Guten Tag
Folgende Situation beschäftigt uns aktuell:
Eine Kindsmutter mit N-Ausweis wohnt gemeinsam mit ihrem Kind im Kanton Bern und wird von der Asylsozialhilfe unterstützt. Der Kindsvater wohnt im Kanton Aargau und hat B-Ausweis, er ist finanziell selbständig. Die Vaterschaft ist wegen fehlender Dokumente der Eltern noch nicht anerkannt, die Prozesse sind jedoch am Laufen. Auch möchten die Kindsmutter und der Kindsvater heiraten. Auch hier sind die Heiratsvorbereitungen eingeleitet, die Dokumentenbeschaffung aber noch nicht abgeschlossen. Sobald Heirat und/oder Vaterschaftsanerkennung abgeschlossen sind, besteht ein Anspruch auf Einheit der Familie und sie können einen Kantonswechsel beantragen.
Die Familie möchte aber bereits jetzt gemeinsam leben und deshalb halten sich die Kindsmutter und das Kind gemäss eigenen Angaben als "Wochenaufenthalter" beim Kindsvater auf. Die Voraussetzungen für einen (nicht bewilligungspflichtigen) Wochenaufenthalt sind aber aus unserer Sicht nicht gegeben, wenn sich Mutter und Kind ausschliesslich zum Zweck des Verbleibs bei der Familie im Kanton Aargau aufhalten. Es darf bezweifelt werden, dass sie an Wochenenden und Feiertagen in den Wohnkanton zurück kehren. Zugleich stellt der Aufenthalt eine Verschiebung des Mittelpunktes der Lebensverhältnisse dar, da er mit der Absicht zum dauernden Verbleib erfolgt. Es würde sich also um einen einen bewilligungspflichtigen Kantonswechsel und eine Verschiebung des Unterstützungswohnsitzes handeln.
Deshalb die Fragen:
Was sind sozialhilfrechtlich die Folgen, wenn sich Mutter und Kind trotz anderslautender Anweisungen weiterhin beim Kindsvater im Kanton Aargau aufhalten?
Wie ist das Budget für Mutter und Kind in der Zwischenzeit zu gestalten, so lange kein bewilligter Kantonswechsel und damit ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit vorliegt? Kann ein Zuständigkeitwechsel auch ohne Vorliegen eines bewilligten Kantonswechsels erfolgen?
Vielen Dank für Ihre Abklärungen!
Freundliche Grüsse
Raphael Strauss
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrter Herr Strauss
Vielen Dank für Ihre Frage. Ich beantworte diese gerne wie folgt:
1. Zuständigkeit
Die Zuständigkeit für die Unterstützung einer bedürftigen Person, die sich in der Schweiz aufhält, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedrüftiger vom 24. Juni 1977 (Zuständigkeitsgesetz, ZUG, SR 851.1). Nach Art. 1 Abs. 3 ZUG richtet sich die Zuständigkeit für die Unterstützung von Asylsuchenden nach besonderen Erlassen des Bundes. Im Asylverfahren weist das Bundesamt für Migration die Asylsuchenden gestützt auf Art. 27 Abs. 3 AsylG den Kantonen zu (sog. Zuweisungskantone). Die sozialhilferechtliche Zuständigkeit für Asylsuchende ist in Art. 80 AsylG geregelt. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung gewährleisten die Zuweisungskantone die Sozialhilfe für Personen, die sich gestützt auf das Asylgesetz in der Schweiz aufhalten. Diese im Bundesgesetz vorgesehene Zuständigkeit ist für die Sozialhilfe verbindlich und muss zwingend beachtet werden. Gemäss Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für die rechtsanwendenden Behörden von Bund und Kantonen nämlich massgeblich und müssen beachtet werden. Duch die Zuweisung an einen Kanton ist die Freizügigkeit für Asylsuchende stark eingeschränkt. Ein Kantonswechsel wird vom Bundesamt für Migration nur bei Zustimmung beider Kantone, bei Anspruch auf Einheit der Familie oder bei schwerwiegender Gefährdung der asylsuchenden Person oder anderer Personen verfügt (vgl. Art. 22 Abs. 2 der Asylverordnung 1 über Verfahrensfragen vom 11. August 1999 (AsylIV 1, SR 142.311). Solange kein Kantonswechsel bewilligt wurde, ist unbesehen des tatsächlichen Lebensmittelpunkts der Zuweisungskanton für die Unterstützung zuständig, da rechtlich der Unterstützungswohnsitz nicht geändert werden kann.
Fazit: Auch wenn davon ausgegangen wird, dass die Mutter und das Kind den faktischen Lebensmittelpunkt bereits heute in den Kanton Aargau verlegt haben, bleibt der Kanton Bern als Zuweisungskanton solange unterstützungspflichtig, bis ein Kantonswechsel bewilligt ist.
2. Budget
Nach Art. 8 der Sozialhilfeverordnung des Kantons Bern (SHV BE, BGS 860.111) ist der Grundbedarf für den Lebensunterhalt je nach Haushaltgrösse bemessen. Auch die Wohnkosten können sich nach Haushaltsgrösse bemessen (Art. 8 Abs. 1 SHV BE i.V.m. Kapitel C.4.1 SKOS-Richtlinien).
Fazit Grundbedarf: Kommt die Sozialhilfe im Kanton Bern zum Schluss, dass der faktische Lebensmittelpunkt der Mutter und des Kindes sich im Kanton Aargau befindet, muss sie die beiden - wie oben ausgeführt - zwar weiterhin finanziell unterstützen, kann sie aber betreffend Grundbedarf mit einem Ansatz von 2 Personen in einem 3-Personenhaushalt unterstützten.
Fazit Mietkosten: Falls die Mutter und das Kind in einem Asylzentrum wohnen, haben sie keinen Anspruch auf zusätzliche Wohnkosten. Dieser Frage muss dann nicht weiter nachgegangen werden. Haben sie im Kanton Bern eine eigene Wohnung gemietet, könnte die Sozialhilfe grundsätzlich argumentieren, dass aufgrund des tatsächlichen Lebensmittelpunkts im Kanton Aargau 2/3 der Wohnkosten (2 von 3 Personen) übernommen werden. Dies scheint mir im konkreten Fall aber rechtlich heikel zu sein, weil die Mutter und das KInd dann Wohnkosten im Kanton Bern haben und diese auch von diesem zu bezahlen sind. In diesem Fall empfehle ich weiter die Übernahme der bisherigen Wohnkosten und die Reduktion dieser auf 2/3 der Wohnkosten (bis max. Grenzwert) nur dann, falls die Mutter die Wohnung kündigt und (allenfalls auch ohne Bewilligung des Kantonswechsels) in den Kanton Aargau zieht.
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach
Herzlichen Dank!