Ausgewählte Schlussresultate
Der Verein sozialinfo.ch beauftragte die Hochschule Soziale Arbeit FHNW mit einer Studie zum Bedarf der Sozialen Institutionen bezüglich dem technologischen Wandel. Dabei interessierte uns die Frage, wie Soziale Institutionen und ihre Mitarbeitenden mit der Digitalisierung umgehen und ob bereits interessante Vorzeigeprojekte für die Soziale Arbeit bestehen.
Zusammenfassung ausgewählter Resultate aus der Studie (2019)
Sarah Bestgen und Roger Kirchhofer
Die im Auftrag des Vereins sozialinfo.ch durchgeführte Studie mit dem Ziel, den Bedarf der Sozialen Institutionen in der Schweiz bezüglich technologischem Wandel zu erkennen, hat keinen repräsentativen Charakter, weshalb nachfolgend von Thesen die Rede ist. Dies bedeutet, dass sich Hinweise aus dem Datenmaterial ergeben, woraus jedoch keine gesicherten Aussagen für alle sozialen Organisationen in der Schweiz abgeleitet werden können.
In einem ersten Teil der Studie wurden quantitative Daten in einer telefonischen Befragung erhoben. Hierzu wurde ein Aufruf zur Studienteilnahme via Mail (durch die Geschäftsstelle von sozialinfo.ch und durch das Team der FHNW) an soziale Organisationen verschickt. Die Resonanz war hoch und die geplante Anzahl von 100 teilnehmenden Organisationen wurde erreicht. Auf Grundlage des ersten Teils der Bestandsaufnahme wurden zehn vertiefende Interviews aus den bereits befragten 100 Organisationen geführt. Hierbei lag der Fokus auf der Identifikation der zentralen Treiber der digitalen Transformation.
Im Vorfeld zur Erhebung wurde ein Reifegradmodell der Autorinnen Berghaus und Back (2016) zur Messung der digitalen Transformation aus dem Profitbereich adaptiert und im Laufe der Studie zu einem Analysemodell für den Sozialbereich angepasst. In Anlehnung an das Modell wurden neun Bereiche der digitalen Transformation untersucht und deren Relevanz und Verortung innerhalb der sozialen Organisationen für das Analysemodell geprüft.
Es folgen drei Thesen, welche aus dem Datenmaterial hervorgehen. Zuvor wird ein Verständnis von Digitalisierung definiert, welches im Rahmen der Studie verwendet wurde:
Kreidenweis (2018) setzt den Fokus seines Verständnisses von Digitalisierung auf die Entmaterialisierung bestehender Produkte wie beispielsweise Musik, Fotos oder gar Geld. Stattdessen haben wir eine Musikcloud oder einen Streaming-Anbieter, wir haben unsere Bilder auf dem Handy und bezahlen mit einer Karte. Alles funktioniert mittels Übertragungen von Bits und Bytes. In der Folge sind riesige Mengen an Daten „nahezu kostenfrei transportierbar, kopierbar und elektronisch auswertbar und verändern so die Wertschöpfungsketten in vielen Bereichen des Wirtschaftens radikal.“ (Kreidenweis 2018, 12-13). Wir stützen das Verständnis von Kreidenweis und ergänzen es mit der Perspektive von Organisationen. Berghaus und Back (2016) verstehen unter der digitalen Transformation die Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Organisation, aber auch von Produkten durch digitale Technologien. Deren rasch voranschreitende Entwicklung sowie die daraus resultierten Innovationen haben in Unternehmen und ganzen Branchen zu disruptiven Veränderungen geführt (Berghaus und Back 2016: 99).
In den Gesprächen mit Vertretenden der sozialen Organisationen konnten wir unterschiedlich stark ausgeprägt reflektierte Verständnisse von Digitalisierung feststellen. Bei vielen ist gleichzeitig ein Handlungsdruck spürbar, ohne dass dieser genau benannt werden könnte.
These 1:
Unter Digitalisierung im engeren Sinne werden je nach befragter Organisation unterschiedliche Dinge verstanden. Das Verständnis von Digitalisierung ist oftmals eng gefasst.
Im quantitativen Befragungsteil wollten wir von den Organisationen wissen, wofür sie Technologien nutzen. Dabei sollten sie unsere Aussagen dazu auf einer Skala von eins bis zehn bewerten, wobei mit steigender Zahl auch die Zustimmung zur Aussage steigt.
Es zeigt sich, dass eine allgemein mittlere bis hohe Zustimmung bei der Steigerung von Effizienz und Qualität der internen Abläufe besteht. Eher wenige haben eine Einschätzung in der unteren Hälfte der Skala vorgenommen. Der Mittelwert liegt bei 6.95.
Geht es um die Automatisierung von Abläufen, so zeigt sich bereits ein verändertes Bild:
Die Verteilung fällt breiter aus, es sind häufiger Werte in der unteren Skalenhälfte erkennbar. Der Mittelwert liegt bei 5.94.
Geht es um das Erreichen der Zielgruppe, so ist dies eindeutig kein zentraler Fokus von sozialen Organisationen. Der Mittelwert liegt bei 4.81. Die höchsten Säulen sind im untersten Bereich zu erkennen.
Es zeigt sich aus den Interviews, dass bereits unterschiedliche Erfahrungen mit digitalen Kommunikationskanälen bestehen. Diese sind nicht durchwegs positiv. Die Kommunikation mit digitalen Medien braucht Verhaltensregeln, welche erst definiert und anschliessend gemeinsam getragen werden müssen. So besteht heute die Herausforderung zu entscheiden, wo und gegebenenfalls wie unter dieser Voraussetzung digitale Kommunikationskanäle nach aussen eingesetzt werden können. Andererseits sind Social Media-Kanäle je nach Zielgruppe infrage zu stellen. Eine Person meinte im Interview dazu: „Wir verzichten bewusst auf Social Media. Die Jugendlichen wollen nicht mit einer Beratungsstelle befreundet sein auf Facebook. Sie finden auch keinen guten Umgang damit.“
Gleichzeitig erhofft man sich mit den digitalen Entwicklungen Lösungen, welche in Zukunft die Arbeit vereinfachen sollen, so beispielsweise im Kontext von Übersetzungsarbeiten, welche via Knopfdruck fehlerfrei umgesetzt werden könnten oder künstliche Intelligenzen, welche redundante Anfragen standardisiert erkennen und bearbeiten könnten.
Grundsätzlich zeigt sich, dass die geführten Gespräche sehr stark von der Gegenwart geprägt sind. Die interviewten Personen haben aktuelle Anliegen, welche ihr Verständnis von Digitalisierung stark dominieren und auf die aktuellen Herausforderungen beschränken. Weiter wird ersichtlich, dass die umgesetzten Digitalisierungsprojekte durch die Leitung initiiert und getragen werden. Mitarbeitende werden miteinbezogen, insbesondere wenn es um die Optimierung der neuen Prozesse geht. Der Impuls ist jedoch leitungsgetrieben.
Bei den befragten Organisationen zeigt sich eine „Bodenständigkeit“ der geplanten Entwicklungen. Das bedeutet, dass soziale Organisationen sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen wie beispielsweise dem papierarmen Büro, der Überarbeitung des Webauftritts oder dem Einbezug ergänzender Kommunikationskanäle, wobei bei Letzterem häufig die Prüfung von bestehenden Social Media-Plattformen im Zentrum steht. Innovative Produkte resp. Projekte, welche etwas Neues mit besonderem Mehrwert erschaffen, bilden eher die Ausnahme. Dabei unterscheiden sich die einzelnen zielgruppenspezifischen Tätigkeitsfelder höchstens graduell. So sind beispielsweise in der aufsuchenden Sozialen Arbeit (z.B. Gassenarbeit) mobile Geräte mit entsprechenden Apps in Entwicklung oder bereits im Einsatz. Diese dienen jedoch stärker als Informationskanäle für die Sozialarbeitenden als der direkten Anwendung durch Klientinnen und Klienten. Vereinzelt wurden auch Apps entwickelt, welche es beispielsweise in der Arbeitsintegration von Jugendlichen der Zielgruppe erleichtern zu kommunizieren und ihre Dokumente zu verwalten.
These 2:
Es bestehen ungleiche Voraussetzungen für die Digitalisierung im Sozialbereich, abhängig von unterschiedlichen Faktoren.
Unsere Befragung zeigt zwei zentrale Faktoren auf, welche für die Organisationen resp. deren digitaler Transformation von Bedeutung sind.
Erstens ist die Unterstützung der Leitung bei digitalen Vorhaben entscheidend. Je stärker die Leitung einer Organisation hinter den Projekten steht desto weiter entwickelt ist die Organisation. Ein zweiter wichtiger Faktor für die Realisierung von Projekten ist die Finanzierungssicherheit. Die notwendigen Ressourcen müssen durch die Leitung zur Verfügung gestellt werden. Die Ressourcen umfassen sowohl finanzielle Mittel als auch Arbeitszeit. Die Leitung ist daher in einer Organisation der Motor, welcher Entwicklungen vorantreiben kann. Mitarbeitende können zwar durch ihr Wissen zu den Prozessen in der Organisation Neuerungen initiieren, sind aber auf den Rückhalt bei den Leitungen angewiesen. Gerade bei grösseren Organisationen kann dies unter den Mitarbeitenden auch zu Frustration und Motivationsverlust führen. Sie erkennen in ihrer täglichen Tätigkeit zwar Optimierungsmöglichkeiten, wenn diese Möglichkeiten jedoch über mehrere Linienstufen in der Organisation kommuniziert werden müssen, so versanden die Ideen oft. Je grösser eine Organisation ist und je autonomer die ICT-Abteilung agieren kann desto schwieriger ist es Mitarbeitende für Innovationen zu motivieren.
Unterschiedliche Rahmenbedingungen zeigen sich aber vor allem auch zwischen staatlichen und privaten Organisationen. Dabei existieren auf beiden Seiten sowohl förderliche als auch hinderliche Faktoren.
Private Organisationen sind stärker dem Marktdruck ausgesetzt. Sie müssen zum einen nach Möglichkeit das beste Angebot entwickeln, zum anderen dieses aber auch möglichst kostengünstig produzieren können. Dies führt zum Anreiz, die Angebote und Prozesse stetig weiter zu optimieren. Staatliche Organisationen (beispielsweise die wirtschaftliche Sozialhilfe) spüren diesen Druck weniger stark. Private Organisationen spüren zwar den grösseren Marktdruck, sie besitzen dafür aber auch wesentlich grösseren Handlungsspielraum. Die Leitungen von privaten Organisationen können einfacher Projekte initiieren und die Ressourcen sprechen. Die Studie hat deutlich gezeigt, dass bei privaten Organisationen die Leitungen den digitalen Wandel stärker unterstützen als bei staatlichen Organisationen.
Private Organisationen sehen Verbesserungen durch digitale Innovation jedoch stärker als Investitionen, welche geschützt werden sollen. Das heisst, dass ein gegenseitiges Lernen durch „Best-practice“ nicht im Sinne der Innovationstreiber ist. Die selbst entwickelten Innovationen sollen möglichst lange als Marktvorteile gegenüber den Mitbewerbenden genutzt werden können. Dem Konkurrenzdruck unterliegen die staatlichen Organisationen nicht. Sie sind zuständig für ihr geografisches Gebiet (z.B. Gemeinde oder Kanton) und besitzen auf diesem Gebiet ein Monopol für gewisse Leistungen. Die einzelnen staatlichen Organisationen sind stärker bestrebt voneinander zu lernen und Innovationen auch anderen zugänglich zu machen, dies zeigt sich beispielsweise bei der Bildung von regionalen ERFA-Gruppen, welche den Austausch und eine gemeinsame Vertretung gegenüber den Anbietern von Digitalisierungslösungen bezwecken. Der Leiter einer staatlichen Organisation hat dies so ausgedrückt: „Wir haben ein grosses Interesse daran, unseren Partnern unsere Innovation zur Verfügung zu stellen, im Gegensatz zu privaten Anbietern die im Wettbewerb stehen. Wären sie eine Konkurrenz würde ich sagen, nein, wir haben einen Wettbewerbsvorteil, dann würde auch meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit sinken. Und weil wir vernetzt sind, sind wir auf diese Partner angewiesen. Dann teile ich auch unser Wissen, Leitfäden, Lessons learned um ihnen Fehler zu ersparen.“
These 3:
Die Bestrebungen zur Digitalisierung orientieren sich oftmals nicht am Bedarf oder an den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten. Diese sind oftmals nicht bekannt.
Aus der Befragung geht hervor, dass 87% der Organisationen neue Bedürfnisse bei ihren Klientinnen und Klienten feststellen, welche mit der Digitalisierung in Zusammenhang stehen. Diese Bedürfnisse bestehen unabhängig von Handlungsfeldern, Zielgruppen oder Tätigkeiten der Organisationen. Im Vordergrund stehen dabei die neuen Kommunikationskanäle und damit einhergehend auch der Smartphone-Gebrauch, der zu veränderten Bedürfnissen führt. Konkret bestehen heute höhere Erwartungen an die Erreichbarkeit, Kommunikationskanäle und die Geschwindigkeit der Prozesse. Wurden beispielsweise Unterlagen früher per Post eingereicht und damit verbunden ein entsprechender Zeitpuffer für den Postweg und Bearbeitung des Anliegens einberechnet, werden Dokumente heute abfotografiert und per Mail versendet. Eine Bearbeitung wird in der Folge ebenfalls in kürzester Zeit erwartet. Ein weiteres Bedürfnis betrifft die Medienkompetenz der Klientinnen und Klienten, beispielsweise müssen sich stationäre Einrichtungen für Jugendliche Gedanken zur Stärkung der Medienkompetenz machen. Angebote welche Seniorinnen und Senioren als Zielgruppe vorsehen hingegen müssen sich überlegen, wie sie die Personen hinsichtlich der digitalen Herausforderungen stärken können. Letztendlich gehen diese Überlegungen immer gleichzeitig einher mit der eigenen Medienkompetenz, welche hinterfragt und in welche investiert werden muss.
Rund zwei Drittel der Organisationen erhebt Daten zur Angebotsnutzung der Klientschaft, jedoch nur rund ein Drittel dieser Organisationen verwendet diese auch für die Ausrichtung der digitalen Angebote. Dass Datenfriedhöfe entstehen und bestehende Daten aus unterschiedlichen Gründen nicht für die Weiterentwicklung der eigenen Angebote genutzt werden, ist eine Tatsache an der möglicherweise grosses Potenzial verloren geht.
Grundsätzlich fällt auf, dass die befragten Organisationen nicht in Erfahrung bringen, was ihre Klientinnen und Klienten von ihnen erwarten oder welche Wünsche sie an die gebotene Dienstleistung richten. Beispielhaft lassen sich folgende Zitate aus den Interviews wiedergeben:
«Wäre das ein Bedürfnis der Klienten, dass sie ihre Akten besser kennen und wissen was läuft? – Das müsste man die Leute fragen. Ich denke eher nicht. Mich fragt niemand, was in den Akten ist»
«Es gab schon vereinzelt Leute, die fanden die Homepage nicht gut. Man sollte den Informationsteil zugänglicher gestalten. Vielleicht wäre eine App noch eine Idee. Aber konkret hat bei mir noch nie jemand nachgefragt».
Diese Beispiele zeigen, dass vereinzelt eine proaktive Haltung seitens Klientschaft erwartet wird, um ihre Ideen aufzunehmen. Gleichzeitig werden Ideen generiert (und teilweise umgesetzt), ohne vorher zu prüfen, ob sie von der Zielgruppe getragen werden. Diese Vorgehensweise birgt Risiken in sich: im obengenannten Beispiel könnte eine App entwickelt werden, welche im Endeffekt nicht die gewünschte Resonanz erzielt, sei dies weil das Produkt nicht der Zielgruppe entspricht oder dessen Umsetzung nicht die vorherrschenden Bedürfnisse befriedigt.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass Organisationen im Sozialbereich häufig reaktiv tätig sind. Sie antizipieren Herausforderungen, welche in der Praxis an sie gestellt werden, und versuchen darauf adäquate Antworten zu finden. Das bestehende Technologiedefizit führt jedoch dazu, dass in den Organisationen häufig Insellösungen gefunden werden. Diese sind teilweise nicht kompatibel mit anderen Geschäftsprozessen oder den Prozessen anderer Organisationen. Der Konkurrenzdruck, vor allem bei privaten Organisationen im Sozialbereich führt dazu, dass Innovationen als Investitionen gesehen werden, welche möglichst nicht mit anderen geteilt werden. Innovationen gehen auch nur selten über das «allgemein Denkbare» hinaus. Sie umfassen allenfalls die Schnittstellen zu Klientinnen und Klienten oder die Vereinfachung von internen Abläufen durch die Digitalisierung von Dokumenten. Weiterführende Innovationen sind nur selten erkennbar. Wenn der Sozialbereich sein Defizit bei der Digitalisierung aufholen möchte, so wären vermehrte Kooperationen und die Bildung von Think Tanks sinnvoll.
Zuständig für Rückfragen sind:
Verein sozialinfo.ch:
Christine Mühlebach: christine.muehlebach@sozialinfo.ch
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW:
Sarah Bestgen: sarah.bestgen@fhnw.ch
Die Mitteilung steht hier zum Download bereit.
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