Sehr geehrte Frau Anderer
Mit sind die Begriffe und Definitionen der Handlungsfähigkeit bzw. Urteilsunfähigkeit sowie die höchstpersönlichen und relativ höchstpersönlichen Rechten bekannt.
Im konkreten Fall handelt es sich um einen 18-jährigen jungen Mann der eine Insos Ausbildung absolvierte und in der alltäglichen Lebensbewältigung durch seine (Finanzen, Administration, Hygiene, Ernährung) Unterstützung benötigt. Sein IQ liegt bei 70. Seit über 15 Jahren lebt er in unserem Kinder- und Jugendheim. Die Eltern hatten beide einen Obhutsentzug. Es bestand eine Beistandschaft.
Der ehemalige Beistand leitete, trotz IV-Testergebnissen die seine kognitiven Defizite bestätigten, keine Erwachsenenschutzmassnahme ein. Derzeit hat er weder einen Beistand noch sind anderweitige Massnahmen verfügt. Er wohnt nach wir vor nei uns im Kinder- und Jugendheim. Eine Anschlusslösung wird unter Hochdruck gesucht. Aus unserer Sicht ist der junge Mann in einzelnen Bereichen urteilsunfähig. Er kann die Tragweite einzelner Entscheidungen (Verträge abschliessen etc.) nicht einschätzen. ihn als urteils- und handlungsfähig einzustufen ist aus unserer Sicht fahrlässig.
Zu meinen Fragen:
- Wer muss eine Erwachsenenschutzmassnahme beantragen und auf Grundlage welcher Beurteilungen?
- Wer entscheidet ob eine Person in den einzelnen Bereichen Urteils- und Handlungsfähig ist?
Freundliche Grüsse
J.P
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrter Herr P
Urteilsunfähige Personen sind von Gesetzes wegen geschützt, unabhängig davon, ob eine Erwachsenenschutzmassnahme besteht: Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen (Art. 18 ZGB). Handlungen der urteilsunfähigen Person sind somit grundsätzlich nichtig. Im Streitfall ist darüber zu befinden, ob die betroffene Person in Bezug auf die konkrete Handlung urteilsfähig oder urteilsunfähig war. Der Beweis wird häufig über ein ärztliches Zeugnis oder eine psychiatrische Begutachtung erbracht.
Wenn Sie eine Erwachsenenschutzmassnahme als notwendig erachten, besprechen sie das idealerweise mit dem Herrn und unterstützten ihn dabei, eine Beistandschaft zu beantragen. Kann oder will er das nicht tun, so können Sie eine Gefährdungsmeldung bei der KESB an seinem zivilrechtlichen Wohnsitz erstatten (Art. 433 ZGB).
Auf der Website der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektorin finden Sie in der Rubrik >Kindes- und Erwachsenenschutz >Erwachsenenschutz >Gefährdungsmeldung eine „Selbstmeldung Erwachsene“ und „Gefährdungsmeldung/Meldung über die Hilfsbedürftigkeit einer erwachsenen Person“ <https://www.jgk.be.ch/jgk/de/index/kindes_erwachsenenschutz/erwachsenenschutz/gefaehrdungsmeldung.html >. Der Herr soll im Antrag erklären, worin seine Hilfs- oder Schutzbedürftigkeit besteht oder in einer Gefährdungsmeldung sind Angaben zu machen, worin die Gefährdung besteht.
Art. 446 ZGB regelt die Verfahrensgrundsätze: Die KESB erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen. Sie zieht die erforderlichen Erkundigungen ein und erhebt die notwendigen Beweise. Sie kann eine geeignete Person oder Stelle mit Abklärungen beauftragen. Nötigenfalls ordnet sie das Gutachten einer sachverständigen Person an. Sie ist nicht an die Anträge der am Verfahren beteiligten Personen gebunden und sie wendet das Recht von Amtes wegen an.
Die KESB errichtet eine Beistandschaft, wenn eine volljährige Person wegen einer geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder eines ähnlichen in der Person liegenden Schwächezustands ihre Angelegenheiten nur teilweise oder gar nicht besorgen kann (Nach Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB). Eine Urteilsunfähigkeit muss nicht zwingend vorliegen. Im Rahmen der Abklärungen wird sich die KESB ein Bild über den Schwächezustand und somit auch über die Urteilsfähigkeit verschaffen. Sofern notwendig, holt sie ein ärztliches Zeugnis ein oder trifft anderweitige Abklärungen.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 6.9.2019
Karin Anderer