Obwohl demenzielle Erkrankungen für Betroffene und Angehörige anspruchsvoll und belastend sind, nehmen sie Hilfsangebote oft nicht oder erst spät in Anspruch. Vermittlungspersonen können dabei helfen, die bestehenden Hürden abzubauen. Fachpersonen der Sozialen Arbeit könnten hier einen zunehmend wichtigen Beitrag leisten.
Die älter werdende Bevölkerung braucht mehr Beratung. Deshalb steigt der Handlungsbedarf bei der Vernetzung von Gesundheit und Sozialem. Eine der grössten Herausforderungen sind demenzielle Erkrankungen: Mit 33'000 Neuerkrankungen pro Jahr gehören sie zu den häufigsten Krankheiten – zudem wird ein starker Anstieg erwartet. Schon heute verursachen sie Kosten von über 11 Milliarden Franken pro Jahr, wobei neben den direkten Behandlungs- und Versorgungskosten fast die Hälfte auf die unbezahlte Unterstützung von Angehörigen und Nahestehenden entfallen.
Gerade bei der Demenz ist augenfällig, dass ein medizinisch-kurativer Blick dominiert. Aber: Weil es keine Heilung gibt, kann dieser dem Leben mit Alzheimer oder anderen Demenzformen und dem Erleben der Demenzbetroffenen nicht gerecht werden. Diese tragen in einem komplexen biopsychosozialen Geschehen während langer Zeit soziale Folgeprobleme mit sich und sind auf Unterstützung angewiesen.
Problematisch ist dabei, dass Betroffene und Angehörige oft wenig oder erst spät Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen. Dabei könnte die Soziale Arbeit eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung spielen und wichtige Lücken füllen, weil sie entscheidende Erfolgsfaktoren mitbringt: Nähe, Vertrauen und Verbundenheit.
Forschung zur Rolle von Vermittlungspersonen
In der Literatur finden sich Hinweise, dass eine vertrauenswürdige Vermittlungsperson oft entscheidend dazu beiträgt, dass jemand ein Unterstützungsangebot in Anspruch nimmt. Dies kann eine Person mit einem offiziellen Auftrag wie beispielsweise eine Hausärztin, ein/e Mitarbeitende*r der Spitex oder des Sozialdienstes oder auch eine privat nahestehende Person sein.
Dieser These ging das Team von formative works in einem Forschungsprojekt nach, das von Alzheimer Schweiz gefördert wurde. Es untersuchte in Interviews mit 51 Fachpersonen und 11 Angehörigen, wer wann als Vermittlungsperson fungierte und was diesen bei der Vermittlung von Unterstützungsangeboten half oder sie daran hinderte. Da die Behandlungsmöglichkeiten von demenziellen Erkrankungen limitiert sind, war der Blick auf Angebote gerichtet, die auf den Erhalt von Lebensqualität von Betroffenen und ihren Angehörigen abzielen. Von besonderem Interesse waren die nicht-medizinischen Massnahmen, also Zweckmässigkeit und Nutzen von Unterstützungsangeboten sowie die Bereitschaft der Fachpersonen, eine pro-aktive Rolle beim Anbahnen von Hilfe und Unterstützung zu übernehmen. Abschliessend diskutierte das Forschungsteam in zwei Workshops mit Fachpersonen, welche Strategien und Massnahmen den Angehörigen den Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtern können.
Die Interviews haben deutlich bestätigt, dass Angehörige von Demenzkranken Angebote in Anspruch nehmen, weil eine Schlüsselperson, der man vertraut und emotional nahesteht, einen entscheidenden Impuls gegeben hat. Dieses „Anstupsen“ ist in der Literatur als Nudging1 bekannt und seine Wirksamkeit ist gut belegt2.
Widerstände und Hürden bei Betroffenen und Angehörigen
Bei der Suche nach Gründen, weshalb Hilfsangebote oft spät in Anspruch genommen werden, werden in der Befragung unterschiedliche persönliche Motive genannt, die in der Bevölkerung verbreitet sind:
Scham und Abwehr
Die Labels “Demenz” oder “Alzheimer” schrecken ab. Man reagiert mit Abwehr und Verdrängung. Tabuisierung ist weit verbreitet: Wenn man nicht darüber spricht, ist das Problem nicht da. Symptome werden einer altersbedingten Vergesslichkeit zugeschrieben. Scham führt dazu, dass man sich zurückzieht. Man meidet insbesondere Kontakte zu Fachpersonen.
Angst vor Verlust der Selbstbestimmung
Man will es selbst schaffen und sich nicht in eine Abhängigkeit begeben. Man hat Angst vor Fremdeinmischung und Bevormundung und will auch niemandem zur Last fallen.
Verbreitet ist die Angst, dass die Annahme von Hilfe der erste Schritt zum Heimeintritt ist und dass dies zu hohen Kosten führt. Diese könnten zum Zwangsverkauf des Eigenheims oder zur Aufzehrung des Erbes führen. Zudem werden dadurch Partner*innen getrennt, die sich ein Sorgeversprechen gegeben haben.
Gewöhnung
Weil in der Frühphase der Bedarf nach Entlastung noch gering ist, gewöhnt man sich an die schleichende Veränderung und nimmt graduelle Verschlechterungen gar nicht wahr. Der langsam steigende Bedarf wird auch wegen der hohen Alltagsbelastung nicht erkannt, bis es zu spät ist.
Fatalismus und Loyalität
Viele glauben, man könne sowieso nichts machen und es gebe keine Hilfe. Dabei stehen die Partner*innen unter hohem Erwartungsdruck. Insbesondere Partnerinnen rutschen wegen traditioneller weiblicher Sozialisation rasch in eine aufopfernde Frauenrolle und haben Schuldgefühle, wenn sie Externe beiziehen. In dieser Abwärtsspirale mit hoher Alltagsbelastung und (Dauer-)Präsenz haben Partner*innen gar nicht mehr Zeit und Energie, Hilfe zu suchen.
Unkenntnis der Hilfesysteme
Personen oder Paare, die sich in die Isolation zurückgezogen haben und derart unter Druck stehen, verlieren den Blick auf die Umwelt. Ohne Vermittlungsperson wissen sie gar nicht, dass sie Hilfe bekommen könnten und durch wen. Das trifft auch auf Menschen mit Migrationshintergrund zu, die das lokale Versorgungssystem nicht kennen und Sprachprobleme haben.
Brüche im System
Nebst diesen Hindernissen seitens der Betroffenen bestehen aber auch starke strukturelle und systemische Hürden.
Unpassend ausgestaltete Angebote
- Nicht-Zuständigkeit wegen eines zu eng definierten Auftrags einer Fachstelle
- lange Wartezeiten
- ungenügende Übereinstimmung von Bedarf und Angebot
- fehlender Einbezug von Angehörigen
- der Umstand, dass Betreuung durch die Krankenkassen nicht vergütet wird
- fehlende Betten für Notfall-Unterbringungen oder Menschen mit frontotemporaler Demenz.
Mangelnde Interdisziplinarität und Interprofessionalität
In der Praxis gibt es diverse Netzwerke, die Fachstellen miteinander verbinden. Allerdings sind gerade bei der Demenzversorgung die Brüche zwischen der Medizin und dem Sozialsystem gut sichtbar. Oft ist es von den individuellen Prioritäten der beteiligten Personen oder Organisationen abhängig, ob Kontakte zu anderen Fachbereichen gepflegt und Personen weitervermittelt werden. Die Probleme werden zudem verschärft durch Zuständigkeitsföderalismus, fachliche Präferenzen der medizinischen und sozialarbeiterischen Fachpersonen, unterschiedliche Rahmenbedingungen für Leistungen im Gesundheits- und Sozialwesen. So fehlen aktuell Mischfinanzierungen, welche die Koordination und die interprofessionellen, ineinander greifenden Unterstützungsangebote bei Demenz sichern.
Zu restriktive Auslegungen des Daten- und Patientenschutzes
Immer wieder wird berichtet, dass Angehörige abgeblockt werden, weil Fachpersonen nicht mit ihnen über die Krankheit sprechen wollen und sensible oder schützenswerte persönliche Daten nicht weitergeben, selbst wenn ein Vorsorgeauftrag vorliegt. Diese Zurückhaltung wird oft mit Daten- und Patientenschutz begründet. Aber gerade der Datenschutz ist mehr Vorwand als Fakt. Wegen des hohen Leidensdrucks und der abnehmenden Urteilsfähigkeit nehmen Betroffene externe Unterstützung in der Regel gerne an – das Einverständnis zur Datenweitergabe ist daher meist nur eine Formsache.
Fehlende Standards
Im Vergleich zu anderen häufigen Krankheiten wie z.B. Krebs oder Diabetes sind die Prozesse bei Demenz wenig strukturiert. Es gibt kein Standard-Prozedere für die Früherkennung, Beratung, Versorgung, Begleitung und Nachsorge. Viel zu viele Betroffene werden deshalb nie abgeklärt, erhalten nie eine Diagnose, werden nie aufklärend beraten und niemand weist ihnen den Weg zu den Demenznetzwerken. Weil die Neuerkrankungen stark zunehmen, werfen die grossen regionalen Unterschiede bei den Strukturen und Abläufen grundsätzliche Fragen zur Gleichbehandlung und Versorgungsgerechtigkeit auf.
Aufmerksamkeit und Vertrauensbeziehung der Sozialen Arbeit nutzen
In der Studie ist deutlich geworden, dass Spitex und Hausärzt*innen, die in der Regel den Erstkontakt mit Demenzerkrankten oder Angehörigen haben, oft wegen Zeitmangel die notwendige soziale Betreuung nicht leisten können. Auf der anderen Seite haben soziale Dienste zwar einen Betreuungsauftrag, sind aber häufig wenig in das medizinisch dominierte Versorgungssystem eingebunden.
An dieser Schnittstelle könnte die Soziale Arbeit jedoch wichtige Vermittlungsfunktionen übernehmen. Dies betrifft alle Arbeitskontexte, in denen Fachpersonen der Sozialen Arbeit mit potenziellen Betroffenen zu tun hat: in Spitälern, in den Sozialdiensten und Beratungsstellen der Gemeinden und Kirchen, in Beistandschaften, in der Psychogeriatrie, in Quartierzentren, bei Pro Senectute oder auch im Migrations- und Integrationskontext. Fachpersonen der Sozialen Arbeit könnten dazu ihre Vertrauensbeziehung nutzen und als Schlüsselpersonen Betroffene und deren Angehörigen anstupsen.
Bezogen auf den mehrjährigen Krankheitsverlauf kann das Engagement der Sozialen Arbeit unterschiedliche Ausprägungen haben.
Interventionen in der Frühphase
Die Soziale Arbeit ist sich oft nicht bewusst, dass sie schon in der Frühphase Interventionspunkte hat, um Hilfestellungen zu vermitteln. Dazu ist es wichtig, dass Fachpersonen die Demenz-Symptome im Alltag erkennen und einordnen können. Dazu gehören:
- Vergesslichkeit,
- Aufmerksamkeitsstörungen
- Verwirrtheit
- beeinträchtigte Zeit-/Ort-Orientierung
- Schwierigkeiten im Sprechen
- Denken und Planen
- depressive Verstimmungen.
Im Austausch mit Gemeindemitarbeitenden, der Spitex, Haushaltshilfen, Entlastungsdiensten, Sozialdiakonen oder in Quartiertreffpunkten gibt es indirekte Hinweise oder Beobachtungen. Zu bedenken ist auch, dass Demenz nicht nur Betagte betrifft – es gibt immer mehr Jungbetroffene vor dem Rentenalter.
Wenn Fachpersonen der Sozialen Arbeit Symptome für Demenz erkennen, können sie:
- die Angehörigen darauf ansprechen
- mit der Hausärztin Kontakt aufnehmen und wegen Abklärung in einer Memory Clinic fragen
- Betroffene und Angehörige für die Vorausplanung sensibilisieren, solange noch eine Urteilsfähigkeit besteht: Vorsorgeauftrag, Erbschaftsfragen, Testament, Patientenverfügung klären.
- Bei Jungbetroffenen im Erwerbsleben eine Anmeldung bei der IV machen.
Interventionen in der manifesten Phase
In der manifesten Phase führt die Symptomatik im Alltag zu offensichtlichen Einschränkungen, was in der Regel zu Belastungssituationen und Krisen bei den Angehörigen führt. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Belastung wellenförmig verläuft und insbesondere dann kritisch ist, wenn die Erkrankten in kurzer Zeit weitere Fähigkeiten verlieren.
In dieser Phase spielt die Soziale Arbeit eine zentrale Rolle, weil sie aufgrund der Kenntnis des Systems, der Akteure und der finanziellen Instrumente die Beratung und Begleitung der Betroffenen und Angehörigen anbahnen kann. Sie kann:
- Informationen zu finanziellen Ansprüchen zur Verfügung stellen
- beim Ausfüllen der Formulare helfen
- Entlastungsangebote für Betreuung im Alltag vermitteln
- für Angehörige psychosoziale Beratung und Begleitung organisieren bzw. sie mit den regionalen Demenz-Beratungsstellen in Verbindung bringen3. Diese haben demenzspezifisches Fachwissen und können ein breites Netzwerk mit Anlaufstellen, Tagesstätten, Ferienbetten, Besuchsdiensten u.a.m. aktivieren
- Hausärzt*innen zu Rundtischgesprächen einladen
- gegebenenfalls Beistandschaften informieren oder Gefährdungsmeldung an die KESB machen.
Anstupsen statt abwarten
Die Studie zeigt mit Nachdruck, wie wichtig es ist, dass die Soziale Arbeit auf eine stärkere Vernetzung zwischen Gesundheits- und Sozialwesen hinarbeitet und sich proaktiv in Vermittlungsrollen positioniert – sie kennt die Angebote und die individuelle Situation, geniesst Vertrauen und kann wiederkehrend auf die Menschen mit Demenz und die Angehörigen zugehen, und sie kann Kontinuität in der Beratung und Begleitung sicherstellen.
Damit wird Angehörigen und Betroffenen der Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtert, die Krankheitslast gesenkt und die Lebensqualität der Erkrankten und der Angehörigen deutlich verbessert. Eine Einladung der regionalen Berater*in der Alzheimer-Vereinigung oder einer Memory Clinic für eine Fallbesprechung oder das Mitwirken an einem lokalen Infoanlass sind Schritte mit grosser Wirkung für die Betroffenen. Zu klären wäre, welche zusätzlichen Kompetenzen dazu allenfalls in der Aus- und Weiterbildung vermittelt werden müssten.
1 Thaler RH, Sunstein CR. Nudge : improving decisions about health, wealth, and happiness. New Haven: Yale University Press; 2008.
2 Rauprich O, Möllenkamp M, Reimann J, Huster S, Schreyögg J, Marckmann G. Wirksamkeit und ethische Bewertung von Nudging-Interventionen zur Förderung des Selbstmanagements bei Diabetes Mellitus Typ 2. Das Gesundheitswesen. 2022 Jun 23;84(11):1059–66. https://doi.org/10.1055/a-1709-0591
Autor*innen

Beat Sottas
Dr. Sozialwissenschaften
Kontakt

Sarah Brügger
Sozialanthropologin M.A.
Kontakt

Martin Heiniger
Vor knapp zwei Jahren haben wir ein Interview mit einer Sozialarbeiterin geführt, die Patient*innen direkt in der Arztpraxis sozial berät. Da sich gesundheitliche und soziale Problemlagen oft gegenseitig bedingen oder verstärken, kann eine solche institutionalisierte Zusammenarbeit des Sozial- und des Gesundheitsbereichs präventiv wirken, in dem Negativspiralen frühzeitig unterbrochen werden.
Diese Argumentation nehmen unsere Gastautor*innen im aktuellen Fokusartikel auf und führen sie am Beispiel von demenziellen Erkrankungen weiter. Aufgrund fehlender interdisziplinärer Zusammenarbeit haben Betroffene und ihre Angehörigen oft ungenügenden Zugang zu psychosozialen Unterstützungsangeboten.
Erst auf Anregung von Vertrauenspersonen nehmen Betroffene solche Angebote an. Unsere Gastautor*innen schlagen vor, dass Fachpersonen der Sozialen Arbeit bei Demenzbetroffenen und ihren Angehörigen stärker die Rolle als Brückenbauer*innen übernehmen. Lesen Sie in unserem Gastbeitrag, was es dazu braucht.