Personalverantwortliche in sozialen Organisationen sehen ihre grösste Herausforderung darin, passendes Personal zu finden. Da die Organisationen nur bedingt beeinflussen können, welche und wie viele Kandidat*innen sich bei ihnen bewerben, könnte es wichtig sein, den Fokus künftig vermehrt auf das «Halten von Mitarbeitenden» zu setzen.
Herausforderungen und Gründe für den Fachkräftemangel
Sozialinfo hat in Zusammenarbeit mit der FHNW Personalverantwortliche gefragt, worin sie die grössten Herausforderungen im Rekrutierungsprozess sehen. Nahezu alle Interviewten sehen sich mit den Folgen des Fachkräftemangels konfrontiert. Sie stellten einen Rückgang in Anzahl und Qualität der Bewerbungen fest, weswegen sie bei Anstellungen Kompromisse machen müssten. Es sei schwieriger geworden, eine vakante Stelle nahtlos zu besetzen.
Kooperationsprojekt «Nachhaltige Rekrutierung im Sozialwesen»
Mit dem Projekt «Nachhaltige Rekrutierung im Sozialwesen» sollen Wissenslücken zum Thema Fluktuation im Sozialwesen geschlossen werden. Das Projekt setzte sich mit drei Hauptfragestellungen auseinander, welche in unterschiedlichen Projekten bearbeitet wurden. Das erste Projekt untersuchte anhand einer quantitativen Online-Befragung aus der Perspektive der Arbeitnehmer*innen die Gründe für Fluktuation im Sozialwesen. Zum Fachartikel.
Im zweiten Projekt stand die Perspektive der Arbeitgeber*innen im Vordergrund. Es wurde untersucht, welche Herausforderungen Betriebe im Sozialwesen in den Rekrutierungsprozessen erleben. Um das herauszufinden, wurden mit 17 Personen mit Stellenbesetzungsverantwortung aus unterschiedlichen Bereichen des Sozialwesens Interviews geführt. Dieser Fokusartikel fasst die Erkenntnisse aus den Interviews zusammen.
Als grösste Herausforderung erwähnten die Befragten, nebst dem Finden von geeignetem Personal, den damit einhergehenden Aufwand. Eine vakante Stelle zu besetzen, bedeutet eine hohe administrative, finanzielle und emotionale Belastung, nicht nur für die einstellenden Instanzen, sondern auch für das gesamte Team. Dieses müsse oft Ausfälle kompensieren und neue Mitarbeiter*innen einarbeiten. Die Interviewten berichteten zudem, dass häufige Wechsel eine Sogwirkung auf das Team haben könnten. Als weitere grosse Herausforderung wurden äussere Umstände bzw. strukturelle Bedingungen erwähnt. Ein Problem sei das ambivalente Image des Sozialwesens und die damit einhergehende niedrige gesellschaftliche und politische Anerkennung. Der Spardruck mache es den Arbeitgeber*innen schwer, Arbeitnehmenden gute Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne zu bieten. Ein weiteres Problem ist in den Augen der Interviewten die Akademisierung der Sozialen Arbeit durch die Fachhochschulen. Diese würden ihre Absolvent*innen nicht gut genug auf die Arbeitsrealität vorbereiten. Einerseits hätten diese durch das zu «theorielastige» Studium keine Vorstellungen der verschiedenen Handlungsfelder der Sozialen Arbeit und der (emotionalen) Belastung. Andererseits würden Dozierende bestimmte Arbeitsfelder schlechtreden, so dass Studierende nicht in Erwägung zögen, in diesen Handlungsfeldern zu arbeiten.
Verbesserungspotenzial bei Arbeitgebenden
Die Analyse der Interviews zeigte, dass es bisher kaum konkrete Lösungen im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel gibt. Die Interviewten verorten die Gründe für die Fluktuation mehrheitlich ausserhalb ihrer Organisation, was eine Diskrepanz zu den Ergebnissen aus dem ersten Projekt darstellt; die Mitarbeiter*innen verorteten die Gründe für Stellenwechsel eher innerhalb der Organisation (zum Fokusartikel).
Die Arbeitgeberseite führt die (hohe) Fluktuation in ihrem Betrieb – und im Sozialwesen allgemein – eher auf persönliche Präferenzen der Arbeitnehmer*innen oder auf bestimmte Eigenschaften der Arbeitnehmer*innen, wie z.B. fehlende (psychische) Belastbarkeit oder unzureichende Berufserfahrung, zurück. Einigkeit besteht darin, dass die (Arbeits-)Bedingungen im Sozialwesen grundsätzlich herausfordernd sind und dem Sozialwesen eine geringe Attraktivität zugeschrieben wird.
Interessanterweise ging es in den Interviews nie um fehlende Leistung oder Kompetenzen von Mitarbeiter*innen. Anhand dieser Ergebnisse aus zwei unterschiedlichen Perspektiven könnte vermutet werden, dass die Arbeitgeber*innen grösstenteils zufrieden mit ihrem Personal sind, während die Arbeitnehmer*innen Verbesserungspotenzial bei ihren Arbeitgeber*innen sehen. Die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Wechselgründen aus der Perspektive der Arbeitnehmer*innen und den vermuteten Wechselgründen aus Sicht der Arbeitgeber*innen zeigt, dass die Arbeitgeberseite wenig Bewusstsein für die tatsächlichen Wechselgründe hat und somit wenig Handlungsspielraum besteht, um in stabilere Arbeitsverhältnisse zu investieren.
Ausbilden und bessere Einarbeitungsprozesse als Mittel gegen Fluktuation?
Verbesserte Einarbeitungsprozesse, in welchen nicht nur genug Zeit für die fachliche Einarbeitung, sondern auch für die soziale Integration bleibt, könnten ein Weg zu einem nachhaltigeren Stellenmarkt im Sozialwesen sein.
Die Interviewten wurden gefragt, wie sie den Einarbeitungsprozess neuer Mitarbeiter*innen gestalten. In den Interviews kristallisierten sich drei verschiedene Herangehensweisen heraus. Die erste Gruppe von Arbeitgeber*innen sieht keine (strukturierte) Einarbeitung vor. Sie erwarten von neuen Mitarbeiter*innen, dass sie sich selbst einarbeiten.
Die zweite Gruppe bietet eine teilweise strukturierte Einarbeitung an, welche sich auf das Nötigste beschränkt. Dabei geht es hauptsächlich um administrative und organisatorische Grundlagen. Zum Beispiel, dass die Mitarbeitenden funktionierende ICT-Geräte erhalten, Verpflichtungen unterschreiben oder Präventionskonzepte und Leitbilder lesen. Arbeitgebende dieser Gruppe nutzen oft Check-Listen und/oder Pat*innen.
Arbeitgebende der dritten Gruppe legen explizit Wert auf eine fachliche Einarbeitung und Begleitung und meist auch auf eine soziale Integration in der Organisation. Diese Gruppe versteht den Einarbeitungsprozess breiter und zählt darunter nicht nur das Herstellen der Arbeitsfähigkeit, sondern unterstützt insbesondere Berufseinsteiger*innen gezielt bei der Entwicklung einer professionellen Identität. Die Einarbeitungs- und Integrationsphase dauert in dieser Gruppe länger als in den beiden anderen Gruppen und wird bewusst geplant.
Die meisten Interviewten erklärten, dass sie zu wenige Ressourcen für eine angemessene Einarbeitung hätten oder dass sie der Einarbeitung bisher zu wenig Bedeutung beigemessen hätten und dies in Zukunft überdenken wollten.
Die Frage ist jedoch, weshalb sie dies bisher nicht gemacht haben. Eine Erklärung wurde bereits oben angeschnitten: Die Arbeitgeberseite hatte bisher wenig darüber nachgedacht, dass ihre Arbeitnehmer*innen die Stelle wechseln wollen, weil sie unzufrieden mit dem Arbeitgeber sind. Eine weitere Vermutung ist, dass die Organisationen unter starkem Druck stehen, weswegen sie ihre neuen Mitarbeitenden vor allem als Aufwand und nicht als Chance oder positive Veränderung sehen (können). Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, sich gegenseitig mit Neugierde, Freude und Offenheit zu begegnen und sich gemeinsam zu entwickeln. Dies macht es insbesondere für Berufseinsteiger*innen schwierig, im Sozialwesen Fuss zu fassen und sich zu kompetenten und resilienten Fachpersonen zu entwickeln. Erst recht, wenn Arbeitgebende von ihnen erwarten, sofort einsatzfähig zu sein.
Die Investitionen in einen guten Einarbeitungsprozess und in ein gutes Ausbildungsfeld im Rahmen von Berufsausbildung und Studium könnten längerfristig zu einer Entlastung im Sozialwesen beitragen. Dafür müssen sich jedoch die Organisationen selbst auch in der Verantwortung sehen, Fachpersonen gut einzuarbeiten und mehr neue Fachpersonen selbst auszubilden, damit die neuen Generationen den vielfältigen Herausforderungen im Sozialwesen gewachsen sind und dem Sozialwesen lange erhalten bleiben.
Diversität und Gleichstellung
Bei der Analyse des Materials fiel auf, dass das Thema Diversität nur einmal aufgegriffen wurde. Konkret überlegte eine interviewte Person, was an der Ausbildung oder der Gesellschaft verändert werden müsste, damit das Sozialwesen für Männer attraktiver wird. Der Fakt, dass Frauen über 70% der Fachpersonen im Sozialwesen ausmachen, könnte zumindest einen Teil des Fachkräftemangels im Sozialwesen erklären. Einerseits fehlen generell Männer im Sozialwesen. Andererseits fehlen aber auch diejenigen – oft weiblichen – Fachpersonen, welche aufgrund von Elternschaft ihre Erwerbsarbeit pausieren, reduzieren oder ganz niederlegen. Die bekannten Gleichstellungsthematiken – wie z.B., dass Männer durchschnittlich mehr verdienen als Frauen und deshalb aus finanziellen Gründen häufig Frauen ihr Erwerbspensum reduzieren – sowie die herausfordernden Arbeitsbedingungen im Sozialwesen, erschweren es den Fachpersonen, nach der Familiengründung (höherprozentig) erwerbstätig zu bleiben. Eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel zu entschärfen, könnte sein, es den Arbeitnehmer*innen so leicht wie möglich zu machen, trotz Elternschaft erwerbstätig zu bleiben. Dafür müssten Bedingungen geschaffen werden, damit Arbeitnehmer*innen im Betrieb bleiben wollen. Teilzeitarbeit sollte z.B. nicht nur möglich, sondern aktiv unterstützt werden. Eine weitere Möglichkeit wäre z.B. Job-Sharing auf allen Hierarchiestufen.
Handlungsspielräume und deren Grenzen
Die Organisationen könnten also versuchen, selbst mehr Fachkräfte auszubilden, die Einarbeitungsprozesse zu verbessern und ihre Organisation familienfreundlicher zu gestalten, um die Situation in ihrem Betrieb zu entschärfen. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass die Organisationen den Fachkräftemangel nicht allein lösen und dessen Auswirkungen nicht allein bewältigen können und sollten. Um das Sozialwesen in Bezug auf die Personalsituation nachhaltiger zu gestalten, braucht es auch Lösungen auf struktureller und politischer Ebene. Dies ist notwendig damit sich Arbeitsbedingungen und -klima im Sozialwesen nachhaltig entwickeln und die Ausbildungsinstitutionen und Praxisorganisationen näher zusammenarbeiten können. Nur so können die Grundlagen geschaffen werden, um den Fachkräften und den Adressat*innen ein sicheres und gesundes Umfeld bieten zu können.
Autor*in
Thomas Brunner
Haben Sie sich – wie viele unserer Berufskolleg*innen – auch gefragt, warum Sozialinfo sich für nachhaltigere Arbeitsverhältnisse im Sozialbereich einsetzt? Würden nachhaltigere Arbeitsbeziehungen nicht langfristig zu weniger Stellenausschreibungen führen, wurde ich gefragt. Um die grundsätzliche Frage dahinter bildlich auszudrücken: Warum sägt ein Stellenportal am Ast, auf dem es sitzt? Weil Sozialinfo eben nicht ausschliesslich ein Stellenportal ist.
Als Verein gehören wir unseren Mitgliedern, also den Organisationen des Sozialbereichs. Unsere Daseinsberechtigung ist folglich nicht, möglichst viele Stelleninserate zu verkaufen. Vielmehr gibt es uns, um die Organisationen der Praxis bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen bestmöglich zu unterstützen. Eine ihrer grössten Herausforderungen ist derzeit nebst der Personalgewinnung eben vor allem der Personalerhalt.
Wir investieren in die Beantwortung der Frage, was Arbeitsbeziehungen im Sozialbereich nachhaltig macht. Damit schaffen wir ein Fundament für effektive Lösungen, welche wir in den nächsten Jahren «aus dem Sozialbereich – für den Sozialbereich» hoffentlich gemeinsam mit Ihnen entwickeln werden.
Diesem Anliegen widmen wir auch den diesjährigen Prix Sozialinfo. Nominieren Sie Ihre Organisation, wenn Sie sie als vorbildliche Arbeitgeberin für nachhaltige Arbeitsbeziehungen erleben! Damit eröffnen sie Ihrer Organisation die Chance auf den Förderpreis und uns die Chance, von Ihnen zu lernen.
Danke unserer Forschungspartnerin Marisa Gawron (FHNW) für den anregenden Fachartikel zum Thema!