Für bessere berufliche Qualifikation der Sozialen Arbeit – Avenir Social startet Kampagne
Fast die Hälfte der in der Sozialen Arbeit tätigen Personen verfügt über keinen entsprechenden Berufsabschluss. Diesen gravierenden Missstand stellt Avenir Social Schweiz anhand zweier Studien fest. Der Berufsverband hat darum eine Kampagne zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit gestartet.
Qualitativ gute Soziale Arbeit setzt ausgebildetes Personal voraus
In der Schweiz sind rund 100‘000 Personen als Fachpersonen der Sozialen Arbeit beschäftigt. Das schweizerische Sozialwesen ist damit „ein wichtiger, weiterhin wachsender Wirtschaftszweig“, wie die Co-Präsidentin von Avenir Social, Verena Keller anlässlich der Pressekonferenz zum Kampagnenstart festhält. Für qualitativ hochstehende und wirksame Soziale Arbeit sei darum eine fachliche Ausbildung unabdingbar. Tatsächlich ist jedoch nur ungefähr die Hälfte der Beschäftigten ihren Aufgaben angemessen ausgebildet. Dies belegt Avenir Social anhand von aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik, sowie einer Studie von Savoir Social. Der Berufsverband Avenir Social hat deshalb eine nationale Kampagne zur Behebung dieses Fachkräftemangels lanciert.
Fehlender Titelschutz
Im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern sind in der Schweiz die Berufsbezeichnungen im Bereich der Sozialen Arbeit nicht geschützt. So werden trotz Professionalisierungsbestrebungen im Sozialwesen auch heute noch häufig Personen ohne fachliche Ausbildung angestellt. In vielen Organisationen sind die Ausbildungsanforderungen entsprechend offen formuliert. Oft werden bei Stellenbesetzungen „ähnliche“ oder „gleichwertige“ Ausbildungen akzeptiert, oft ohne dies näher zu spezifizieren. Dies hält der Verband für problematisch: „Wir gehen davon aus, dass Soziale Arbeit genau wie die Pflege, die Medizin usw. auf spezifischen Kompetenzen beruht, die in einer spezifischen Ausbildung erworben werden“, schreibt Avenir Social in ihrem Grundlagendokument zur Kampagne. Die Soziale Arbeit ist längst zu einer komplexen, theorie- und ethikgeleiteten Tätigkeit geworden, die sich fachlich rechtfertigen lassen muss. Geduld, Empathie und ein grosses Herz würden dafür nicht mehr genügen, stellt Verena Keller fest. Arbeitgeber sollen deshalb verpflichtet werden, nur ausgebildetes Personal anzustellen bzw. die nachträgliche Aus- und Weiterbildung von bestehendem Personal zu fördern.
Mangel an Fachleuten auf dem Arbeitsmarkt
Obwohl sich die Anzahl ausgestellter Diplome im Bereich der Sozialen Arbeit seit 2009 verdoppelt hat, gibt es nach wie vor nicht genügend ausgebildetes Personal im Sozialwesen. Die Forderungen der Kampagne (siehe Kasten) richten sich deshalb nicht nur an die Arbeitgeber. Um den bestehenden Mangel an Fachpersonen zu beheben, braucht es auch einen politischen Willen und genügend Geld, um Aus- und Nachholbildungen zu finanzieren, aber auch um die notwendigen Kapazitäten bei den Ausbildungsstätten zu garantieren.
Die vier Forderungen von Avenir Social
Es dürfen in der Sozialen Arbeit ausschliesslich diplomierte Fachpersonen angestellt werden (oder Personen in einer entsprechenden Ausbildung). Es braucht 100% diplomierte Personen, wenn man von Sozialer Arbeit sprechen will.
Berufsbegleitende Ausbildungen / Passerellen müssen gefördert werden. Die Arbeitgeber sollen es den heute in der Sozialen Arbeit angestellten Personen ohne Ausbildung ermöglichen bzw. erleichtern, die Ausbildung nachzuholen.
Es werden genügend diplomierte Fachpersonen der Sozialen Arbeit ausgebildet. Die Schulen müssen die erforderlichen Ressourcen dafür erhalten und aufwenden, um den Fachkräftemangel zu beheben.
Es werden Vorschriften erlassen, welche die Arbeitgeber verpflichten, zu 100% ausgebildete Fachpersonen anzustellen. Die Institutionen müssen die Ausbildungsanforderungen entsprechend formulieren.
Die nationale Kampagne von AvenirSocial: Eine Ausbildung in Sozialer Arbeit bürgt für Qualität
Grundlagendokument
Mediendossier zur Kampagne
In der Schweiz verfügt nur die Hälfte der Personen, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, über eine entsprechende Ausbildung. Jede Person kann als Sozialarbeiter oder als Sozialpädagogin bezeichnet werden, ohne jemals eine entsprechende Ausbildung absolviert zu haben. AvenirSocial, der nationale Verband der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, lanciert heute eine nationale Kampagne, um auf diese Situation aufmerksam zu machen und sie zu verbessern.
«...ohne gesetzliche Vorschriften wird sich das nicht ändern»
sozialinfo.ch/Martin Heiniger: Frau Graff, die Hälfte der in der Sozialen Arbeit Tätigen verfügt über keine fachliche Ausbildung. Hat Sie dieser Befund aus den zitierten Studien überrascht?
Emilie Graff: Eigentlich nicht. Einerseits wussten wir durch Kontakte mit der Praxis, dass in manchen Bereichen sehr wenige Leute eine Ausbildung haben. Andererseits wurden schon früher ähnliche Studien gemacht, allerdings nur für jeweils eine Sprachregion. Durch die Studie von Savoir Social haben wir jetzt sehr gute Zahlen, um zu zeigen, dass dieses Problem in der gesamten Schweiz besteht.
EMILIE GRAFF
war bis Frühjahr 2018 Co-Geschäftsleiterin von AvenirSocial
In welchen Bereichen ist die Ausbildungssituation besonders mangelhaft?
Die Studie von Savoir Social zeigt beispielsweise, dass im Behindertenbereich viele Leute ohne entsprechende Ausbildung arbeiten. Das hat uns erstaunt, weil wir überzeugt sind, dass es gerade für diese schwierige Arbeit ausgebildete Personen braucht. Dasselbe Problem besteht gemäss der Studie auch im Altersbereich. Grundsätzlich gibt es jedoch innerhalb aller Bereiche grosse Unterschiede, je nach Institution. Dies kann man anhand der Ausbildungsanforderungen sehen, die wir in unserem Grundlagenpapier abbilden. Wir wollen damit auch zeigen, dass es schon Best-Practices gibt. Manche Dienste setzen unsere Anliegen schon jetzt um, wie zum Beispiel der Sozialdienst von Zürich, oder eine soziokulturelle Institution in Lausanne, die nur ausgebildete Personen anstellen. Das sind für uns gute Zeichen um zu zeigen, dass es möglich ist.
Im Gesundheitswesen und der Psychiatrie zeigt sich das Problem der fehlenden Ausbildung weniger stark. Was ist im Sozialwesen anders?
Ich glaube das Problem des Sozialbereichs ist die grosse Zahl sehr kleiner Institutionen. Fast die Hälfte der 13000 Institutionen im Sozialwesen haben weniger als 40 Angestellte. Dadurch ist die Soziale Arbeit schwieriger zu professionalisieren als beispielsweise der Pflegebereich.
Könnte die Ausbildungsmisere auch daher rühren, dass Institutionen und Personal oft noch von der Devise ausgehen, dass der gesunde Menschenverstand für Soziale Arbeit genüge?
Wir hören oft, um Soziale Arbeit zu leisten reiche es, nett zu sein und etwas Mitgefühl zu haben. Bei Lehrern oder im Pflegebereich würde das nie jemand sagen. Aber für vulnerable Menschen wie Armutsbetroffene, Menschen mit Behinderungen oder Randständige soll es reichen. Es ist, als ob das nicht normale Bürger wären. Eine andere Erklärung ist, dass es historisch gesehen eher weibliche Berufe sind. Nett zu sein und sich um Leute zu kümmern werden als naturgegebene weibliche Eigenschaften angesehen. Aber Soziale Arbeit ist nicht nur Leute unterstützen und nett sein, sondern oft auch Sanktion und Kontrolle. Ich glaube, die Sozialarbeitenden vergessen manchmal sogar selber, dass es auch um Macht geht, und dass es auch Diskriminierungen durch die Sozialarbeitenden selbst gibt.
Wie begegnen Sie berechtigten Befürchtungen, dass die geforderten Nachholbildungen zu erheblichen Mehrkosten führen werden?
Der sozialpolitische Kontext ist natürlich dafür nicht optimal, aber die Kosten sind ein sehr kurzfristiges Argument. Es gibt Studien, die belegen, dass ausgebildete Leute viel effizienter sind und wirksamere Arbeit leisten können. Wenn beispielsweise Klienten dadurch weniger lange von Sozialhilfe abhängig sind, dann lohnt sich der Aufwand. Zudem gibt es in der Sozialen Arbeit eine grosse Fluktuation. Oft wechseln die Leute die Stelle, weil sie überfordert sind, oder keine Perspektive haben. Viele Burnouts im Sozialbereich entstehen, weil die Leute sich nicht abgrenzen können und nicht wissen, was gehört zu meiner Arbeit, und was nicht, und sich damit selbst überfordern. Geeignete Ausbildungen helfen, diese Probleme zu entschärfen. Kurzfristig wird es schon mehr kosten, aber langfristig lohnt es sich auf jeden Fall.
Die Institutionen sind also im Dilemma: sie wissen, langfristig würde es sich lohnen, in besser ausgebildetes Personal zu investieren, aber kurzfristig haben sie das Geld nicht. Was empfehlt ihr denen?
Die sozialen Institutionen müssen mehr ausgebildete Leute anstellen. Für die Erarbeitung der Kampagne hatten wir Kontakte mit vielen Arbeitgebern. Manche sagten, nein das unterstützen wir nicht, weil wir das gut finden, wenn wir auch unausgebildete Leute haben. Dort müssen wir viel Sensibilisierungsarbeit leisten und zeigen, dass es sich lohnt, weil die Leute länger bleiben und effizienter arbeiten, wenn sie ausgebildet sind. Aber uns ist auch klar, dass das schwierig ist, wenn das Geld fehlt, und wenn es nicht genügend Leute auf dem Arbeitsmarkt gibt, die schon eine Ausbildung haben. Von den vier Forderungen der Kampagne betrifft deshalb nur eine die Arbeitgeber.
Was gibt es sonst noch zu tun?
Wir fordern zudem, dass mehr Leute ausgebildet werden, und dass es ein nationales Gesetz gibt, das die Berufe der Sozialen Arbeit schützt. Man kann das mit dem Pflegebereich vergleichen, wo es zurzeit in vielen Kantonen Bemühungen gibt, um den Fachkräftemangel zu beheben. Ich kenne keinen einzigen Kanton, der das Gleiche macht für die Soziale Arbeit. Wir müssen ein Bewusstsein und eine Sensibilität dafür schaffen, dass das gleiche Problem auch in der Sozialen Arbeit besteht. Wir müssen die PolitikerInnen davon überzeugen, dass sich die Investitionen langfristig lohnen.
Durch die Kampagne könnten sich die 50 Prozent der nicht fachlich Ausgebildeten unter Druck gesetzt fühlen. Ist das ein erwünschter Effekt?
Wir haben das bei der Erarbeitung der Kampagne sehr lange diskutiert. Für uns ist klar, dass wir keine Kampagne gegen diese Leute führen. Wir sagen nicht, dass diese Personen schlechte Arbeit leisten, das ist in den Grundlagendokumenten und auf der Website sehr klar kommuniziert. Wir sagen einfach, sie brauchen eine spezifische Ausbildung für die Arbeit, die sie zurzeit leisten.
Die Zahl der vergebenen Diplome hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Würde die Zeit den Mangel an Ausgebildeten nicht von selbst korrigieren?
Es ist sicher nicht nur eine Frage der Zeit. Es gibt zwar viel mehr Leute, die jetzt ausgebildet sind, aber es gibt immer noch viele Leute, die eine Karriere beginnen ohne Ausbildung, und die dann 40 Jahre so arbeiten. Es ist klar, dass es nicht genug ausgebildete Personen gibt und ohne gesetzliche Vorschriften wird sich das nicht ändern.
Avenir Social ist der Verband der tertiär ausgebildeten SozialarbeiterInnen. Hat sich das auf die Kampagne ausgewirkt?
Wir finden es sehr wichtig, dass alle Leute eine Ausbildung haben, egal auf welchem Niveau. Deshalb ist klar, dass auch der Verband der FABE (Fachpersonen Betreuung) Teil dieser Kampagne ist und die Kampagne mitträgt. Wenn wir die 100% schaffen auf allen Ebenen, tertiär oder nicht, dann können wir in einem zweiten Schritt weiterschauen, wie viele von jedem Ausbildungsniveau es braucht. Das ist für uns eine Frage, die erst später kommt.
Mehr Ausgebildete könnte auch heissen: mehr Mitglieder für den Verband. Ketzerische Frage: Gibt es auch eigennützige Motive für die Kampagne?
Mehr Mitglieder zu haben wäre super (lacht). Aber ich glaube, wenn es uns darum ginge, dann gäbe es einfachere Wege. Von 100‘000 Sozialarbeitenden in der Schweiz sind nur 3500 Mitglieder bei uns, das ist ein sehr kleiner Teil. Eine Steigerung wäre eher mit Marketingmassnahmen zu erreichen. Oder wir würden ein Gesetz fordern, das verlangt, dass alle Sozialarbeitenden bei uns Mitglied werden müssen, so wie das in Italien, England oder den USA üblich ist. Das wäre ein viel einfacherer Weg für uns, als eine so langfristig angelegte Kampagne zu machen.
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