Invalidenversicherung - Beitragsserie
Beitragsserie
Medien und Politik ziehen die Qualität und die Unvoreingenommenheit von IV-Gutachten schon länger in Zweifel. Dies aufgrund von diversen problematischen Fällen, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Die Resultate einer durch das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) in Auftrag gegebenen Untersuchung zeigen: Die Kritik ist berechtigt.
Bei der Abklärung, ob eine Person Anspruch auf eine Invalidenrente hat, stützen sich die IV-Stellen oft auf medizinische Gutachten. Mit der gängigen Praxis steht die Invalidenversicherung jedoch seit geraumer Zeit in der Kritik. So reichte SP-Nationalrätin Bea Heim bereits 2015 eine Interpellation ein, die Zweifel an der Fairness, Transparenz und Ergebnisoffenheit dieser Praxis thematisierte.
Vor einem Jahr erhielt das Thema eine grössere Publizität. So veröffentlichte unter anderem der Blick eine ganze Artikelreihe zur Kritik des Gutachterwesens, die ivinfo zusammengestellt und kommentiert hat. Auch andere Medien wie etwa der Schweizerische Beobachter oder das Strassenmagazin Surprise haben sich des Themas angenommen. Dabei wird die Intransparenz der Verfahren sowie die mangelnde Unabhängigkeit der Gutachter*innen angeprangert und anhand von konkreten Fällen dargestellt, wie kranke Menschen „am Schreibtisch gesundgeschrieben“ würden.
Da die IV unter Spardruck stehe, bevorzuge sie bei der Auftragsvergabe Gutachter*innen, „die tendenziell gegen die Versicherten und zugunsten der IV urteilen“, schreibt der Beobachter. Dabei würden rund drei Viertel der Abklärungen an 10 Prozent der Gutachter*innen vergeben. Zudem wurde offenbar, dass manche Gutachter*innen, welche Aufträge in Millionenhöhe erhalten hatten, sich die Arbeit mit Copy-Paste-Berichten einfach gemacht haben und zahlreiche gleichlautende Berichte abgegeben haben. Da jedoch weder die Vergabe nachvollziehbar dokumentiert sei noch die Gespräche aufgezeichnet würden, haben die Betroffenen kaum eine Handhabe, sich gegen willkürliche und unfaire Entscheide zu wehren.
Auch der Dachverband der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap, steht den externen medizinischen Gutachten sehr kritisch gegenüber. Es gebe „Hinweise, dass die Objektivität und Unabhängigkeit der Gutachter nicht immer garantiert“ sei. Die Organisation hat eigens eine Meldestelle eingerichtet, bei der sich Personen melden können, die sich in einem Abklärungsverfahren nicht fair behandelt fühlen (siehe Kasten).
Inclusion Handicap hat anfangs 2020 eine "Meldestelle für Opfer der IV-Willkür" eingerichtet. Anlässlich des Zwischenbericht vom 30.09.2020 wurden 256 Meldungen ausgewertet. Die Resultate zeigen auf, dass die in den Medien publizierten Fälle keine Einzelerscheinungen sind. In vielen der Fälle fühlen sich Betroffene nicht gehört und ernst genommen. So berichten beispielsweise mehr als die Hälfte der Personen, dass die Gutachter*innen ihnen nicht zugehört und sich wirklich für den Gesundheitszustand interessiert hätten. Besonders schwerwiegend ist, dass die meisten Versicherten angaben, dass der Inhalt des Gutachtens nicht oder nur teilweise mit dem Inhalt des Abklärungsgesprächs übereinstimmt.
Es haben auch 33 Ärzt*innen an der Befragung teilgenommen. Nach deren Einschätzungen entsprechen viele der Gutachten nicht oder nur bedingt dem medizinischen Standard.
Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit haben in der Wintersession 2019 mehrere Parlamentarier*innen Interpellationen eingereicht und damit dem Bundesrat Druck gemacht. Die von Bundesrat Alain Berset daraufhin in Auftrag gegebene „Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung“, die Interface zusammen mit der Universität Bern herausgegeben hat, gibt nun den Kritiker*innen Recht. Der Bericht konstatiert, dass „die IV-Stellen bis anhin wenig transparent aufgezeigt haben, an wen sie ihre Gutachten vergeben. Dies sowie die Unzufriedenheit darüber, dass gewisse «schwarze Schafe» unter den Gutachtern/-innen über Jahre hinweg ihrer Gutachtertätigkeit nachgehen konnten, obschon erhebliche Zweifel an ihrer Qualität bestanden, haben dazu geführt, dass das Vergabeprinzip grundsätzlich in den Fokus der Kritik gerückt ist“. Eine zweite, interne Untersuchung befasste sich mit der Aufsicht des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) über die IV-Stellen.
Gestützt auf diese Berichte hat das BSV im Oktober bekanntgegeben, dass die Aufsicht über die IV und die Qualität der medizinischen Beurteilung verbessert werden sollen. So ist etwa vorgesehen, ab 2022 eine unabhängige Kommission für Qualitätssicherung und Zulassung von Gutachtern einzusetzen. Die Vergabe von Gutachten soll transparent gemacht werden, sowie die Begutachtung selbst mittels Tonaufnahmen dokumentiert werden.
Zudem will das BSV prüfen, ob das Zufallsprinzip bei den Vergaben auch bei den sogenannt „monodisziplinären“ Gutachten zum Zug kommen soll, die den Grossteil der Gutachten ausmachen. Dies sind Gutachten, bei denen lediglich eine medizinische Fachrichtung die Begutachtung durchführt. Dies im Unterschied zu bi- bzw. polydisziplinären Gutachten, bei denen mehrere Fachrichtungen vertreten sind, und die schon heute nach dem Zufallsprinzip vergeben werden.
Mit den Evaluationsberichten und den daraus abgeleiteten Massnahmen anerkennt das BSV, dass sowohl bei der Aufsicht über die IV-Stellen, als auch bei der Vergabepraxis und den medizinischen Gutachten einiges im Argen liegt. Inclusion Handicap gibt sich denn auch „erleichtert, dass endlich die richtigen Lehren aus dem Gutachterskandal gezogen“ würden.
Jedoch gehen Inclusion Handicap die Massnahmen viel zu wenig weit. So werde das Problem der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Gutachter*innen von der IV nicht gelöst. Mit dem Bekenntnis, dass es „schwarze Schafe“ unter den Gutachter*innen gebe, werde das Problem unterschätzt. Denn qualitativ schlechte Gutachten seien keine Einzelfälle. Der Dachverband fordert deshalb, das Zufallsprinzip für alle Gutachten, also auch für die monodisziplinären Gutachten einzuführen. Damit genügend gute Gutachter*innen zur Verfügung stehen, müsse die Attraktivität der Gutachtertätigkeit erhöht werden. Zudem müssten Fälle, bei denen Versicherte Opfer von „schlechten“ Gutachtern geworden sind, neu aufgerollt werden.
Beitragsserie
Fachleute kritisieren seit langem: Psychiatrische IV-Gutachter sind befangen, weil sie von der IV abhängig sind. Nun könnte das Parlament für etwas Transparenz sorgen.
Im November publizierte der Blick eine Artikelserie über IV-Gutachten und IV-Gutachter:
Ein Berner Arzt hat für IV-Gutachten 3,1 Millionen Franken erhalten. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären – und er ist kein Einzelfall.
Der grösste Schweizer IV-Gutachter ABI steht einmal mehr in der Kritik. Nun geht’s um seinen Umgang mit hartnäckigen Anwälten.
Verschiedene Strafbehörden sehen sich mit Strafanzeigen gegen Gutachter wegen Urkundenfälschung und falschen ärztlichen Zeugnissen konfrontiert. Im Verfahren gegen verschiedene Ärzte der PMEDA und deren Inhaber Prof. Dr. Henning Mast, welche durch die IV-Stellen beauftragt waren, gehen die Zürcherischen Staatsanwaltschaften davon aus, dass es sich dabei um Amtsdelikte handelt.
Bericht zuhanden des Generalsekretariats des Eidgenössischen Departements des Innern EDI (GS-EDI)
Bericht im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat im Auftrag des Departements des Innern seine Aufsichtstätigkeit über die IV-Stellen analysiert. Anlass für die Analyse der Aufsicht des BSV über die IV-Stellen war die medial und politisch geäusserte Kritik, dass das Amt die kantonalen IV-Stellen mit Sparvorgaben unter Druck setze, möglichst wenig neue Renten zu gewähren bzw. die Kosten zu senken, indem das BSV in den Zielvorgaben (Zielvereinbarungen) jährlich für jede kantonale IV-Stelle ein Sparziel festlege.
Inclusion Handicap hat die externe Untersuchung zu den IV-Gutachten, die das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) heute publiziert hat, zur Kenntnis genommen. Es gebe in der Tendenz zu wenig gute Gutachterinnen und Gutachter, heisst es in der Evaluation, in der die Stimmen der Versicherten zu wenig vorkommen.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verbessert die Aufsicht und die Qualität der medizinischen Begutachtung in der IV. So werden etwa die Zielvereinbarungen mit den IV-Stellen überarbeitet, die Perspektive der Versicherten einbezogen, Probegutachten verlangt und die Rückmeldungen an die Gutachter verbessert.