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Zwei Jahrzehnte Sozialhilfeabbau

März 2021

In den vergangenen 20 Jahren wurde die Sozialhilfe systematisch ausgehöhlt, wie eine aktuelle Publikation detailliert aufzeigt. Es ist daher fraglich, ob das System noch genug Ressourcen hat, um die Folgen der Coronakrise aufzufangen. Das stärkt die Position derer, die es mit konkreten Reformvorschlägen gerechter und humaner gestalten wollen.

In einer von AvenirSocial herausgegebenen Publikation hat Véréna Keller, frühere Professorin für Soziale Arbeit in Lausanne, die Entwicklung der Sozialhilfe der vergangenen 20 Jahre dokumentiert.

Die Dokumentation listet politische Vorstösse und Entscheide zwischen 2000 und 2020 auf, die auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene erfolgten. Viele davon hatten das Ziel, das Recht auf Sozialhilfe für gewisse Personengruppen einzuschränken, an bestimmte Pflichten zu knüpfen oder die Leistungen einzuschränken.

Nachdem das Sozialhilfesystem bis ins Jahr 2000 eher ausgebaut wurde, etablierte sich nun ein zunehmend restriktiver Diskurs. Ende der Nullerjahre wurde von bürgerlicher Seite eine veritable «orchestrierte Kampagne gegen die Sozialhilfe» lanciert, so Keller. Dazu gehörte auch die mediale Skandalisierung von problematischen Einzelfällen, die ein generelles Klima des Misstrauens schuf und alle Sozialhilfebeziehenden dem Generalverdacht des missbräuchlichen Leistungsbezugs aussetzte. Dieses Klima äusserte sich in einer Vielzahl an politischen Vorstössen auf Gemeinde- und Kantonsebene und schlug sich in einer zunehmend restriktiven Sozialhilfepraxis nieder.

Dimensionen der Verschärfung

Wie sich die «neoliberale Kritik» konkret auf die Sozialhilfe ausgewirkt hat, wird etwa an der Entwicklung der Skos-Richtlinien sichtbar. Zum einen wurde die Legitimität der Skos-Richtlinien als Ganzes wiederholt in Frage gestellt. Zum anderen führte die stetige öffentliche Kritik zu mehreren Revisionen der SKOS-Richtlinien, die regelmässig mit einer Senkung des Grundbedarfs einhergingen.

Auch das Thema sozialhilfebeziehende Ausländer*innen hat sich politisch als erfolgversprechend erwiesen. So wurde 2010 von den Stimmberechtigten die «Ausschaffungsinitiative» angenommen. Seither ist unrechtmässiger Sozialhilfebezug ein Grund, das Aufenthaltsrecht zu verlieren. Auch das 2019 in Kraft getretene Ausländer- und Integrationsgesetz AIG verknüpft den Sozialhilfebezug mit dem Aufenthaltsstatus: dieser kann zurückgestuft oder gar entzogen werden, wenn jemand Sozialhilfe bezieht.

Weitere Themen des Berichts, an dem sich Verschärfungen ablesen lassen, sind etwa Einschränkung von Grundrechten, Übernahme von Zahnbehandlungskosten oder die Sozialhilfe im Flüchtlings- und Asylbereich.

Sozialhilfe im Coronaregime

Die Coronakrise traf auch die Sozialhilfe unvorbereitet. In der Arbeit mit ihren Klient*innen mussten die Sozialdienste einen der Situation angemessenen Umgang entwickeln. Keller stellt fest, dass «die Institutionen der Sozialhilfe zwar kurzfristig gewisse kleine Erleichterungen empfehlen, die ohnehin der besonderen Lage gehorchen (Sistierung von Massnahmen, vorläufige Unterstützung auch ohne komplette Abklärungen), dass die Sozialhilfe aber weit von einer ‘schnellen und unbürokratischen Hilfe’ entfernt» bleibe. Es seien bislang keine Budgetaufstockungen vorgesehen, obwohl abzusehen sei, dass die Anzahl Armutsbetroffener in den kommenden Jahren aufgrund der Coronakrise deutlich steigen werden.

Die Skos geht davon aus, dass die Anzahl Sozialhilfebeziehender bis Ende 2022 um 21 Prozent gegenüber 2019 steigen werden. Die anfallenden Mehrkosten gehen hauptsächlich zulasten der Gemeinden, die gleichzeitig mit ebenfalls durch die Coronakrise verursachten Steuerausfällen rechnen müssen. Dies könnte das System Sozialhilfe vielerorts an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Im besten Fall könnte das die Weiterentwicklung des Systems Sozialhilfe begünstigen. So hat etwa eine Studie der ZHAW 2018 am Beispiel von Winterthur  gezeigt, dass Sozialarbeitende mit einer geringeren Fallbelastung in der Arbeit mit den KlientInnen mehr erreichen, wodurch im Endeffekt die Kosten sogar gesenkt werden können. In Basel gibt es Bestrebungen, ein analoges Modell einzuführen.

Langes Ringen um eine Bundeslösung

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Frage der Zuständigkeit für die Sozialhilfe. Heute liegt sie grundsätzlich bei den Kantonen. Diese beauftragen in den meisten Fällen die Gemeinden mit der der Umsetzung, weshalb eine grosse Heterogenität beim Vollzug der Sozialhilfe besteht. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Forderung nach einem Rahmengesetz auf Bundesebene immer wieder gestellt, dem Bericht zufolge wurde erstmals bereits im Jahr 1905. Auch in näherer Vergangenheit gibt es eine anhaltende Debatte zu diesem Thema. Allein in den vergangenen zehn Jahren gab es 9 Vorstösse dazu, wovon 8 abgelehnt wurden, einer ist zurzeit hängig.

Umbauen statt reformieren

Einen weitergehenden Vorschlag hat die Denknetz-Fachgruppe «Sozialpolitik, Care und Arbeit» ausgearbeitet. Die sogenannte «Existenzsicherung für alle» (Efa) soll das System Sozialhilfe nicht bloss reformieren, sondern ersetzen. Der Vorschlag orientiert sich dabei am Modell der Ergänzungsleistungen, das auf alle Bedarfssituationen ausgeweitet werden soll. Unabhängig von der jeweiligen Ursache würde das Efa unzureichende Einkommen eines Haushalts auf das Niveau der heutigen Ergänzungsleistungen erhöhen.

Die heute geltende Möglichkeit, Sozialhilfeempfänger*innen die Aufenthaltsbewilligung zu entziehen, wird in diesem Modell ausdrücklich aufgehoben. Abgeschafft würden ebenfalls die Verwandtenunterstützungs- und die Rückerstattungspflicht.

Der Vorschlag zielt darauf ab, das System der Existenzsicherung auf Verfassungsebene zu verankern. Damit nehmen die Autor*innen Ruth Gurny und Ueli Tecklenburg das Anliegen eines Bundesrahmengesetzes auf: Die heute geltende Delegation an die Kantone und die damit einhergehende Heterogenität und Rechtsunsicherheit würden aufgehoben.

Für dieses Modell müsste die institutionelle Infrastruktur umgebaut werden. So würden RAV, IV-Beratungsstellen und Sozialdienste in einen integrierten Dienst übergehen, der Betroffene bei der beruflichen und sozialen Integration unterstützt.

Die Autor*innen rechnen für dieses Modell mit Mehrkosten von 1-1.35 Prozent des Gesamtaufwandes für Sozialleistungen (1.7 – 2.3 Mrd. Franken).


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