Zum Inhalt oder zum Footer

Vorgehen bei Gefährdungsmeldung

Veröffentlicht:
28.02.2017
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Guten Tag,
Schon im Voraus vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage.
Es geht um einen erwachsenen Patienten, welcher auf den Rollstuhl angewiesen ist und eine psychische Erkrankung hat. Diese äussert sich im Alltag u.a. immer wieder mit Wahnvorstellungen. Ausserdem ist eine latente Alkoholabhängigkeit bekannt.
Der Patient ist verheiratet. Der Mann ist in den vergangen Jahren immer wieder bei uns stationär gewesen wegen gesundheitlichen Schwierigkeiten, weil er eine schlechte Körperwahrnehmung hat und wenig Eigeninitiative zeigt, zu seiner Gesundheit Sorge zu tragen. Auch war er auch immer wieder einige Tage in der Psychiatrie. Seine Frau möchte ihn nun nach dem stationären Aufenthalt (Behandlung wegen einer erneuten offenen Druckstelle) nicht mehr nach Hause nehmen. Auch das Reha-Team sieht aus verschiedenen Gründen eine Meldung an die KESB angezeigt. Nun möchte die Ehefrau aber selber in der Gefährdungsmeldung nicht erwähnt sein, aus Angst, ihr Mann könnte eine allfällige Massnahme ihr anlasten. Ausserdem ist sie der Meinung, die Behörde werde sie dann zwingen, Details bekannt zu geben.
Ich gehe davon aus, dass die Abklärungsstelle (in jenem Kanton das Gericht) natürlich ein Interesse hat, die Ehefrau auch anzuhören, ist sie doch die wichtigste Bezugsperson. Aber sie kann nicht gezwungen werden, Auskunft zu geben, oder?
Gibt es im jetzigen Erwachsenschutzrecht immer noch die Möglichkeit, anstelle einer Beistandschaft Auflagen anzuordnen (z.B. kontrollierte Medikamenten-Einnahme oder Paarberatung für beide)? Im Wissen, dass sie auch dazu nicht gezwungen werden können.
Besten Dank für Ihre Rückmeldung,
Freundliche Grüsse
F. Sigrist

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi Frau Sigrist,
können Sie mir sagen, in welchem Kanton die zuständige KESB/Gericht ist?
Besten Dank und freundliche Grüsse
Karin Anderer

Guten Morgen Frau Anderer
Die KESB im Kanton Aargau ist zuständig, unsere Klinik ist in Luzern (Entbindung Schweigepflicht).
Freundliche Grüsse
Fabienne Sigrist

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Sigrist,
Die Sachverhaltsabklärung durch die KESB erfordert in der Regel die Mitwirkung von am Verfahren beteiligten Personen und von Dritten. Art. 448 Abs. 1 ZGB sieht vor, dass die am Verfahren beteiligten Personen und Dritte zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet sind. Zu den Verfahrensbeteiligten gehört auch ein Ehegatte, sofern er ein rechtlich geschütztes Interesse am Ausgang des Verfahrens hat (BSK ZGB I-Auer/Marti, 448 N 2). Ein rechtlich geschütztes Interesse liegt dann vor, wenn die erwachseneschutzrechtliche Massnahme auch dem Schutz und der Entlastung von Angehörigen und Dritten dienen soll (ESR Komm-Langenegger, Art. 419 ZGB N 2). Das dürfte bei der Ehefrau der Fall sein.
Nötigenfalls ordnet die KESB die zwangsweise Durchsetzung der Mitwirkungspflicht an; eine solche Anordnung ist beschwerdefähig. Eine zwangsweise Durchsetzung kommt aber nur in Frage, wenn die in Frage stehende Mitwirkungspflicht verhältnismässig ist und sich die betroffene Person nicht auf ein ihr zustehendes Verweigerungsrecht beruft (BSK ZGB I-Auer/Marti, 448 N 17). Die KESB hat die Ehefrau im Vorfeld über ihre Mitwirkungspflicht, ihr Verweigerungsrecht und die Säumnisfolgen aufzuklären (CHK-Steck, ZGB 448 N 8 ). Der Ehefrau kommt, als eine am Verfahren beteiligte Person, ein Verweigerungsrecht zu (CHK-Steck, ZGB 448 N 16; Anna Murphy/Daniel Steck, in: FHB Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, N 18.123). Bei Dritten richtet sich ein Verweigerungsrecht nach dem kantonalen Recht, wo ein solches fehlt, nach der ZPO. Art. 165 Abs. 1 lit. a ZPO verleiht einem Ehegatten ein umfassendes Verweigerungsrecht.
Die KESB kann nach Art. 392 ZGB, wenn die Errichtung einer Beistandschaft wegen des Umfangs der Aufgaben als offensichtlich unverhältnismässig erscheint, von sich aus das Erforderliche vorkehren, namentlich die Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft erteilen, einer Drittperson für einzelne Aufgaben einen Auftrag erteilen oder eine geeignete Person oder Stelle bezeichnen, der für bestimmte Bereiche Einblick und Auskunft zu geben sind.
Nach Art. 437 ZGB regeln die Kantone die Nachbetreuung und sie können ambulante Massnahmen vorsehen.
So sieht § 67n EG ZGB AG für ambulante Massnahmen Folgendes vor:
1 Um die Einweisung in eine Einrichtung zu vermeiden, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bei einer Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, ambulante Massnahmen gegen den Willen der betroffenen Person anordnen, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. § 67k Abs. 1 gilt sinngemäss. Sie lässt ihren Entscheid gegebenenfalls der Beiständin oder dem Beistand zukommen.
2 Ambulante Massnahmen sind auf höchstens zwölf Monate zu befristen. Sie fallen spätestens mit Ablauf der festgelegten Dauer dahin, wenn keine neue Anordnung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde vorliegt.
§ 67k-o EG ZGB AG regelt die Nachbetreuung im Anschluss an eine fürsorgerische Unterbringung.
Nach § 67p EG ZGB AG ist für das Vollstreckungsverfahren der angeordneten Nachbetreuung und ambulanten Massnahmen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zuständig. Die polizeiliche Zuführung ist möglich, falls sie verhältnismässig erscheint. Im Übrigen ist die Anwendung von körperlichem Zwang unzulässig.
Die Anordnung einer kontrollierten Medikamenteneinnahme, Suchttherapie, (Psychiatrischen) Spitex, Arztbesuche, Psychotherapie usw. ist also möglich. Was die Paarberatung anbelangt, kann die Ehegattin aber nicht Adressatin der ambulanten Massnahme sein; die KESB hat ihr gegenüber nichts anzuordnen.
Die Ehefrau spricht mit ihrem Mann offenbar nicht über die Belastung im Alltag. Vielleicht legt sie ein suchtförderndes Verhalten an den Tag (Co-Abhängigkeit) oder schämt sich dafür, dass sie den im Rollstuhl sitzenden Mann „rauswerfen“ möchte. Es ist nicht Aufgabe der KESB, ihr dabei zu helfen, stehen der Ehefrau doch Eheschutzmassnahmen zur Verfügung. Hingegen hat die KESB das Wohl und den Schutz des Ehemannes sicherzustellen und die Verhältnismässigkeit einer behördliche Massnahme zu prüfen (Art. 388 f. ZGB). Sofern die Voraussetzungen einer behördlichen Massnahme gegeben sind, wird zu klären sein, was mit einer Beistandschaft, einer FU oder der Anordnung einer ambulanten Massnahme erreicht werden kann. Was könnte ein Beistand oder eine Beiständin erwirken? Wie sieht die Umsetzung ambulanter Massnahmen aus, wenn der Ehemann keine Adhärenz aufweist oder sogar Widerstand leistet?
Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten ist kein Grund für eine behördliche Massnahme, ist aber bei der Prüfung einer solchen zu berücksichtigen (Art. 390 Abs. 2 ZGB). Die KESB kann sich über die Belastung der Ehefrau allerdings kaum ein Bild machen, wenn sie die Mitwirkung verweigert.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich
Luzern, 7.3.2017
Karin Anderer