1. Platz - Die Anonymität des Netzes fürs Reden nutzen
Gemeinsam gamen und dabei über Probleme reden. So einfach funktioniert „Checkpoint“, ein Projekt des Luzerner Vereins „Let’s talk: Gaming“. Die jungen Gründerinnen und Gründer gamen für ihr Leben gerne und wollen das Kommunikationspotential des Gamens für die Soziale Arbeit nutzen. Für so viel Innovationsgeist hat der Verein nun den Prix sozialinfo.ch 2020 erhalten. Ein Besuch beim jungen Team in Luzern.
Das Ziel des Computerspiels League of Legends ist klar: Es gilt, die Basis des gegnerischen Teams zu zerstören. Doch bis diese angegriffen werden kann, müssen auf mindestens einer der zentralen Levelrouten mehrere Verteidigungsanlagen beseitigt werden. Und dies gelingt nur, wenn die fünf Champions, die als Team antreten, eng zusammenarbeiten – auch wenn sich die Spielerinnen und Spieler im realen Leben womöglich noch nie begegnet sind. Sie besprechen die gemeinsame Strategie, diskutieren Spielzüge und legen das gemeinsame Vorgehen fest. Das Vertrauen ineinander wächst. Manchmal so sehr, dass nach einer Weile auch Persönliches geteilt wird. Plötzlich geht es nicht mehr um Spielzüge, sondern um Probleme in der Familie, Mobbing in der Schule, Liebeskummer oder auch Suchtprobleme.
Diese Offenheit während des Gamings fiel auch Morena Michel und ihrem Freund Davide Köpfli auf. Es kam immer wieder vor, dass die beiden passionierten Gamer beim gemeinsamen Spielen im Netz auf Mitspielerinnen und Mitspieler trafen, die ihnen nach einer Weile persönliche Dinge anvertrauten. „Wir merkten, dass es vielen in der Anonymität des Netzes leichter fällt, sich zu öffnen und Probleme anzusprechen“, sagt Morena Michel beim Treffen in Luzern. Schon früh sahen die beiden darin eine grosse Chance, „eine Chance, die es auch in der Sozialen Arbeit zu nutzen gilt“, sagt die 23-Jährige, die derzeit ihr Studium zur Sozialpädagogin absolviert. Warum also nicht ein Beratungsangebot schaffen, das es Jugendlichen ermöglicht, beim gemeinsamen Gaming über ihre Probleme zu sprechen?
Persönliches in der Anonymität teilen
Im Sommer 2019 gründeten Morena Michel und Davide Köpfli schliesslich den Verein „Let’s talk: Gaming“, kurz darauf stiessen Colvin Aeschbacher, Julian Fischer und Angela Gehrig dazu. Das Ziel der jungen Crew: die Kommunikation rund um das Thema Gaming fördern. Oder anders gesagt: über Gaming sprechen, aber auch während des Gamings zusammen sprechen. Dies geschieht im Rahmen von zwei Projekten, „Insight“ und „Checkpoint“. Während sich Ersteres vorwiegend an Eltern und Lehrpersonen richtet (siehe Infobox), ist „Checkpoint“ das, was den jungen Gründerinnen und Gründern einst vorschwebte: ein online Beratungsangebot, bei dem sich Jugendliche während des Gamings mit den Beraterinnen und Beratern über Probleme und Herausforderungen unterhalten können. „Es ist ein niederschwelliges Angebot, bei dem die Jugendlichen das Tempo vorgeben“, sagt Davide Köpfli. Bei einer Beratung müsse nicht zwingend das Problem im Zentrum stehen. Es sei auch in Ordnung, wenn die Jugendlichen zuerst ein wenig Gamen und sich über Alltägliches unterhalten wollen, sagt der angehende Umweltingenieur. Besonders mit „Checkpoint“ zeigt das junge Team von „Let’s talk: Gaming“ auf, wie der lebensweltorientierte Ansatz in virtuelle Räume übertragen werden kann. Während „Insight“ schon seit einiger Zeit läuft, befindet sich „Checkpoint“ noch in der Aufbauphase.
Auf zwei Kanälen gleichzeitig
Wie gelangen die Jugendlichen an „Let’s talk: Gaming“? Colvin Aeschbacher, der sich derzeit zum Sozialarbeiter ausbilden lässt, erklärt es so: „Wenn Jugendliche mit uns ins Gespräch kommen wollen, findet der erste Kontakt im Spiel statt.“ Die Jugendlichen schicken eine Anfrage an den Account des Vereins und erhalten dann einen Link zu einem Programm, das nicht mit dem Computerspiel verbunden ist. Das heisst konkret, während die Jugendlichen über einen Kanal mit den Mitgliedern von „Let’s talk: Gaming“ am Spielen sind, können sie sich über einen anderen Kanal mit ihnen austauschen. Diese Trennung sei aus Datenschutzgründen nötig, sagt Colvin Aeschbacher. Das zweistufige Vorgehen garantiere zudem, dass das persönliche Anliegen auch wirklich persönlich bleibe.
Die Probleme, welche die Jugendlichen ansprechen, seien so unterschiedlich, wie die Jugendlichen selbst, sagt Morena Michel. Liebeskummer, Alkoholprobleme, fehlendes Selbstwertgefühl – dies seien nur ein paar wenige Beispiele. Es kann vorkommen, dass ein schwerwiegendes Problem die Kompetenzen des Beraterteams übersteigen, „schliesslich befinden wir uns alle noch in der Ausbildung“, sagt sie. Deshalb gehöre es zu ihrer Sorgfaltspflicht, den Jugendlichen zu sagen, wenn die Peer-Beratung an ihre Grenzen stösst und damit der Moment für eine weiterführende Beratung gekommen sei. „Wir unterstützen die Jugendlichen aber dabei, dass sie diese Hilfe auch tatsächlich bekommen.“ Dafür hat „Let’s talk: Gaming“ bereits ein beachtliches Netz aufgebaut. Sowohl private wie auch öffentliche Organisationen arbeiten mit dem Verein zusammen.
Eine Zukunft geschenkt bekommen
Viele Stunden Arbeit und ganz viel Herzblut haben die Vereinsmitglieder in den letzten Monaten in ihre Projekte gesteckt. Sie seien auf gutem Weg, aber es gebe noch viel zu tun, sagt Davide Köpfli. Der Gewinn des mit 8000 Franken dotierten Prix sozialinfo.ch kommt für „Let’s talk: Gaming“ daher gerade zum richtigen Zeitpunkt. „Es ist der absolute Wahnsinn“, sagt Morena Michel. Es fühle sich so an, als sei ihnen gerade „eine Zukunft geschenkt“ worden. Es sei fantastisch, dass jemand von aussen das Projekt würdige und dem Verein somit sage: „Hey, es isch lässig, was ihr hie möchet!“ Das sei enorm motivierend und es zeige, dass sich der bisherige Aufwand gelohnt habe.
Dank dem Gewinn kann nun die Testphase von „Checkpoint“ gestartet werden. Ein Teil des Geldes soll zudem in die Ausbildung weiterer Beraterinnen und Berater fliessen. Und wie sehen die weiteren Ziele aus? „Dass unser Angebot zu einem festen Bestandteil der Sozialen Arbeit wird – am liebsten in der ganzen Zentralschweiz“, sagt Morena Michel und strahlt.
Weitere Informationen unter: lets-talk-gaming.com
Ein Hobby wie jedes andere
Die Mitglieder von „Let’s talk: Gaming“ sind allesamt passionierte Gamer. Alle begannen sie ihre Gamer-Laufbahn schon im Kindesalter. Zwischen sieben und zwölf Jahren waren sie alt, als sie erstmals auf dem Gameboy spielten oder die Spielkonsole in den Händen hielten. Sie gingen auf Moorhuhnjagd oder fingen Pokemons. So sehr sie ihr Hobby lieben, noch immer erzählen sie nicht jedem und jeder gleich auf Anhieb, dass sie in ihrer Freizeit gerne gamen. „Mir hat mal jemand gesagt, dass ich Gaming nicht als mein Hobby auf meinen Lebenslauf schreiben soll, das wirke abschrecken“, sagt Angela Gehrig von „Let’s talk: Gaming“. In vielen Köpfen bestehe immer noch das Bild vom ungepflegten Gamer, der in seinem Kämmerlein ohne Tageslicht im virtuellen Raum herumballere. Solche Gamer gebe es sicher, räumt Angela Gehrig ein, aber sie seien eine Ausnahme. „Die meisten Gamerinnen und Gamer sind ganz normale Menschen.“ Es sei an der Zeit, dass Gaming entstigmatisiert würde. Es sei wie mit allem: eine Frage des Masses, sagt Julian Fischer, Mitglied von „Let’s talk: Gaming“ und ausgebildeter Logopäde. Wer jeden Tag mehrere Stunden ins Fitnessstudio gehe, der lege auch ein ungesundes Verhalten an den Tag. „Das ist beim Gamen genau gleich. Man sollte es nicht übertreiben.“
Dass Gaming in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, macht die James-Studie deutlich, die alle zwei Jahre im Auftrag der Swisscom von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchgeführt wird. 90 Prozent der Jugendlichen gaben bei der jüngsten Befragung an, regelmässig zu gamen. „90 Prozent der Jugendlichen können keine Nerds sein“, sagt Angela Gehrig. Dass man als Gamerin auch politisch Karriere machen kann, beweist die US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez. Sie spielt regelmässig „League of Legends“ und hat dabei bereits den Rang Silber III erreicht. In einem Interview während des Lockdowns sagte die demokratische Sozialistin, dass das Computerspiel sie auch in der Politik weiterbringe. Es helfe ihr, strategisch und überlegt vorzugehen.
2. Platz - Das Potential der Menschen stets im Blick
Der Kanton Glarus macht bei der Integration von Menschen aus dem Asyl- und Flüchtlingsbereich vieles richtig: Deutlich mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge oder vorläufig aufgenommenen Personen ist im Kanton Glarus in das Erwerbsleben integriert. Gut möglich, dass es künftig noch mehr sein werden, denn der Kanton wartet bereits mit einer weiteren Innovation auf: eine CM-T Applikation zur kontinuierlichen Potentialerhebung und Sprachförderung. Was heisst das konkret? Das CM-T ist ein kontinuierliches Case Monitoring System, welches darauf abzielt, den Entwicklungsstand und das Potential von Menschen aus dem Asyl- und Flüchtlingsbereich dynamisch und lebensweltorientiert abzubilden. In regelmässigen Abständen werden Standortbestimmungen und Potentialabklärungen gemacht und erfasst. Mit vordefinierten Bewertungsbögen, welche auf den jeweiligen Abklärungseinsatz zugeschnitten sind, können Werte aus verschiedenen Programmen (Bildungsangebote, Testeinsätze, Praktika, Asylbetreuung, Integrationsvorlehre, Arbeitseinsätze, Beschäftigungsprogramme etc.) zeitnah erfasst werden. Die Synthese der Werte, welche im CM-T System festgehalten werden, liefert stets ein aktuelles Bild der Kompetenzen im Bereich der Bildung und der beruflichen Perspektiven. Die chronologische Auflistung macht die Entwicklung der Klientinnen und Klienten im jeweiligen Bereich sichtbar. Die Erhebungsergebnisse und spezifischen Abklärungen fliessen in die Integrationsprozessplanung ein. Diese bildet die Grundlage und das Instrument für ein evidenzbasiertes Fallmonitoring. Die Jury des Prix Sozialinfo sieht in diesem Vorgehen ein enormes Potential und wählt das Projekt des Kantons Glarus auf den 2. Platz.
3. Platz - Eine App als Unterstützung, um trocken zu werden
Das Smartphone ist aus dem heutigen Alltag nicht mehr wegzudenken. Es dient unter anderem als Stereoanlage, als Videokamera, als Steuergerät für die Heizung – und nun auch als Unterstützung für Menschen, die ihren Alkoholkonsum verändern wollen. Und zwar mit dem NoA-Coach, dem No Addiction-Coach. Die Smartphone-App wurde von Fachpersonen der Berner Gesundheit (BEGES), der Suchtfachstelle Zürich, dem Blauen Kreuz Schweiz und dem Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) entwickelt und wird derzeit erprobt. Die App wurde für Personen entwickelt, die ihren Alkoholkonsum verändern möchten, bei einer Fachstelle in ambulanter Suchtberatung sind und von einer engmaschigen Unterstützung im Alltag profitieren möchten. Die App sei kein Ersatz für eine therapeutische und medizinische Behandlung, machen die Entwickler deutlich. Der NoA-Coach sei eine Ergänzung. Bisher war der Kontakt zwischen den Klientinnen und Klienten zu den Beratungspersonen auf die persönlichen Gespräche sowie telefonischen Kontakte beschränkt. Und neu steht eben auch der NoA-Coach zur Verfügung. Ein vielversprechendes Projekt, findet die Jury des Prix Sozialinfo und wählte es auf den 3. Platz.