ansätze wie der „Konvivialismus“ sind auch für die Soziale Arbeit von Interesse.

Fortgesetztes wirtschaftliches Wachstum erscheint angesichts der heutigen globalen Probleme als Lösungsvorschlag von gestern. Denn die neoliberale Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat die sozialen Ungleichheiten sowohl innerhalb als auch zwischen den Nationen und Weltregionen verschärft. Der damit verbundene westliche Lebensstil hat zu einer zunehmenden Verflechtung von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen geführt. Die Klimaveränderungen zwingen immer mehr Menschen, ihre Heimat zu verlassen und Kriege werden in ärmeren Regionen der Welt auch im Namen des steigenden Ressourcenbedarfs des Westens geführt. Die dadurch verursachten Migrationsbewegungen stellen die Ankunftsstaaten vor  grosse soziale und politische Herausforderungen.

Je stärker die negativen Auswirkungen unserer globalisierten Wirtschaft zutage treten, desto stärker wird das Bedürfnis nach neuen Möglichkeiten, das Leben zu verstehen und zu organisieren. Immer mehr Menschen sorgen sich um die Zukunftsfähigkeit unseres Lebensstils und fragen sich, welches Erbe wir unseren nachfolgenden Generationen hinterlassen. Gleichzeit steigt das Interesse an Denkansätzen, die neue Formen von Ökologie, Nachhaltigkeit und Zusammenleben unterstützen.

Konvivialismus als Realutopie des Zusammenlebens

Ein bemerkenswerter Ansatz wurde unter dem Namen „Konvivialismus“ erarbeitet, abgeleitet vom lateinischen „con-vivere“ (zusammenleben). Es handelt sich dabei nicht um eine neue Theorie oder Philosophie, sondern um den Versuch einer Gruppe von Sozialwissenschaftler*innen und Intellektuellen verschiedener Denkrichtungen, gemeinsame Grundsätze zu entwickeln, die ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen. Bereits bestehende Initiativen und Bemühungen für eine nachhaltigere Lebensweise sollen dabei zusammengebracht und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Damit sind alle Arten von sozialen Bewegungen, NGOS, Kooperativen etc. gemeint.

Im „konvivialistischen Manifest“, das den Kernpunkt dieses Ansatzes bildet,  werden zwei gegenwärtig vorherrschende Ideologien benannt, die es zu überwinden gelte:

  • Der Primat des absoluten Vorrangs der ökonomischen Probleme vor allen anderen Problemen
  • Das Postulat des grenzenlosen Reichtums an natürlichen Ressourcen (und ihren Surrogaten)

Die Konvivialisten wenden sich damit explizit gegen das Prinzip des „Utilitarismus“, das heisst gegen die allgemeine Ökonomisierung der Welt und das einseitige Verständnis des Menschen als  „homo oeconomicus“. Davon ausgehend entwerfen sie eine Reihe von Überlegungen und Ansatzpunkten zu einer „sozialökologischen Transformation“ der Wachstumsgesellschaft. Die anzustrebende „Realutopie“ soll neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen, die die Würde der Menschen und unserer Lebensgrundlagen respektieren. Sie sollen eine fruchtbare Balance zwischen gemeinsamer Sozialität und Individuation sowie zwischen Konflikten und deren gemeinsamer Bewältigung fördern.

Konvivialismus und Soziale Arbeit

Das kurz gehaltene und gut zu lesende Manifest bietet auch für die Soziale Arbeit spannende Ansatzpunkte. Eine Absolventin der Fachhochschule Nordwestschweiz hat die Gemeinsamkeiten des konvivialistischen Ansatzes und der Sozialen Arbeit  in ihrer Bachelor-Arbeit herausgearbeitet und aufgezeigt, dass eine hohe gegenseitige Anschlussfähigkeit besteht. Durch ihren Bezug zur Lebenswelt Benachteiligter könnte sie der notwendigen gesellschaftlichen Transformationen wichtige Impulse liefern.  Die oft gewünschte Repolitisierung Sozialer Arbeit würde hier einen wirkungsvollen Ansatzpunkt finden. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die Soziale Arbeit  auf ihr Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession beruft, wodurch sich ihre Zuständigkeit vom konkreten „Fall“ bis auf die Weltgesellschaft als Ganze ausdehnen lässt.

Das konvivialistische Manifest

Für eine neue Kunst des Zusammenlebens

Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist auch absolut notwendig. Die globalen Probleme des Klimawandels, der Armut, sozialen Ungleichheit oder der Finanzkrise erfordern ein Umdenken und veränderte Formen des Zusammenlebens. Viele Bewegungen, Initiativen und Gruppierungen suchen aktuell schon nach alternativen Wegen. Ihnen allen gemeinsam ist das Streben nach einer neuen Kunst, miteinander zu leben (con-vivere). Konvivialismus bedeutet das Ausloten von Möglichkeiten, wie jenseits der Wachstumsgesellschaft ein Zusammenleben möglich sein kann, wie Sozialität, Konflikt und Individualität aufeinander bezogen werden und wie ökologisch und sozial nachhaltige Formen demokratischen Lebens ausschauen können.

Soziale Arbeit und ihr Beitrag zu einer konvivialen Welt

Am Beispiel des systemischen Menschenrechtsparadigmas

In der vorliegenden Bachelor Thesis wird das konvivialistische Manifest dargelegt. Es wird herausgearbeitet, worin die Bedrohungen der heutigen Zeit gesehen werden und welche Forderungen und Überlegungen darin aufgeführt sind. Zusätzlich wird die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession, ihr Menschen- und Gesellschaftsbild, die Problemdimension aus dieser Perspektive und die ethischen Grundprinzipien dieses systemischen Ansatzes aufgezeigt. Anhand von diesen zwei Bezügen soll beispielhaft erarbeitet werden, welche Aufgabe Soziale Arbeit hat, um gesellschaftlichen Herausforderungen der heutigen Zeit professionell und wirkungsvoll entgegenzutreten.

socialnet

Les convivialistes: Das konvivialistische Manifest

Rezension

Der Klimawandel und die Störung der Ökosysteme, die Gefahr einer Atomkatastrophe, die Verknappung der Energieressourcen, Arbeitslosigkeit und Armut, Hunger und Vertreibung, korrupte Regierungen und gewalttätige Mafiagruppen, Kriege und blinder Terrorismus: Wie können wir angesichts solcher Bedrohungen des Lebens auf dem Planeten Erde zu einer Vision des Zusammenlebens kommen, die von Menschen unterschiedlicher Weltanschauung oder Religion geteilt wird und die gleichzeitig zu praktischen Konsequenzen für ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Menschen und Gesellschaften führt?

Konvivialismus. Eine Debatte

Das »Konvivialistische Manifest« (2014 auf Deutsch erschienen) hat die globale Debatte um die Frage neu formatiert, wie wir das Zusammenleben angesichts von Klimakatastrophe und Finanzkrisen gestalten wollen und müssen. Die Beiträge dieses Bandes eröffnen nun die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen des Manifests im deutschsprachigen Raum: Wo liegen seine Stärken, wo die Schwächen? Was hiesse es, eine konviviale Gesellschaft anzustreben – in Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Wirtschaft?Welche neuen Formen des Zusammenlebens sind wünschenswert und welche Chancen bestehen, sie durchzusetzen?


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