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Unrealistische Berechnungen des Invaliditätsgrades durch die IV

01.04.2021 - 3 Min. Lesezeit

Behindertenbereich
Arbeits- / Berufsintegration

Regine Strub

Fachredaktion Sozialinfo

Studien zeigen, dass die IV das mutmassliche Einkommen von gesundheitlich angeschlagenen Personen regelmässig zu optimistisch einschätzt. In der Folge erhalten Betroffene keine oder eine zu kleine Rente.

Die Invalidenversicherung (IV) kennt drei Methoden, um den Invaliditätsgrad zu bemessen:

  • Einkommensvergleich: Das ist der Regelfall der Invaliditätsbemessung. Das Einkommen ohne und mit Invalidität wird miteinander verglichen. Daraus ergibt sich ein Prozentwert. 
  • Betätigungsvergleich: Bei nicht erwerbstätigen Personen vergleicht die IV die Einschränkungen im Haushaltsbereich und bei der Kinderbetreuung. Auch hier resultiert am Schluss ein Prozentwert.
  • Gemischte Methode: Wenn jemand teilzeitlich erwerbstätig ist, kommt die sogenannte gemischte Methode zum Einsatz. Es kommt sowohl zu einem Einkommensvergleich als auch zu einem Betätigungsvergleich. Beide Bereiche werden separat ermittelt und die Prozentwerte anteilsmässig zusammengerechnet.

Ausser beim Betätigungsvergleich kommt also ein Einkommensvergleich zum Zuge. Ab mindestens 40 Prozent Invalidität gibt es eine Viertelsrente, bei 50 Prozent eine halbe Rente, bei 60 Prozent eine Dreiviertelsrente und ab 70 Prozent eine ganze Rente.

Der „ausgeglichene“ Arbeitsmarkt

Die IV geht bei der Bemessung zudem von einem sogenannten ‚ausgeglichenen Arbeitsmarkt‘ aus. Dieses theoretische Konstrukt berücksichtigt die konkrete Arbeitsmarktlage nicht und setzt voraus, dass jede motivierte und arbeitsfähige Person eine ihren Fähigkeiten entsprechende Anstellung findet. Damit will die Versicherung ausschliessen, dass konjunkturelle Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt bei der Bemessung des Invaliditätsgrades eine Rolle spielen. Denn die IV deckt das Risiko der Erwerbslosigkeit nicht ab.

IV orientiert sich an zu hohen Löhnen

Wie eine von der Coop Rechtsschutz AG in Auftrag gegebene Bass-Studie nun aufzeigt, zieht die Versicherung in den meisten Fällen ein zu hohes Invalideneinkommen heran. Denn die Tabellenlöhne der Lohnstrukturerhebung (LSE) widerspiegeln weitgehend die Löhne von gesunden und leistungsfähigen Personen. Das Lohnniveau von Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen ist dagegen im Vergleich dazu durchschnittlich 12.4 Prozente tiefer. Nur ein Drittel der erwerbstätigen IV-Rentner*innen erzielt auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Lohn, der mindestens so hoch ist wie der Medianlohn.

Medianlohn

Entspricht dem mittleren Lohn in einem Tätigkeitsfeld. Das heisst, 50% der untersuchten Personen verdienen mehr, 50% weniger als den Medianlohn.

In diesen Zahlen sind weitere lohnrelevante Faktoren wie beispielsweise Geschlecht, Alter, Brancheneffekte schon berücksichtigt. Das bedeutet, dass die IV das Invalideneinkommen regelmässig zu hoch einschätzt, erhalten Betroffene trotz gesundheitlichen Einschränkungen oft keine oder nur eine kleine Rente zugesprochen. 

Auch Löhne für Hilfsarbeiten zu hoch

Häufig bescheinigt die IV den Betroffenen, dass ihnen trotz gesundheitlichen Einschränkungen noch einfache Tätigkeiten auf dem Kompetenzniveau 1 zumutbar sind. Das Kompetenzniveau 1 umfasst Hilfsarbeiten beziehungsweise einfache Tätigkeiten körperlicher oder handwerklicher Art. Die Bandbreite an Löhnen in diesem Bereich ist gross, und der Medianlohn relativ hoch. Denn dazu gehören auch körperlich anstrengende Hilfsarbeiten, die nicht mit Tieflohnstellen gleichzusetzen sind: neben Reinigungsarbeiten sind zum Beispiel Hilfstätigkeiten auf dem Bau, im Bergbau, bei der Herstellung von Waren oder im Transportwesen dazu zu zählen. Gerade gesundheitlich eingeschränkte Personen sind jedoch oft nicht in der Lage, solche körperlich anstrengenden Tätigkeiten durchzuführen.

Ausgeglichener Arbeitsmarkt als Fiktion

Die zweite Studie ist ein juristisches Gutachten, das Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, ebenfalls im Auftrag der Coop Rechtsschutz AG erstellt hat. Er untersucht darin die Bundesgerichtspraxis in strittigen Fällen und die Anwendung der Tabellenlöhne. Er kritisiert in seinem Gutachten, dass der von der IV und den Gerichten herangezogene „ausgeglichene Arbeitsmarkt“ die realen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt je länger je weniger abbildet und deshalb zur Fiktion verkommt. Er fordert, dass die Versicherung stärker auf den Einzelfall eingeht und die individuellen Voraussetzungen anschaut. Bereits heute hat die IV die Möglichkeit, die statistischen Löhne mit einem sogenannten Leidensabzug um etwa 10 Prozent tiefer anzusetzen. Dies tun die IV und das Bundesgericht jedoch nur sehr restriktiv und willkürlich, wie das Gutachten festhält. Gächter warnt, dass mit der aktuellen Reform der IV die Abschaffung dieses Abzugs geplant sei. In der IV-Verordnung soll festgehalten werden, dass sich die IV an den LSE-Lohntabellen orientiert. Damit würde die bisherige, ungerechte Praxis zementiert und auch eine punktuelle Entschärfung mit einem Abzug nicht mehr möglich sein. 

Autor*in

Regine Strub

Wenn die IV einen Rentenentscheid fällt, gibt sie eine Einschätzung darüber ab, wie viel die betroffene Person trotz gesundheitlichen Einschränkungen noch verdienen könnte und welche Arbeiten noch zumutbar wären. Wenn eine angepasste Arbeit zumutbar und der Lohn dabei weniger als 40 Prozent tiefer wäre, lehnt sie eine Rente ab. 

Dabei stützt sich die Versicherung auf eine Lohnstatistik des BFS, in der die durchschnittlichen Löhne in verschiedenen Wirtschaftsbereichen erfasst sind. 

Wie zwei Studien nun aufzeigen, führt dies jedoch zu unrealistischen Rentenbemessungen – mit negativen Konsequenzen für Betroffene: Die Versicherung schätzt das Einkommen, das Betroffene noch erzielen können, zu hoch ein und spricht ihnen in der Folge keine oder eine zu kleine Rente zu. 

Das Thema hat eine gewisse Brisanz, denn diese Praxis der IV könnte mit der laufenden Revision noch zementiert werden.