In der Digitalität finden Menschen nicht nur sehr unterschiedliche Lösungen, wie sie etwa digitale Kommunikation in ihren Alltag integrieren, die Individuen schaffen damit auch unterschiedlichste Sozialräume, in denen leibliche und digitale Elemente zusammenkommen. Das ist eine Herausforderung für die Soziale Arbeit, vor allem wenn sie sich als sozialräumlich versteht. Die Autor*innen berichten über ein Projekt, das hier eine konstruktive Herangehensweise gefunden hat.
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Mittwochmorgen wie jeder andere – ich steige in die S-Bahn zur Arbeit. Ich sinniere über die anstehenden Aufgaben des Tages nach, während ich aus dem Fenster blicke. Das Surren meines Smartphones lässt mich auf das Display schauen: Eine Benachrichtigung einer Social Media App – ich werde in einem Beitrag erwähnt. Auf der Plattform hat sich eine fachliche Diskussion zu einem Zeitungsbeitrag entwickelt. Eine Kollegin macht mich darauf aufmerksam und fragt nach meiner Position. Ich verfasse einen Kommentar.
Szenen wie diese sind den meisten Menschen aus ihrem Alltag bekannt. Dabei entsteht das Gefühl, in mehreren Räumen gleichzeitig sein zu können. Während ich mit anderen gemeinsam mit dem Zug reise, eröffnet sich ein zweiter Raum, der sich zwischen den Kommunikationsteilnehmer*innen auf Social Media aufspannt. Meine Kollegin und andere Diskussionsbeteiligte finden zusammen, um sich über einen fachlichen Aspekt auszutauschen. Währenddessen geht meine Zugfahrt weiter. Allenfalls begleitet mich der kommunikativ etablierte Raum durch den ganzen Tag. So entstehen in der Digitalität durch das Alltagshandeln von Menschen nicht nur sehr verschiedene Realitäten, die Individuen schaffen auch unterschiedlichste Sozialräume, in denen leibliche und digitale Elemente zusammenkommen.
Dreidimensionale und mediatisierte soziale Räume
Mit Hilfe von raumsoziologischen Konzepten wird diese subjektive Erfahrung begrifflich fassbar. Seit einigen Jahren wird über eine Weiterentwicklung von Raumkonzepten diskutiert. Demnach wird der soziale Raum nicht einfach nur durch den dreidimensionalen Raum (etwa das Stadtquartier) bestimmt, sondern durch die Menschen aktiv konstruiert, indem sie an Orten verschiedene Elemente (wie Menschen und bedeutsame Gegenstände) zu Räumen zusammenfassen1. Indem in der Digitalität die digitale Kommunikation das Alltagshandeln durchdringt, können soziale Räume auch durch digital vermittelte Kommunikation entstehen. Menschen, Gegenstände und ihre Beziehungen können medial vermittelt («digital») sein. Auf diese Weise können an einem Ort mehrere Räume gleichzeitig entstehen.
Lebenswirklichkeiten werden schwieriger greifbar
Diese Erkenntnis ist auch für die Soziale Arbeit relevant, wenn sie sich an den Lebenswelten ihrer Adressat*innen und hierbei insbesondere sozialräumlich orientiert. Unter den Bedingungen der Digitalität ist es nämlich deutlich komplexer, Sozialräume und Lebenswelten greifbar zu machen.
Ein weiterer Einblick in den Alltag: Ich und meine Familie sind neu in das Quartier Heumatt in der Agglomeration einer grösseren Stadt gezogen. Beim Einzug macht uns unsere Vermieterin auf die eigene App aufmerksam. Das erweist sich schon bald als sehr praktisch, denn es zeigt sich, dass der Akkuschrauber defekt ist. In unserer Nachbarschaft findet sich schnell Ersatz. Auch die Schule der Kinder kommuniziert über einen eigenen Messenger. Beim Elternabend macht mich eine Mutter darauf aufmerksam, dass die Eltern der Klasse sich in einer Signal-Gruppe zusammengeschlossen haben. Die Kinder finden schnell Kolleg*innen im Quartier. Sie sind aber auch froh, über Social Media und die Messenger Kontakt mit Freund*innen zu halten.
Menschen gestalten an den verschiedenen Orten ihres Alltags immer wieder Sozialräume mit anderen für sie relevanten Personen. Dies ist Ausdruck der Kultur der Digitalität2, innerhalb derer die Individuen digitale Kommunikationsmittel und damit verbundene kulturelle Handlungen mit ihrem Alltagshandeln verknüpfen, um ihre subjektive Lebenswelt zu gestalten. Diese Subjektivität eröffnet sich nur den jeweiligen Menschen selbst, für Aussenstehende ist sie fast nicht zu beobachten (diese sehen nur «Menschen, die auf Bildschirme blicken»).
Sozialraumanalyse in der Kinder- und Jugendarbeit unter den Bedingungen der Digitalität
Dieser Herausforderung muss sich die Soziale Arbeit stellen, wenn sie die Lebenswelt erkunden möchte, um eigene Angebote zu entwickeln – insbesondere unter einer sozialräumlichen Perspektive. Dies zeigt sich etwa in der Kinder- und Jugendarbeit, wenn diese ihre Praxis unter den Bedingungen der Digitalität weiterentwickeln möchte.
Dabei kann sie auf etablierte Konzepte zurückgreifen3. Ausgehend von einem sozialräumlichen Verständnis von Kinder- und Jugendarbeit, kann etwa eine Sozialraumanalyse als Ausgangspunkt einer Konzeptentwicklung dienen, die sich nicht an institutionellen Logiken, sondern an den Bedarfen und Anforderungen von Kindern und Jugendlichen orientiert.
e_space
Das in den Jahren 2022 bis 2025 umgesetzte Aktionsforschungsprojekt e_space verfolgt das Ziel, in einem partizipativen Prozess mit Fachkräften, Jugendlichen und weiteren Anspruchsgruppen Konzepte und Instrumente für die Ausgestaltung digitaler Jugendarbeit zu entwickeln.
Klassische Methoden der sozialräumlichen Konzeptentwicklung können aber nur einen Teil des Methodenrepertoires darstellen, wenn Digitalität in der Lebenswelt umfassend betrachtet werden soll. Die bisherigen Ansätze und die bestehende Praxis müssen daher weiterentwickelt und mit neuen Ansätzen ergänzt werden.
Ethnografische Herangehensweise ermöglicht neue Perspektiven
Im Aktionsforschungsprojekt e_space entwickeln Akteur*innen der Kinder- und Jugendarbeit zusammen mit Forschenden ihre Praxis unter den Bedingungen der Digitalität weiter. Hier wurde eine ethnografische Herangehensweise gewählt, um die Lebenswelt von Jugendlichen zu erschliessen und Sozialräume zu analysieren.
Es hat sich dabei unter anderem gezeigt, dass dieser methodische Ansatz gut an bereits etablierte Praxis von Jugendarbeit anknüpft. Dabei waren die Fachpersonen häufig überrascht über das grosse Interesse von Jugendlichen am Austausch über ihr Medienhandeln. Dieser Eindruck widerspricht der unter Fachpersonen häufig geäusserten Annahme, dass Jugendliche in «ihren» (digitalen) Räumen lieber allein bleiben möchten und dass sich Jugendarbeiter*innen zurückhalten sollten, dort aktiv zu werden. Fachpersonen gewannen dadurch wertvolle Einblicke in das Alltagshandeln von Heranwachsenden und erhielten zugleich Anknüpfungspunkte für die Weiterentwicklung fachlicher Arbeit.
Auch wenn die Herangehensweise in einzelnen Aspekten noch weiterentwickelt werden muss, zeigt sich, dass durch die ethnografische Arbeit zahlreiche neue Perspektiven entstanden sind. Das bestehende Methodenrepertoire zu Sozialraumanalysen kann auf diese Weise mit Blick auf veränderte Raumvorstellungen sinnvoll erweitert werden. So können neue Angebote und Ansatzpunkte Offener Jugendarbeit in der Digitalität entwickelt werden.
In einem Beitrag in der Online-Zeitschrift «sozialraum.de»4 finden Sie vertiefte Einblicke und Erkenntnisse dazu, welche Überlegungen hinter dem Projekt stehen, wie vorgegangen wurde – und welche Erfahrungen und Erkenntnisse bisher gemacht wurden.
1 Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Bd. 1506. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
2 Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Bd. 2679. Edition Suhrkamp. Berlin: Suhrkamp.
3 Deinet, U. (2009). «Grundlagen und Schritte sozialräumlicher Konzeptentwicklung». In Sozialräumliche Jugendarbeit, herausgegeben von Ulrich Deinet, 13–26.
4 Rösch, E. / Steiner, O. / Gerngross, M. (2024). «Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt e_space. Beiträge zur konzeptionellen Differenzierung einer ‚Jugendarbeit in der Digitalität‘». sozialraum.de 15 (1).
Barcamp Soziokultur und digitaler Wandel #SKAmp24
Beim SKAmp24 am 21.11.24 in Zürich haben alle Fragestellungen und Themen Platz, die Fachpersonen aus der Soziokultur rund um Digitalität beschäftigen.
Die Anwesenden bringen ihre Fragen und Erfahrungen, Ideen und kritischen Gedanken als Session ein und bearbeiten sie mit den anderen Teilgebenden des Barcamps. Das Programm wird gemeinsam von allen Anwesenden am Veranstaltungstag zusammengestellt.