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Assistenzbeitrag: Gute Bewertung mit Vorbehalten

Januar 2021

Im Evaluationsbericht des Büro BASS im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) erhält der 2012 eingeführte Assistenzbeitrag gute Noten. Die Behindertenverbände anerkennen die Verdienste dieses Modells, haben dennoch gewichtige Vorbehalte. Sie kritisieren vorab, dass die Zugangsbedingungen wesentliche Gruppen von Menschen mit Behinderungen ausschliessen.

Worum es geht

Nach einer mehrjährigen Pilotphase wurde der Assistenzbeitrag 2012 definitiv eingeführt. Dabei handelt es sich um ein finanzielles Unterstützungsmodell der Invalidenversicherung (IV). Es ermöglicht es Menschen mit Behinderungen, in einer eigenen Wohnung zu leben, indem sie die benötigten Betreuungs- und Pflegeleistungen von Assistenzpersonen direkt bei sich zuhause in Anspruch nehmen. Die „Assistenzbeziehenden“ stehen dadurch den Assistenzpersonen als Auftrag- bzw. Arbeitgeber*innen gegenüber.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat das Modell seit der Einführung regelmässig evaluieren lassen. Das beauftragte Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) hat nun den Schlussbericht publiziert, mit welchem das BSV die externe Evaluation abschliesst.

Inanspruchnahme des Assistenzbeitrags

Gemäss Bericht haben seit Anfang 2012 total 3466 Erwachsene und 950 Minderjährige einen Assistenzbeitrag bezogen. Im Jahr 2019 waren es 2940 erwachsene Personen. Das entspricht  7.1 Prozent aller erwachsenen Personen, die eine Hilflosenentschädigung beziehen. Bei den Minderjährigen sind es für das Jahr 2019 696 Personen, was ebenfalls 7.1 Prozent  aller (minderjährigen) Beziehenden von Hilflosenentschädigung sind.

Der Bericht hält fest, dass es in Kantonen, die "im Rahmen ihrer Abklärungsprozesse dem Dialog eine vergleichsweise hohe Priorität einräumen", bis zu 50 Prozent mehr Assistenzbeziehende gibt. Der Einbezug und die sorgfältige Information der Betroffenen erweisen sich hier als wichtige Faktoren für die Selbstbestimmung.

Ein auffälliger Befund ist, dass der Anteil von Assistenzbeziehenden mit psychischen Beeinträchtigungen sowie mit Geburtsgebrechen mit 5 Prozent bzw. 9 Prozent stark untervertreten sind. Stark vertreten sind dagegen Personen die aufgrund des Nervensystems (22 Prozent) oder der Knochen und Bewegungsorgane (15 Prozent) von Beeinträchtigungen betroffen sind. Personen, denen eine Hilflosigkeit schweren Grades attestiert wurde, beziehen mit 34.6 Prozent deutlich häufiger einen Assistenzbeitrag als Personen mittlerer oder leichter Hilflosigkeit (6 bzw. 10.9 Prozent).

Die Hilflosenentschädigung der IV

Menschen mit Behinderungen, die bei alltäglichen Lebensverrichtungen eingeschränkt sind und dabei Hilfe benötigen, können von der IV eine Hilflosenentschädigung erhalten. Dies kann auch für Personen gelten, die zuhause leben.

Je nachdem, welcher Grad an Unterstützung, das heisst auch an Pflege oder Überwachung benötigt wird, wird zwischen leichter, mittlerer und schwerer Hilflosigkeit unterschieden. 

Mehr Informationen finden Sie bei der Informationsstelle AHV/IV.

Das BSV ist mit der Zielerreichung zufrieden

Wie bereits mit den Zwischenberichten zieht das BSV auch mit dem Schlussbericht eine positive Bilanz. Die Befragung der Assistenzbeziehenden (bzw. ihrer Angehörigen) zeigt auf, dass die gesteckten Ziele erreicht werden können. So gaben rund drei Viertel an, dass sich ihre Lebenssituation durch den Assistenzbeitrag verbessert habe. Von den Befragten sind 58 Prozent mit ihrer aktuellen Lebenssituation zufrieden oder sogar sehr zufrieden.

Der Bericht hält fest, dass die Verbesserungen unabhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Gebrechensart, Höhe der Hilflosenentschädigung oder Einwohnergrösse der Gemeinde seien. Jedoch empfinden Assistenzbeziehende, die vorher in einem Heim gewohnt haben, eine besonders starke Verbesserung ihrer Lebenssituation durch den Assistenzbeitrag.

Behindertenverbände mit Vorbehalten

Behindertenverbände anerkennen diese Erfolge, fokussieren jedoch auch auf das, was der Bericht ausklammert: Diejenigen Menschen mit Behinderungen, denen die Hindernisse zu gross sind, um in den Genuss eines Assistenzbeitrags zu kommen.

Der Branchenverband Insos hält den Grad der Inanspruchnahme von 7.1 Prozent  für „erstaunlich tief“. Den Grund sieht er darin, dass der Assistenzbeitrag als Arbeitgebermodell konzipiert ist. Mit der Rolle als Arbeitgeber sind anspruchsvolle administrativen Pflichten verbunden, z.B. zur Abrechnung der Assistenzleistungen. Vor allem Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung können dadurch schnell überfordert werden. Auch Insieme bedauert, dass dadurch der Zugang zum Assistenzbeitrag „für Menschen mit einer geistigen Behinderung stark eingeschränkt“ sei.

Eine weitere hohe Hürde stellt die vorausgesetzte Handlungsfähigkeit dar. Für Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit bestehen zusätzliche Bedingungen, die einen grossen Teil der Betroffenen ausschliessen (siehe rechte Spalte). So wird bedauert, dass die Voraussetzung einer Arbeit oder Ausbildung im regulären Arbeitsmarkt sowohl Personen  ausschliesst, die eine Praktische Ausbildung (PrA) absolvieren, als auch solche, die im regulären Arbeitsmarkt arbeiten möchten, aber keine Stelle finden, da es zu wenige Jobangebote gibt.

Aufgrund dieser und weiterer Hindernisse stimmen Behindertenorganisationen nur bedingt in das positive Urteil des BSV ein und fordern den Abbau dieser Hürden.

Leseempfehlungen

Ambulante Dienste e.V.

Film: "Rein ins Leben mit persönlicher Assistenz"

Entsprechend dem Motto "Inklusion – Dabei sein von Anfang an" zeigt der 16minütige Film Szenen aus dem Alltag zweier auf Assistenz angewiesener Menschen und lässt sie und zwei Personen, die als Assistenten arbeiten, zu diesem Thema zu Wort kommen. Dadurch wird sehr plastisch deutlich, was persönliche Assistenz ist, und welche Möglichkeiten sich dadurch für die Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen ergeben.

Selbstbestimmt unterstützt durch Assistenz

Eine empirische Untersuchung zur Einführung und Umsetzung des Assistenzbeitrags in der Schweiz

Die Subjektfinanzierung und das Konzept der Assistenz haben in diversen europäischen Ländern zu Veränderungen im Hilfesystem geführt. In der Schweiz ist es Menschen mit einer Behinderung seit dem Jahr 2012 möglich, mit dem Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung ein selbstbestimmtes Leben zu führen.Nebst den historischen Entwicklungen im Behinderten-wesen fokussiert die Autorin die individuelle Perspektive der unmittelbar betroffenen Personen. Die Analyse der Gespräche zeigt, dass die persönliche Assistenz als notwendig und unverzichtbar bewertet wird. Barbara Egloff thematisiert die vielseitigen Herausforderungen, die mit dem Assistenzbeitrag in Zusammenhang stehen, und diskutiert mögliche Lösungsansätze dafür.


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