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Was Menschen dazu bewegt, gegen Corona-Massnamen zu protestieren

Mai 2021

Immer wieder berichten Medien über Proteste gegen Corona-Massnahmen. Was bewegt die Teilnehmenden? Eine Studie der Universität Basel skizziert ein erstes, aber noch unvollständiges Bild dieser Bewegung.

Eine im Dezember 2020 publizierte Studie der Universität Basel hat Teilnehmende von Corona-Protesten und aktive Gegner*innen von Corona-Massnahmen zu ihrer Motivation, ihren Werten und Überzeugungen befragt. Für die explorative Studie haben sich die Soziolog*innen via Messengerdienst Telegram als Forschende zu erkennen gegeben und ihre quantitativ angelegte Online-Befragung verlinkt. Zudem haben sie Teilnehmende für qualitative Interviews rekrutiert und Dokumente ausgewertet. Weiter haben sie an zwei grossen Kundgebungen teilgenommen und ethnographische Beobachtungen durchgeführt. Die Studie ist explizit nicht repräsentativ, vermag aber trotzdem ein Bild von dieser Bewegung zu skizzieren, die sich rund um das Thema gebildet hat.

Mehrheitlich gebildete Mittelschichtsangehörige

Bei den aktiven Kritiker*innen der coronabedingten Massnahmen, oder „Querdenker*innen“, wie die soziologische Studie sie - in Anlehnung an die von Michael Ballweg gegründete Bewegung - bezeichnet, handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe. Vielmehr sind es heterogene und sich zum Teil widersprechende Gruppierungen. 

Querdenker*innen

Michael Ballweg, Gründer und Gründer einer Software-Firma in Stuttgart hat im Frühjahr 2020 «Querdenken711» ins Leben gerufen. «Querdenken711» bezeichnet sich selbst als (Freiheits-)»Initiative». Die Zahl steht dabei für die Telefonvorwahl der Region. In Deutschland gibt es 68 lokale Gruppen. Eine schweizerische Gruppe ist zwar nicht aufgeführt. Gemäss den Forscher*innen ist die Bewegung jedoch transnational vernetzt. Kundgebungen finden bewusst in Grenzregionen statt, um eine länderübergreifende Mobilisierung aus Deutschland, der Schweiz und Österreich zu ermöglichen.

Gemeinsam ist ihnen, dass es sich mehrheitlich um gebildete Angehörige der Mittelschicht handelt. So haben 31% das Abitur oder die Matura, 34% der Deutschen und 29% der Schweizerischen Befragten haben studiert. Im Durchschnitt sind die Demonstrierenden 47 Jahre alt. Teilnehmende unter 30 Jahren gibt es nur wenige. Die Forschenden gehen davon aus, dass sie bestimmte radikale Teile der Bewegung in ihrer Studie nicht erreicht haben, weil diese gegenüber den Forschenden negativ bis feindlich eingestellt sind und systematisch nicht an der Befragung oder den qualitativen Interviews teilgenommen haben.

Misstrauen gegenüber Staat und etablierten Medien

Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Befragten der parlamentarischen Demokratie, den etablierten Medien und der Wissenschaft zunehmend misstrauen. Die Forschenden sprechen in diesem Zusammenhang von einer Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems. Trotz dieser Entfremdung sind viele Teilnehmende in zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv und verhalten sich in ihrer Lebensführung politisch. So geben 86 % an, schon einmal eine Petition unterzeichnet zu haben, rund 60% haben schon einmal Produkte boykottiert, ein Abzeichen einer Kampagne getragen oder angebracht, oder auf Social Media auf ein politisches Anliegen aufmerksam gemacht. Mehr als die Hälfte der Befragten wehrt sich zwar gegen eine Einteilung in ein politisches links/rechts-Schema. Mit Blick auf die Wahlabsichten stellen die Forschenden jedoch fest, dass die Bewegung eher von links kommt und sich nach rechts bewegt. So empfindet eine Mehrheit der Deutschen Befragten die AfD als eine normale Partei und hält die Aufregung um Reichskriegsflaggen an den Demonstrationen für übertrieben. Die Forschenden vermuten ein beträchtliches Radikalisierungspotential innerhalb der Bewegung. Zum einen haben gerade radikale Gruppierungen nicht an der Befragung teilgenommen und zum anderen ist ein auffällig grosser Teil der Befragten der Frage nach einer antisemitischen Haltung ausgewichen und hat diese nicht beantwortet. Bei den schweizerischen Befragten würden 43% in den nächsten Wahlen die SVP wählen, während dies vor der Pandemie lediglich 33% getan haben. Ein Teil hat vor der Pandemie eher links-grüne Parteien gewählt, würde diese heute aber nicht mehr wählen. Rund ein Drittel der Befragten "glaubt" zudem an Verschwörungstheorien. So stimmen 35% der Aussage "voll und ganz" zu, dass die Bill & Melinda Gates-Foundation eine Zwangsimpfung für die ganze Welt wollen, ebenso stimmen 28% zu, dass es geheime Organisationen gibt, die grossen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. 52% sind überzeugt, dass die Medien und die Politik unter einer Decke stecken.

Legitimationskrise der modernen Gesellschaft

Die Forschenden interpretieren diese Bewegung als Ausdruck einer fundamentalen Legitimationskrise der modernen Gesellschaft. Die Moderne legitimiere sich selbst dadurch, dass sie Kritik ermögliche; doch genau dieses Element sei in den Augen der Querdenker*innen verloren gegangen. Die Entfremdung von der modernen Gesellschaft zeige sich aber nicht nur in einer Skepsis gegenüber ihren Institutionen, sondern auch in einer „romantisch inspirierten Hinwendung zu ganzheitlichen, anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen nach mehr spirituellem Denken und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleichzustellen“. Die Querdenker*innen sehen sich in ihrer Abweichung vom Mainstream verkannt und geächtet, gleichzeitig werten sie ihre eigene Expertise auf, so die Studie. Die Forschenden raten davon ab, die Querdenker*innen zu pathologisieren. Das helfe wenig weiter. Vielmehr müsse man fragen: Was für eine Gesellschaft bringt derartige Bewegungen hervor, was sind ihre strukturellen Voraussetzungen? Die Forschenden künden weitere qualitative Auswertungen der Untersuchung an.

Psychologische Erklärungen zu Verschwörungstheorien

Dem Thema Verschwörungstheorien und weshalb Menschen daran glauben, widmet sich eine lesenswerte Ausgabe von Psychoscope. Interessante Einblicke in das Thema gibt auch ein Medienartikel von Swissinfo, in dem Pascal Wagner-Egger, Sozialpsychologe und Professor an der Universität Freiburg, zu Wort kommt. Demnach hat die Anzahl Menschen, die an Verschwörungstheorien glaubt, während der Pandemie nicht wesentlich zugenommen. Beziehungsweise sei es schwierig, hier genaue Zahlenvergleiche vorzunehmen. Verschiedene Studien zeigten jedoch, dass Verschwörungstheorien besonders dann einen Nährboden finden, wenn die Ungleichheit in einem Land hoch ist. Hinzu kommt, dass es in der menschlichen Natur liege, naiv und unwissenschaftlich zu denken, so Wagner-Egger. Ein weiterer wichtiger Faktor bildet das Internet. Dank ihm können sich Theorien mit enormer Geschwindigkeit verbreiten und einmal geteilte Theorien bleiben im Netzt auffindbar und präsent. Um Verschwörungstheorien zu bekämpfen, plädiert Wagner-Egger dafür, bei den Ursachen anzusetzen: soziale Ungleichheiten zu verringern, Korruption zu bekämpfen, einen unparteiischen Journalismus sowie Gewaltenteilung sicherzustellen. Weiter erachtet es der Autor eines kürzlich erschienen Fachbuches über Verschwörungstheorien wichtig, jungen Menschen beizubringen, kritisch zu denken. 

Dialog zwischen den Lagern

Während der Pandemie haben Drohungen gegen Wissenschaftler*innen und Politiker*innen zugenommen. Bundesräte haben Morddrohungen erhalten. Umgekehrt sind Gewaltdrohungen gegenüber Massnahmenkritiker*innen bis jetzt nicht bekannt. Wer seine Meinung äussern will, kann dies tun. Wer an Demonstrationen teilnehmen will, kann dies - sofern die Auflagen zum Schutz der Gesundheit eingehalten werden - ebenfalls tun. Es kann deshalb nicht von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit die Rede sein, wie dies aktive Gegner*innen der Corona-Massnahmen häufig beklagen. Hingegen ist die soziale Kontrolle während der Pandemie stärker geworden. Und die ausgeprägte soziale Kontrolle erschwert es, eine abweichende Meinung zu äussern, wie Urte Scholz, Professorin für Angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität Zürich in einem Beitrag von Swissinfo bestätigt. Doch es gibt verschiedene Arten, soziale Kontrolle auszuüben. So führen Bestrafung, Nörgeln, Liebes- oder Freundschaftsentzug bei den „kontrollierten“ Personen zu negativen Gefühlen wie Scham oder Ärger. Es gebe jedoch Strategien, eine positive soziale Kontrolle auszuüben. Diese könne darin bestehen, mit Andersdenkenden in den Dialog zu treten, sich auszutauschen, andere Meinungen zuzulassen und ein Verhalten nicht über Druck oder negative Emotionen ändern zu wollen. 

Universität Basel

Politische Soziologie der Corona-Proteste

Grundauswertung 17.12.2020

Aus der Mittelschicht, eher älter und akademisch gebildet – das sind die typischen Merkmale der Angehörigen der Protestbewegung gegen die Coronamassnahmen in Deutschland und der Schweiz. Die Gegner sind in sich heterogen, aber nach rechts offen und vom politischen System stark entfremdet. Dies sind vorläufige Ergebnisse eines empirischen soziologischen Forschungsprojekts an der Universität Basel, das sich auf die Auswertung von über 1150 Fragebögen stützt.

SWI

Warum Verschwörungstheorien so attraktiv sind

Laut einer Studie der Universität Basel glauben 30% der Befragten in Deutschland und der Deutschschweiz zumindest teilweise an eine Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie. Wie ist das möglich? Wir haben einen Professor für Sozialpsychologie gefragt.

EKR

Verschwörungstheorien, Fake News und Rassismus – ein gefährlicher Cocktail

Welche Berührungspunkte haben Verschwörungstheorien, Desinformation und Rassismus? Dieser aktuellen Frage geht die Zeitschrift Tangram der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) in ihrer neusten Ausgabe nach. Warum halten sich einige Verschwörungsmythen so hartnäckig? Warum zielen sie vor allem auf bestimmte Gruppen? Wie soll man auf dieses im Internet allgegenwärtige Phänomen reagieren? Mit dieser Tangram-Nummer will die EKR zum besseren Verständnis der unterschwelligen Mechanismen beitragen, die rassistische und diskriminierende Handlungen begünstigen.

SSOAR

'Krisen' und 'Verschwörungstheorien' in Zeiten der Corona-Pandemie: Wissenssoziologische Analysen

In Zeiten der Corona-Pandemie dominieren Krisendiagnosen das Tagesgeschäft. Zu deren zentralen Bezugspunkten zählen neben (den Folgen) der Pandemiebekämpfung im engeren Sinne vor allem sogenannte Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker*innen. Zum einen mehren sich angesichts der von den "Querdenker*innen" initiierten "Hygiene-Demonstrationen" Krisendiagnosen, die in der gegenwärtigen Protestpraxis den vorläufigen Höhepunkt eines demokratiezersetzenden "postfaktischen Zeitalters" sehen. 

Denknetz

Aufstand der freundlichen Verschwörungserzähler?

Viele fragten sich nach der Corona-Demonstration in Liestal, wofür eigentlich die aus der ganzen Schweiz kommenden Teilnehmenden einstehen, welches ihr Hintergrund ist und wer hinter der Organisation dieser Kundgebungen steht. Was Liestal für die Schweiz war, war die Corona-Demonstration in Kassel mit über 20‘000 Teilnehmenden für Deutschland. Michael Lacher fand in Kassel rechte und linke Verschwörungstheorien, verständliche Existenzängste, viel Skurriles aber auch Bedrohliches. Vieles, was er in Kassel beobachtet hat, dürfte auch auf die entsprechende schweizerische Szene zutreffen.

SWI

Warum Verschwörungstheorien so attraktiv sind

Laut einer Studie der Universität Basel glauben 30% der Befragten in Deutschland und der Deutschschweiz zumindest teilweise an eine Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie. Wie ist das möglich? Wir haben einen Professor für Sozialpsychologie gefragt.

SRF

Politphilosophin: «Die Bewegung wird von Extremen benutzt»

Aus Protest gegen die Corona-Politik sind in Deutschland am Wochenende wieder tausende Menschen an «Querdenker»-Demonstrationen gegangen. Wie bei früheren Protesten demonstrierten besorgte Bürgerinnen und Bürger neben Anhängern von Verschwörungstheorien und Rechtsextremen. Die Gesellschaft müsse eine Antwort auf das Phänomen finden, sagt Politphilosophin Katja Gentinetta.

SIG

Antisemitismusbericht 2020 – Im Umfeld der Corona-Rebellen

Der SIG hat den Antisemitismusbericht 2020 für die Deutschschweiz in Zusammenarbeit mit der GRA veröffentlicht. Die Zahl der Vorfälle in der realen Welt bleibt auf einem tiefen Niveau. Online ist die Verbreitung von Verschwörungstheorien weiterhin besorgniserregend. Auffallend war im vergangenen Jahr die zunehmende Instrumentalisierung der Schoah im Umfeld der Corona-Rebellen.


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