Ich bin Vormundin eines Kindes, dessen Eltern beide minderjährig sind. Der Kindesvater, welcher das Kind anerkannt hat, wird ein Jahr früher als die Kindesmutter volljährig. Was bedeutet das für die "Übertragung" der elterlichen Sorge im Jahr 2020 (Volljährigkeit Kindesvater) bzw.2021 (Volljährigkeit Kindesmutter) unter der Annahme, dass per diesen Daten keine Gründe für eine weitere Kindesschutzmassnahme bestehen? Wird mit der Volljährigkeit des Kindesvater diesem die alleinige elterliche Sorge gemäss Art. 296 Abs. 3 ZGB zufallen? Wird die Kindesmutter bei Erreichen der Volljährigkeit einen Antrag auf Erteilen der gemeinsamen elterlichen Sorge stellen müssen?
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrte Frau Schneider
Das rechtliche Kindesverhältnis entsteht zur Mutter durch Geburt (Art. 252 ZGB). Ist sie minderjährig, steht ihr keine elterliche Sorge zu (Art. 296 Abs. 3 1. Satz ZGB). Mit Erreichen der Volljährigkeit kommt ihr von Gesetzes wegen die elterliche Sorge zu (Art. 296 Abs. 3 2. Satz ZGB).
Zum Vater entsteht das Kindesverhältnis u.A. durch Anerkennung (Art. 252 ZGB). Die elterliche Sorge des nicht mit der Mutter verheirateten Vaters, was hier der Fall ist, entsteht nicht von Gesetzes wegen, sondern nur kraft gemeinsamer Erklärung der Eltern, eines Gerichtsurteils oder eines kindesschutzbehördlichen Entscheides (Art. 298a–298d ZGB). Ein späterer Eheschluss mit der Mutter verleiht dem Vater auch die elterliche Sorge (Art. 259 ZGB).
Nun hat der Vater das Kind anerkannt und er wird ein Jahr früher als die Mutter volljährig. Ist die Mutter minderjährig, so weist die Kindesschutzbehörde die elterliche Sorge dem Vater zu oder bestellt dem Kind einen Vormund, je nachdem, was zur Wahrung des Kindeswohls besser geeignet ist (Art. 298b Abs. 4 ZGB). Die KESB hat vorliegend zu entscheiden, ob dem volljährigen Vater die Alleinsorge zu übertragen ist. Dabei orientiert sie sich am Kindeswohl und hat die Lebensumstände des Kindes und der Eltern und die Entwicklungsperspektiven in der nahen Zukunft zu berücksichtigen. Die elterliche Sorge fällt dem Vater also nicht automatisch zu (vgl. BK-Affolter/Vogel, Art. 298b, N 32 f.).
Angenommen, dass dem Vater mit Erreichen der Volljährigkeit die Alleinsorge übertragen wird, ist sich die Lehre über das weitere Vorgehen nicht einig.
Nach der einen Lehrmeinung ändert sich die Rechtsstellung der volljährigen Mutter. Sie befindet sich in keiner anderen Lage als der volljährige Vater ohne elterliche Sorge. In diesem Fall entsteht die elterliche Sorge durch die gemeinsame Erklärung der Eltern oder eines kindesschutzbehördlichen Entscheides (Art. 298a–298d ZGB; vgl. BK-Affolter/Vogel, Art. 296, N 40). Die Autoren begründen das folgendermassen: „Dieser Schluss lässt sich auch aus der Tatsache ziehen, dass das Kindesrecht – ausserhalb der Ehe – keinen Fall gesetzlicher gemeinsamer elterlicher Sorge kennt und es sich daher weder unter dem Aspekt der Gesetzessystematik noch der (relativen) rechtlichen Gleichbehandlung herleiten lässt, dass die volljährig gewordene Mutter eines Kindes unter väterlicher Sorge unter Umgehung der gesetzlichen Formalien (gemeinsame Erklärung gem. Art. 298a Abs. 1, behördlicher Entscheid gem. Art. 298b) zu gemeinsamer elterlicher Sorge gelangt. Das Kindeswohl ist gewahrt, weil das Kind bis zur Erlangung der gemeinsamen Sorge seiner Eltern unter elterlicher Sorge (des Vaters) steht. Befürchtungen, dass mit der Einsetzung des Vaters in die elterliche Sorge die Interessen einer minderjährigen Mutter allenfalls gefährdet werden könnten, lässt sich in der Praxis nicht nur mit der Möglichkeit der behördlich verfügten gemeinsamen Sorge begegnen (Art. 298b), sondern insb. auch mit der Erklärung des Vaters, seine Zustimmung zur gemeinsamen elterlichen Sorge zu erteilen, die ihm die KESB im Rahmen des Verfahrens nach Art. 298b Abs. 4 abnehmen kann. Tut er dies aus sachwidrigen Gründen nicht, wird ohne Gefahr einer Nötigung seine Eignung für eine solche Lösung in Frage stehen und einer Vormundschaft der Vorzug zu geben sein. Die Erklärung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach Art. 298a Abs. 1 kann – da es sich um ein höchstpersönliches Recht (Art. 19c) handelt – von den Eltern und namentlich der urteilsfähigen Mutter auch vor Erreichen ihrer Volljährigkeit gültig abgegeben werden“ (BK-Affolter/Vogel, Art. 296, N. 40).
Die andere Lehrmeinung nimmt den Standpunkt ein, „dass der Mutter die elterliche Sorge auch in diesem Fall mit Erreichen der Volljährigkeit ex lege – neben jener des Vaters – erwachse“ (Meier/Stettler, DCS, Rz. 597 und BSK ZGB I-Schwenzer/Cottier, vgl. dazu die Hinweise bei BK-Affolter/Vogel, Art. 296, N 40).
Fazit
Somit fällt dem Vater mit Erreichen der Volljährigkeit die elterliche Sorge nicht automatisch nach Art. 296 Abs. 3 2. Satz ZGB zu. Die KESB kann ihm aber nach Art. 298b Abs. 4 ZGB die Alleinsorge übertragen. Sollte Letzteres der Fall sein, erkundigen Sie sich zusammen mit den Eltern bei der zuständigen KESB, welchen Weg sie einzuschlagen gedenkt, bzw. welcher Lehrmeinung sie folgen wird.
Wird dem Vater die Alleinsorge nach Art. 298b Abs. 4 ZGB nicht übertragen, erlangt die Mutter mit Erreichen der Volljährigkeit von Gesetzes wegen die elterliche Sorge (Art. 296 Abs. 3 2. Satz ZGB) und der Vater nur kraft gemeinsamer Erklärung der Eltern, eines Gerichtsurteils oder eines kindesschutzbehördlichen Entscheides (Art. 298a–298d ZGB).
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich
Luzern, 19.9.2019
Karin Anderer