Finnland ist es als einzigem europäischen Land gelungen, die Obdachlosigkeit in den vergangenen Jahren deutlich zu verringern. Dies dank 'Housing First'. Könnte der Ansatz auch in der Schweiz erfolgversprechend sein?
Ursprünge in den USA
Das Konzept Housing First ist in den 1990er Jahren in den USA entstanden. Der griechisch-kanadische Psychologe Tsemberis gilt als der wichtigste Förderer und Wissenschaftler in diesem Gebiet. Er gründete 1992 die Organisation „Pathways to Housing First“.
Der Housing First Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass Obdachlosen eine Wohnung gewährt wird, ohne dies an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Therapie- und Betreuungsangebote stehen zwar zur Verfügung, die Teilnahme an diesen Angeboten ist aber keine Voraussetzung.
In herkömmlichen Modellen der Obdachlosenhilfe müssen sich Obdachlose dagegen häufig zuerst für ein selbständiges Wohnen qualifizieren, indem sie zum Beispiel verschiedene Stufen von Wohnformen durchlaufen oder bestimmte Bedingungen erfüllen. Das heisst, sie müssen zum Beispiel Drogen-abstinent leben, an einer Behandlung teilnehmen oder in einer externen Tagesstruktur teilnehmen.
Der Housing First Ansatz wurde in den USA entwickelt und wird seit einigen Jahren auch in Europa angewandt. In den Medien wurde Finnland in letzter Zeit positiv erwähnt, aber auch Wien wird gepriesen.
Finnland hat Housing First seit 2008 breitflächig eingeführt. Dabei ist es Finnland – im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern – gelungen, die Zahl der Obdachlosen kontinuierlich zu senken. Private Stiftungen, welche die Wohnungen kaufen und verwalten, haben in den letzten 10 Jahren 4‘600 Wohnungen zur Verfügung gestellt. Vier von fünf Obdachlosen konnten ihre Wohnung für lange Zeit behalten und haben den Weg in ein stabiles Leben gefunden. Zwar gibt es weiterhin Menschen ohne Wohnung, doch diese können in den verbleibenden Notunterkünften aufgefangen werden.
In Finnland scheint sich das Konzept auch finanziell zu lohnen. So meint der Präsident einer Stiftung, welche Mietverträge mit den Betroffenen abschliesst, dass dank des Housing First weniger Geld für Obdachlosigkeit und ihre Folgen ausgegeben wird. Polizei, Gesundheits- und Justizsystem seien weniger häufig gefordert, was weniger Geld koste. Pro Jahr gebe der Staat nun pro obdachlose Person 15‘000 Euro weniger aus als früher.
Niederschwellige Betreuungsformen in der Schweiz
Ein Artikel im Suchtmagazin 1/ 2019 erwähnt, dass es in der Schweiz bereits niederschwellige Ansätze in der Obdachlosen- und Suchthilfe gibt. Im Rahmen der schweizerischen Vier-Säulen-Politik wurden entsprechende Angebote im Bereich der vierten Säule, der sogenannten Schadensminderung entwickelt. So richtet sich das ‚begleitete Wohnen‘ (bzw. ambulante Wohnintegration) in Zürich an obdachlose Suchtkranke und psychisch kranke Frauen und Männer. Abstinenz ist dabei keine Vorbedingung.
Vor allem zu Beginn der 1990 Jahre habe sich die soziale Begleitung beim begleiteten Wohnen lediglich auf sporadische Hausbesuche beschränkt. Erst später habe sich eine engere Begleitung etabliert, die unter anderem aus administrativer Unterstützung der Klient*innen, der Kontrolle sozialverträglichen Verhaltens und der Motivierung zu einer Behandlung bestehe.
Housing First in der Schweiz
Auch in anderen Städten sucht man nach Wegen, passende Betreuungsformen in der Obdachlosenhilfe zu finden. Mit den bestehenden Angeboten können oft nicht alle Klient*innen erreicht werden und die Betreuung gestaltet sich aufwändig. In Solothurn hat die ‚Suchthilfe Perspektive Region Solothurn-Grenchen‘ deshalb ein Pilotprojekt mit dem Housing First Ansatz gestartet und erste Erfahrungen gesammelt. Dazu hat sie den Versuch mit Kesb, regionalen Sozialdiensten und psychiatrischen Klinik breit abgestützt. Der Artikel im Suchtmagazin erwähnt einen Versuch mit vier Personen. Die Idee: Eine dezentrale Unterbringung, verbunden mit kostengünstiger Infrastruktur und geringen Betreuungsstunden soll Ruhe ins Leben dieser Menschen bringen. Einzige Erwartung an die Bewohnenden ist, dass sie sich an die Hausregeln halten und Mitarbeitenden der Suchthilfe - zu kommunizierten Terminen – Zugang zur Wohnung gewähren. Die Wohnungen sind möbliert und werden ein- bis dreimal pro Woche durch die Suchthilfe kontrolliert. Alle zwei Wochen organisiert die Suchthilfe zudem eine Wohnungsreinigung.
Die Erfahrungen mit dem Ansatz hätten gezeigt, dass auch dieser Ansatz nicht völlig unproblematisch sei. So seien die hygienischen Zustände in den Wohnungen bisweilen grenzwertig. In einem Fall wird von Streitigkeiten und Zerstörung des Mobiliars sowie anderen Gewalttätigkeiten berichtet. Inzwischen habe sich die belastete Lebenssituation der Betroffenen jedoch stabilisiert. Die Suchthilfe kommt nach sechs Monaten Erfahrung zum Schluss, dass das Konzept funktioniere. Die Situation der Klient*innen habe sich verbessert und die Belastung von Polizei und Suchthilfe habe sich deutlich verringert.
In der Fachwelt scheine sich langsam die Sichtweise durchzusetzen, dass ein tiefschwelliges Wohnangebot ein zentrales Element der Schadensminderung sei. Insbesondere könne der Ansatz des Housing First jene Menschen erreichen, die in herkömmlichen Angeboten nicht unterkommen, so die Schlussfolgerung des Artikels im Suchtmagazin.
In weiteren Schweizer Städten wird der Ansatz diskutiert. In Basel hat bereits ein entsprechendes Projekt begonnen, das die Heilsarmee leitet. Und in Bern fordert die Junge Alternative in einer Motion im Stadtrat ebenfalls, es sei ein Pilotprojekt auszuarbeiten. Es wird deshalb spannend die weitere Entwicklung zu verfolgen.
Pressenza (2020): Finnland beendet die Obdachlosigkeit und bietet allen Bedürftigen eine Unterkunft
Kontrast.at (2023): Finnland schafft es: Bald gibt es keine Obdachlosigkeit mehr!
TAZ: "In einem Übergangsheim lernt man nicht das normale Wohnen"
bz Basel (2020): Erster Basler Obdachloser ist weg von der STrasse – aber nicht alle wollen überhaupt eine eigene Wohnung
Junge Alternative JA! (2020): Housing First auch in Bern
Infosperber (2021): Finnland: "Housing First" ist ein Erfolg
Autor*in
Regine Strub
Während der Coronakrise ist das Thema Obdachlosigkeit wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Wie kann man zuhause bleiben, wenn man keines hat?
Der relativ neue Ansatz des „Housing First“ ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er bisherige Konzepte in der Obdachlosenhilfe auf den Kopf stellt. Statt Bedingungen erfüllen zu müssen, bekommen Obdachlose zuallererst eine Wohnung mit einem unbefristeten Mietvertrag. Erst danach schauen Sozialarbeitende mit ihnen zusammen, welche Unterstützung sie brauchen und auch annehmen.
Bisherige Erfahrungen in Finnland, aber auch in Wien, haben gezeigt, dass dieses Vorgehen langfristig Ruhe in das Leben von Obdachlosen bringt. Der Schutz und die Sicherheit der eigenen vier Wände gibt ihnen die Kraft, sich um andere Dinge zu kümmern: Sei es eine Arbeit, sei es die Behandlung ihrer Sucht oder die Therapie von psychischen Problemen.
In der Schweiz gibt es bereits niederschwellige Betreuungsformen für Obdachlose. Auch wenn Housing First kein Wundermittel ist. Es zeigt sich immer wieder, dass ein Teil der Betroffenen mit herkömmlichen Ansätzen nicht erreicht wird. Housing First könnte hier wichtige Ansatzpunkte liefern.