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Kampf gegen Gewalt an Frauen braucht mehr Mittel

August 2021

Die Istanbul-Konvention ist ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Im ersten Staatenbericht zur Umsetzung des Abkommens zieht der Bund eine positive Bilanz. Das zivilgesellschaftliche «Netzwerk Istanbul-Konvention» hingegen beurteilt die bisherige Umsetzung als ungenügend.

Istanbul-Konvention

Die Europaratskonvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen (Istanbul-Konvention) wurde 2011 als erstes internationales Übereinkommen zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt formuliert.

«Die Konvention stellt Gewalt gegen Frauen in ihren unterschiedlichsten Formen unter Strafe. Sie schützt Frauen und Mädchen aller Schichten, unabhängig von Alter, Rasse, Religion, sozialer Herkunft, sexueller Orientierung oder Aufenthaltsstatus vor diesen Formen von Gewalt

Die Istanbul-Konvention bezieht sich auf die drei thematischen Handlungsfelder «Gewaltprävention», «Gewaltschutz» und «Strafverfolgung», sowie ein viertes, steuerungsorientiertes Handlungsfeld «umfassendes und koordiniertes Vorgehen».

Die Schweiz unterschrieb die Konvention am 11. September 2013 und ratifizierte sie am 1. April 2018.

Gewalt gegen Frauen ist ein auch in der Schweiz ein weit verbreitetes Phänomen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben. Gemäss dem Bundesamt für Statistik BFS hat in der Schweiz beispielsweise die häusliche Gewalt im Jahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 6.2 Prozent zugenommen und ist auf fast 20000 Fälle angestiegen. Dabei handelte es sich in 15 Fällen um vollendete Tötungsdelikte innerhalb einer Partnerschaft; 14 der getöteten Personen waren Frauen. Fachleute gehen ausserdem von einer hohen Dunkelziffer aus.

Die Schweizer Regierung hat diese Problematik anerkannt und sich mit der Unterzeichnung der «Europaratskonvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt» verpflichtet, konkrete und koordinierte Massnahmen in den Bereichen Gewaltprävention, Gewaltschutz und Strafverfolgung zu ergreifen. Seit 2018 ist die sogenannte Istanbul-Konvention in Kraft.

Am 18. Juni dieses Jahres hat der Bund dem Europarat nun erstmals einen Staatenbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention vorgelegt. Der Bericht hält fest, dass sich die Konvention sehr positiv auf das öffentliche Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ausgewirkt habe. Dadurch sei die Notwendigkeit von kontinuierlichen und verstärkten Massnahmen zu deren Bekämpfung stärker in den Fokus politischer Debatten auf allen föderalen Ebenen gerückt, schreiben die Autor*innen. Insgesamt werden sowohl die Konvention als solche, als auch die Aktivitäten und Massnahmen, die sie in der Schweiz ausgelöst haben, sehr positiv bewertet.

Um die Umsetzung weiter voranzutreiben, wurde das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG mit der Erarbeitung eines nationalen Aktionsplans 2022-2026 beauftragt.

Kritik von Seiten der Zivilgesellschaft

Ebenfalls im Juni 2021 hat das «Netzwerk Istanbul Konvention» seinen «Alternativbericht der Zivilgesellschaft» veröffentlicht. Im Gegensatz zur Schweizer Regierung hält das Netzwerk, namentlich die darin zusammengeschlossenen rund 100 nichtstaatlichen Fachstellen und NGOs, die aktuellen und geplanten Massnahmen «bei weitem für nicht ausreichend». Der Staat unternehme zu wenig zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und sei daher mitverantwortlich für Gewaltsituationen, schreibt das Netzwerk in seiner Medienmitteilung zum Bericht.

Insgesamt fehlt leider der politische Wille, die Istanbul-Konvention wirklich umzusetzen

Simone Eggler, Brava

In der täglichen Arbeit mit Gewaltbetroffenen und Tatpersonen zeige sich, dass es «an rechtlichen und praktischen Massnahmen für einen echten Opferschutz zugunsten aller Gewaltbetroffenen, nachhaltiger Prävention und gerechter Strafverfolgung fehle», schreibt das Netzwerk. So seien Massnahmen gegen Gewalt und Angebote für Betroffene nicht auf die Bedürfnisse von Opfern ausgerichtet und für manche Gruppen nur bedingt zugänglich, etwa für Menschen mit Behinderungen, Migrantinnen, LGBTIQA+-Menschen und alte Menschen. Es brauche daher mehr Geld und Massnahmen zur Verhinderung aller Formen von Gewalt und zum Schutz aller Opfer.

Der Alternativbericht enthält einen umfangreichen Forderungskatalog. Zentraler Fokus ist die inklusive und diskriminierungsfreie Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz.

Schutz von Kindern besonders wichtig

Kinderschutz Schweiz setzt sich zudem für einen besonderen Fokus auf Kinder ein. In ihrem «Ergänzungsbericht» weist die Organisation darauf hin, dass die Istanbul-Konvention neben Frauen explizit auch Mädchen bis 18 Jahre miteinschliesse (Artikel 3 f). Artikel 2 empfehle zudem, Massnahmen betreffend innerfamiliäre Gewalt auch auf Knaben bis 18 Jahre zu erweitern.

Kinder erlebten innerfamiliär zum einen Formen psychischer oder körperlicher Gewalt. Zum anderen sind sie dem Miterleben häuslicher Gewalt gegen einen Elternteil ausgesetzt. Kinderschutz Schweiz fordert deshalb die Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung.


«Die Istanbul-Konvention ist auch für die Soziale Arbeit eine Chance»

Fünf Fragen an Simone Eggler, Brava (ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz)

sozialinfo.ch / Martin Heiniger: Was ist das Besondere an der Istanbul-Konvention, in Abgrenzung zu anderen Konventionen wie etwa der UNO-Frauenrechtskonvention CEDAW?

Brava / Simone Eggler: Die beiden Instrumente sind recht unterschiedlich. Die CEDAW ist in der Schweiz weniger bekannt als die Istanbul-Konvention (IK), obwohl sie um einiges älter ist. Zudem sind ihre Verpflichtungen eher auf einer Metaebene angesiedelt und daher oft Auslegungssache. Die IK hingegen formuliert konkrete und greifbare Verpflichtungen, sowohl für Entscheidungsträger*innen, als auch für die Berufsgruppen, die involviert sind. Dadurch konnte die IK eine Dynamik in Gang setzen.

SIMONE EGGLER

ist Historikerin und Aktivistin mit langjähriger Erfahrung im Bereich Gewalt & Geschlecht. Sie arbeitet als Verantwortliche im Bereich Politik bei Brava, ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz.

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Der Bund beurteilt die Umsetzung der Istanbul-Konvention viel besser, als die NGOs im Bericht der Zivilgesellschaft. Was ist Ihre Kritik?

Es gibt zum einen diese Dynamik, die es zu honorieren gilt, was wir auch tun. Trotzdem fehlt es noch an vielem. So gibt es etwa nach wie vor kein Gesetz für eine nachhaltige Finanzierung von Frauenhäusern. Da es beispielsweise keine Sockelfinanzierung gibt, sind sie auf Spenden angewiesen.

Ein anderes, sehr aktuelles Beispiel ist etwa das Urteil im Basler Vergewaltigungsfall. Die IK schreibt vor, dass die Strafverfolgungsbehörden aller Kantone obligatorisch zum Themenkomplex Gewalt, Geschlecht und Stereotypen ausgebildet sein müssten. Das ist aber hier, wie auch in anderen Kantonen, nicht der Fall.

Eine weitere wichtige Verpflichtung, die nicht umgesetzt ist, ist die Schaffung von Krisenzentren für Opfer von Gewalt. Hier sollten die Betroffenen medizinische und psychologische Erstversorgung erhalten, und mit mittel- oder längerfristigen Begleitungs- und Opferhilfeangeboten vernetzt werden. Zudem sollten Spuren von Gewaltdelikten professionell rechtsmedizinisch gesichert werden, damit sie bei allfälligen Gerichtsverfahren verwendet werden könnten. Die Kantone haben sich zwar dazu bekannt, das prioritär zu behandeln, aber diese Arbeiten kommen überhaupt nicht voran.

Das heisst, es geht zwar in die richtige Richtung, aber es passiert zu wenig und zu langsam?

Ja. Es gibt natürlich auch Bewegungen und Ansätze, um die wir sehr froh sind. Im Corona-Lockdown haben Frauenhäuser in manchen Kantonen unbürokratische Hilfe erhalten. In Bezug auf das Thema Häusliche Gewalt war das letzte Jahr eine Chance, da es grössere Aufmerksamkeit erhalten hat.

Aber die Entwicklung ist insgesamt zu zögerlich, zu verhalten, gerade auch, wenn man die Gewaltstatistiken anschaut. Dabei handelt es sich nur um die gemeldeten oder andeweitg erfassten Delikte. Zur Erfassung der Dunkelziffer, die als hoch eingeschätzt wird, fehlen Prävalenzstudien.

Es müssten massiv mehr Ressourcen zur Gewaltbekämpfung zur Verfügung gestellt werden. Die Pandemie hat ja gezeigt, dass Staaten schnell reagieren könnten. Schliesslich hat auch die Gewalt epidemische Ausmasse; in der Schweiz gibt es wohl mehr Personen, die von Gewalterlebnissen betroffen sind, als bisher von Corona. Jedoch ist es gerade durch die Pandemie schwieriger geworden, Gelder zu erhalten. Insgesamt fehlt leider der politische Wille, die Istanbul-Konvention wirklich umzusetzen.

Welche Bedeutung hat die Istanbul-Konvention für die Soziale Arbeit?

Bei Gewaltfragen geht es oft um Beratungs-, Schutz- oder auch Präventionsangebote. Davon ist die Soziale Arbeit ein wichtiger Teil. Allerdings ist ja die Soziale Arbeit eines der Felder, in denen es an Ressourcen mangelt, sei es für die Prävention, oder zur Unterstützung und zum Schutz von Betroffenen.

Im aktuellen Parlament sind jedoch Sachen möglich, die vorher nicht durchkamen. Das hat mit der neuen Zusammensetzung, aber auch damit zu tun, dass das öffentliche Bewusstsein und der Druck der Strasse gestiegen sind. Die IK ist daher auch für die Soziale Arbeit eine Chance. Gerade weil sie so konkret formuliert ist, gibt sie ein Instrument in die Hand, um Forderungen zu stellen. Es lohnt sich deshalb für Fachpersonen der Sozialen Arbeit sehr, die IK genau anzuschauen.

Welches sind die wichtigsten Massnahmen aus ihrer Sicht?

Ich hüte mich, bestimmte Themen zu priorisieren. Das Netzwerk Istanbul Konvention setzt auf einer übergeordneten Ebene an. Zum einen braucht es grundsätzlich massiv mehr Ressourcen, wenn der Kampf gegen Gewalt ernsthaft geführt werden soll. Und zum anderen ist der Artikel 4 der IK ganz wichtig, also die inklusive, diskriminierungsfreie Umsetzung aller Massnahmen. So wird es beispielsweise früher oder später ein 24-Stunden-Beratungsangebot für Gewaltbetroffene geben, das ist im Parlament anerkannt worden. Hier könnte man natürlich einfach eine Minimalvariante in Form einer Hotline machen. Nun darf aber ein solches Angebot nicht nur gutgebildeten, weissen, in der Schweiz geborenen Menschen offenstehen, die deutsch sprechen können. Es muss einen niederschwelligen Zugang anbieten und beispielsweise auch anderweitige, etwa schriftliche Kommunikationsmöglichkeiten beinhalten, für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht via Telefon Kontakt aufnehmen können. Wir sprechen daher bewusst nie von einer Hotline. Dieses inklusive Denken ist aber längst noch nicht überall angekommen. Das ist wahrscheinlich, nebst der Ressourcenfrage, die grösste Herausforderung.


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