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KOKES Empfehlungen: Fachliche Standards für Berufsbeistandschaften

12.08.2021 - 7 Min. Lesezeit

Kindes- / Erwachsenenschutz

Regine Strub

Fachredaktion Sozialinfo

Damit Berufsbeiständ*innen ihre Klientel bestmöglich unterstützen können, braucht es neben fundierten Fachkenntnissen weitere Rahmenbedingungen auf organisatorischer Ebene. Die KOKES legt nun erstmals konkrete Empfehlungen vor.

Bereits im 2008 formulierte die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), die damals noch Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehörden (VBK) hiess, Empfehlungen zur Organisation der zukünftigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) als Fachbehörde. Bis 2013 das neue Erwachsenschutzrecht in Kraft trat, berücksichtigten die Kantone die Empfehlungen der KOKES weitgehend, teilweise mit kantonsspezifischen Abweichungen.

Nach sieben Betriebsjahren ist die Konsolidierung der KESB als Fachbehörde aus Sicht der KOKES erfolgreich abgeschlossen. Nun hat sich die KOKES eines weiteren wichtigen Akteurs im Kindes- und Erwachsenenschutz angenommen: den Berufsbeistandschaften. Die neuen Empfehlungen zur Organisation von Berufsbeistandschaften haben zum Ziel, die Qualität von Beistandschaften an fachlichen Standards auszurichten. Im Interview erläutert Diana Wider, Generalsekretärin der KOKES, ihre Überlegungen.

« Heute ist der Einbezug von Betroffenen und Angehörigen ein zentraler Punkt »

Diana Wider

Interview mit Diana Wider, Generalsekretärin KOKES

Regine Strub/Sozialinfo: Sie schreiben in Ihren Empfehlungen, dass bei den Berufsbeistandschaften Handlungsbedarf bestehe. Inwiefern?

Diana Wider/KOKES: Bei den Berufsbeistandschaften macht der Bundesgesetzgeber keine Vorgaben. Er sagt lediglich, dass eine Beistandsperson geeignet sein muss und über genügend Zeit verfügen muss. Wie eine Berufsbeistandschaft als Organisation konkret ausgestattet sein soll, liegt in der Kompetenz der Kantone.

Diana Wider

Das heisst, es ist beispielsweise nicht festgelegt, welche Ausbildung Beistandspersonen benötigen?

Genau. Oder wie die Berufsbeistandschaft als Organisation organisiert sein soll, wie viele Fälle Beistandspersonen maximal betreuen sollen, welche vorgelagerten Leistungen angeboten werden und wie die Zusammenarbeit mit der KESB gestaltet werden soll. Unsere Empfehlungen geben Antworten auf diese Fragen.

Mit «Handlungsbedarf» meinen Sie nicht, dass die Arbeitssituation von Berufsbeistandspersonen generell verbessert werden muss?

Uns geht es um die verbeiständeten Personen, die eine adäquate Betreuung erhalten sollen. Wir wissen, dass die Mehrheit der Berufsbeiständ*innen trotz beschränkten Ressourcen einen guten Job macht. Aber wir hören auch, dass diese in verschiedenen Regionen chronisch überlastet sind. Auch die Anlaufstelle Kindes- und Erwachsenenschutz hat kritisiert, dass Beistandspersonen oft schwierig erreichbar seien und dass es zu viele Stellenwechsel und damit Beziehungsabbrüche gibt. Eine Studie aus dem Jahr 2017 hat zudem ergeben, dass jede fünfte Beistandsperson Burnout-gefährdet ist. Das ist aber nicht eine Situation, die erst in den letzten fünf Jahren aufgrund der Neuorganisation der KESB entstanden ist. In dieser Hinsicht bestünde schon seit längerer Zeit Handlungsbedarf.  

« Eine Studie aus dem Jahr 2017 hat ergeben, dass jede fünfte Beistandsperson Burnout-gefährdet ist. »

Diana Wider

Die KOKES schreibt in ihrem Bericht, dass die Anforderungen an die Berufsbeistandspersonen in den letzten Jahren gestiegen seien. Inwiefern?

Die Vorstellungen darüber, was die Aufgaben einer Beistandsperson sind, sind heute andere als noch vor 20 Jahren. Heute ist der Einbezug von Betroffenen und Angehörigen ein zentraler Punkt. Der Kontakt zur verbeiständeten Person steht im Vordergrund. Doch Schwestern, Eltern oder Kinder möchten, dass die Beistandsperson auch mit ihnen spricht und sie informiert. Und: Früher wurden verbeiständete Personen als hilfsbedürftige Objekte gesehen, für die gesorgt und entschieden werden musste. Heute werden sie als eigenständige Rechtspersönlichkeiten betrachtet, die mit der Unterstützung der Beistandsperson selber entscheiden sollen und ihr Leben möglichst selbstbestimmt leben sollen. Auch in der Kinderrechts- und in der Behindertenrechtskonvention wird gefordert, dass staatliche Stellen Betroffene nicht einfach vertreten, sondern diese befähigen sollen, selber zu handeln. Dafür benötigt man mehr Zeit, als wenn man selber handeln würde.  

Die KOKES empfiehlt unter anderem, dass sich die Berufsbeiständ*innen entweder auf Kindesschutz oder Erwachsenenschutz spezialisieren sollen. Weshalb?

In diesen beiden Bereichen braucht man unterschiedliches Spezialwissen. Wenn man im Kindesschutz mit hochstrittigen Eltern zu tun hat, ist anderes Wissen gefragt als im Erwachsenenschutz, wo es um Auswirkungen von psychischen Krankheitsbildern oder um komplexe Vermögensverwaltungen geht. Und noch fast wichtiger ist aus Sicht der KOKES die Netzwerk-Arbeit: Als Beiständ*in muss ich mich mit dem Hilfesystem vernetzen. In der Arbeitsgruppe hatten wir einen Berufsbeistand, der sowohl Mandate im Kindesschutz und im Erwachsenenschutz führte. Er sagte, dass er in beiden Bereichen je etwa 300 Kontaktadressen von Institutionen habe, mit denen er zusammenarbeite. Für eine sinnvolle Vernetzung mit dem Hilfesystem muss man wissen, welche Angebote die Pro Senectute hat, welche Suchtberatungsstellen es gibt, etc. Wenn man mit sämtlichen Institutionen in Kontakt bleiben will, dann funktioniert dies bei 600 Adressen schlicht nicht. Kurz: wenn man nur für einen der beiden Bereiche zuständig ist, dann halbiert sich die Menge an Partnerorganisationen, und damit wird die Zusammenarbeit effizienter und effektiver. Das kommt schliesslich den verbeiständeten Personen zugute.

« Heute werden verbeiständete Personen als eigenständige Rechtspersönlichkeiten betrachtet, die mit der Unterstützung der Beistandsperson selber entscheiden und ihr Leben möglichst selbstbestimmt leben sollen. »

Diana Wider

Es gibt immer noch viele polyvalente Dienste. Haben diese ihre Daseinsberechtigung verloren?

Aus unserer Sicht können Dienste grundsätzlich polyvalent bleiben. Nur die Personen sollen sich spezialisieren: Entweder auf Mandate im Kindesschutz, auf Mandate im Erwachsenenschutz, oder auf Sozialhilfe. So entstehen verschiedene Fachbereiche in einem Dienst, dabei sind verschiedene Modelle denkbar. Was wir nicht empfehlen, ist, dass die gleiche Person gleichzeitig sowohl für die Sozialhilfe und die Mandatsführung zuständig ist. Das sind zwei unterschiedliche Aufträge. Es ist schwierig, wenn ich in der Sozialhilfe beispielsweise die Leistungen kürzen muss und als Beiständin die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz beraten soll. Eine betroffene Mutter wird sich da kaum vertrauensvoll an die Beistandsperson wenden. Bei unterschiedlichen Aufträgen ist es aus unserer Sicht besser, wenn diese auf verschiedene Fachpersonen verteilt sind. Das sind fachliche Empfehlungen, welche die Stossrichtung vorgeben. In den Regionen müssen nun die passenden Modelle entwickelt werden.

Gibt es auch Argumente gegen eine stärkere Spezialisierung?

Berufsbeistandspersonen argumentieren zuweilen, dass es spannender ist, wenn das Arbeitsgebiet breit bleibt. Das mag für Einzelne vielleicht stimmen. Aber das zentrale Kriterium für uns ist, ob die verbeiständete Person die bestmögliche Unterstützung erhält. Ob das Arbeitsfeld trotz Spezialisierung spannend bleiben kann, ist eine andere Frage. Aus meiner Sicht ist es eine Überforderung, beide Arbeitsgebiete kompetent abdecken zu wollen.

Entstehen den Trägerschaften mit der Umsetzung der Empfehlungen nicht auch höhere Kosten?

Das kommt sehr auf die Region an. Es gibt Regionen, in denen unsere Empfehlungen für die maximale Fallzahl bereits umgesetzt sind. Es gibt aber auch Regionen, in denen die Beiständ*innen 100 Mandate oder mehr pro Vollzeitstelle führen. Wenn mehr Berufsbeiständ*innen angestellt werden müssen, führt das natürlich zu mehr Kosten. Aber aus meiner Sicht muss man eine Gesamtrechnung machen und auch die Kosten für freiwillige Dienstleistungen berücksichtigen. Allenfalls kann man Kosten von einem Bereich in den anderen verschieben. Am Schluss geht es aber um die Betreuung von vulnerablen Personen. Da muss jeder Kanton schauen, wieviel ihm das wert ist.

In Ihren Empfehlungen schreiben Sie, dass die Berufsbeistandschaften in jedem Kanton unterschiedlich organisiert seien.

Das ist in der Tat sehr unterschiedlich. Nicht nur sind diese in jedem Kanton anders organisiert. Es gibt auch innerhalb der Kantone Unterschiede. Im Kanton Wallis ist zum Beispiel der Kindesschutz in kantonalen Strukturen weitgehend professionalisiert, während es im Bereich des Erwachsenenschutzes nur punktuell regionale Berufsbeistandschaften gibt. Als Alternativen zu den Berufsbeiständ*innen werden dann private Beistandspersonen eingesetzt, in der Meinung, gesunder Menschenverstand genüge. Das stimmt natürlich nicht. Vor allem nicht, wenn man die Menschen zu mehr Eigenständigkeit befähigen soll. Die KOKES hat sich zwar auch dafür ausgesprochen, einen gewissen Prozentsatz der Fälle im Erwachsenenschutz an private Mandatsträger*innen zu übertragen. Aber wir sprechen von 30-40 Prozent und von «einfachen» Fällen. Das können zum Beispiel Menschen sein, die in einem Heim leben, deren persönliche Betreuung sichergestellt ist und bei denen es lediglich um administrative Unterstützung geht. Der Grossteil der Mandate im Erwachsenenschutz sind für private Beistandspersonen zu komplex und deshalb braucht es flächendeckend professionelle Berufsbeistandschaften. Im Kindesschutz gilt das unbestritten.  

« Als Alternativen zu den Berufsbeiständen werden private Beistandspersonen eingesetzt, in der Meinung, gesunder Menschenverstand genüge. Das stimmt natürlich nicht. »

Diana Wider

Was haben Sie unternommen, um eine möglichst breite Unterstützung für Ihre Empfehlungen zu erhalten?

Unsere Empfehlungen basieren auf fachlichen Standards und sind in der Fachwelt weitgehend unbestritten. Um sie umzusetzen, reicht dies jedoch nicht. Es braucht die Politik. Uns war es darum wichtig, die Politik von Anfang an einzubeziehen. Neben dem Schweizerischen Verband der Berufsbeistandspersonen waren deshalb auch der Schweizerische Gemeindeverband und die Sozialdirektorenkonferenz an der Erarbeitung der Empfehlungen beteiligt. Es gab auch eine breite Vernehmlassung bei den Kantonen, dem Städteverband und weiteren politischen Akteuren. Mit rund 20 Leitungspersonen von Berufsbeistandschaften aus verschiedenen Kantonen haben wir im Rahmen eines Workshops darüber diskutiert, was sich in der Praxis bewährt und was nicht. Aber wir haben uns bewusst dafür entschieden, die Empfehlungen im Namen der KOKES - unter Mitwirkung von SODK, SGV und SVBB - herauszugeben. Wir wollten das Fachliche in den Vordergrund stellen. Jetzt geht es darum, dass die Kantone und Gemeinden diese Empfehlungen umsetzen, sprich finanzieren. Wir sind uns bewusst: Wegen Corona sind die Kantone an verschiedenen Fronten gefordert. Diese langfristige Investition im Bereich der Berufsbeistandschaften lohnt sich aber auf jeden Fall - für die Berufsbeistandspersonen und die verbeiständeten Personen genauso wie für die Gesellschaft als Ganzes.

Autor*in

Regine Strub

Personen, die sich bei der Anlaufstelle Kindes- und Erwachsenenschutz (KESCHA) melden, kritisieren häufig, dass die zuständige Beistandsperson nicht erreichbar sei, dass sie zu wenig Unterstützung erhalten oder dass die Beistandsperson plötzlich wechsle.

Fachleute aus der Branche gehen davon aus, dass viele Berufsbeistandspersonen chronisch überlastet sind. Ein Vertrauensverhältnis zu den betreuten Personen aufzubauen, ist kaum möglich, wenn eine Beistandsperson für 100 oder mehr Mandate zuständig ist. Die hohe Arbeitsbelastung führt zudem zu einer hohen Fluktuation.

Die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) legt nun konkrete Empfehlungen vor, wie eine qualitativ gute Berufsbeistandschaft organisiert werden kann. Im Interview erläutert Diana Wider, worum es geht und weshalb es diese Empfehlungen braucht.