Dieses Gesetz unterhöhlt den Sozialstaat
Gegen Betrüger bei der Sozialversicherung sollte die Polizei ermitteln, nicht eine Versicherung. Eine Replik auf Rudolf Strahm.
Ohne Parteien und Organisationen im Hintergrund lancierte das Komitee den Kampf gegen das umstrittene Gesetz zur Observation von Versicherten.
Es brodelte bereits seit langem. Im Oktober 2016 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schluss, dass im Schweizerischen Sozialversicherungsrecht eine klare gesetzliche Grundlage für die Observation von Personen fehlt, die mutmasslich Versicherungsmissbrauch betreiben. In der Folge stellten die IV und die Unfallversicherer ihre Observationen vorläufig ein. Um die Lücke zu schliessen, wurde vom Parlament in Windeseile eine Gesetzesrevision des Observationsartikels im Sozialversicherungsrecht aufgegleist, die fast alle Wünsche der Versicherungslobby erfüllte. Das neue Gesetz hat das Parlament in der Frühlingssession 2018 in Rekordzeit verabschiedet. Das Tempo, mit dem die Bürgerlichen die Vorlage durch das Parlament drückten, überraschte selbst erfahrene Politbeobachter.
Laut dem Gesetz dürfen Sozialversicherungen IV- und AHV-Bezügerinnen und -Bezüger, Arbeitslose sowie Unfall- und Krankenversicherte bei Verdacht auf Missbrauch mit Bild- und Tonaufnahmen sowie unter Einbezug technischer Instrumente zur Standortbestimmung observieren. Eine richterliche Genehmigung brauchen sie nur für den Einsatz von GPS-Trackern und Drohnen. Die Observationen beschränken sich dabei nicht auf öffentlichen Grund, sondern sind auch an Orten erlaubt, die von einem allgemein zugänglichen Ort frei einsehbar sind, wie der Garten oder Balkon der betroffenen Person. Damit erhalten Sozialversicherungen Überwachungskompetenzen, die teils weiter gehen als diejenigen der Behörden im Strafverfahren oder im Nachrichtendienst.
Die politisch Linke, Behindertenorganisationen und Gewerkschaften verurteilten das unverhältnismässig strenge Gesetz zur Überwachung von Versicherten, wollten jedoch kein Referendum ergreifen. Eine Bürgerbewegung um die Schriftstellerin Sibylle Berg, den Anwalt Philip Stolkin und den Jungpolitiker Dimitri Rougy prangerte nicht nur an, dass mit dem neuen Gesetz die Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt und die Privatsphäre aufs Gröbste verletzt wird, sondern lancierte auch gleich ein Referendum, welches dank starker Präsenz auf Social Media in kurzer Zeit auf grosse Resonanz stiess.
Nach anfänglichem Zögern haben sich schliesslich auch linke Parteien dem Referendumskomitee angeschlossen ebenso verschiedene Behindertenorganisationen und Gewerkschaften. Die Zurückhaltung der SP und der Behindertenverbände beruht auf den Befürchtungen, dass sich der kommende Abstimmungskampf nur um „Sozialschmarotzer“ und „Scheininvalide“ drehen und damit die Situation für Bedürftige noch verschlechtern wird.
In den ersten vier Wochen hat das Komitee bereits über 12‘000 Unterschriften gesammelt und am 5. Juli wird sich zeigen, ob die Unterstützung der Parteien, Verbände und letztlich der Bevölkerung ausreicht, um die benötigten 50‘000 Unterschriften gegen das umstrittene Gesetz zu erreichen.
Dass gegen Versicherungsbetrug vorgegangen werden muss, steht für die Organisationen, Parteien, Verbände und Gewerkschaften, welche sich dem Referendumskomitee angeschlossen haben, ausser Frage. Aber auch, dass die Grundrechte und das Prinzip der Verhältnismässigkeit gewahrt werden müssen.
Gegen Betrüger bei der Sozialversicherung sollte die Polizei ermitteln, nicht eine Versicherung. Eine Replik auf Rudolf Strahm.
Man kann es nicht anders sagen: Die Frühlingssession, die vergangenen Freitag in Bern zu Ende gegangen ist, war ein sozialpolitisches Debakel.
Sozialversicherungen sollen Unfallopfer und Invalide besser überwachen können und dafür bedeutend mehr Macht bekommen. Dabei braucht es das gar nicht.
Das Referendum gegen die Änderung vom 16. März 2018 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) (Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten) ist zustande gekommen.