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rückwirkende finanzielle Abklärungen vor Mandatsbeginn

Veröffentlicht:
04.03.2021
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Ich habe vor drei Wochen ein neues Mandat eines 86-jährigen Mannes übnernommen. Der Klient ist (war) sehr vermögend und lebt heute im Pflegeheim. Gemäss einem Gutachten ist er seit rund einem halben Jahr nicht mehr urteilsfähig. Vor Errichtung der Beistandschaft (394 i.V.m. 395 ZGB mit den Aufträgen Wohnen, Finanzen, Administration, Finanzen, Vertretung in rechtlichen Verfahren) hatte die Tochter (eine von vier Töchtern) offenbar eine Generalvollmacht. Schon im Abklärungsverfahren der KESB kam der Verdacht auf, dass grosse Geldbeträge abhandengekommen sein könnten, es wurden von der KESB aber keine vertieften Abklärungen vorgenommen oder vorsorgliche Massnahmen nach Art. 445 ZGB ergriffen. Im Rahmen der Abklärungen zum Eingangsinventar und der Sichtung wichtiger Dokumente (Steuerunterlagen) wurde nun festgestellt, dass in den letzten Monaten erhebliche Vermögenswerte verschwunden sind, wir sprechen da von Millionenbeträgen. Gemäss Bankbelegen sind die Vermögensbeträge teilweise als "Darlehen" deklariert. Die Tochter ist nicht kooperativ und verweigert die Herausgabe der entsprechenden Dokumente. Nach Rücksprache mit der KESB wurde die Beiständin nun im Nachgang zur Beschlussfassung der KESB mündlich beauftragt, diese Umstände genauer abzuklären und allenfalls einen Anwalt mit der Wahrung der Interessen zu beauftragen. Ich stelle mich auf den Standpunkt, dass die Beiständin rückwirkend keine finanziellen Abklärungen zu treffen hat, ihr Stichtag ist das Errichtungsdatum der Beistandschaft. Das Darlehen, auch wenn nur vage auf einem Bankbeleg erwähnt, ist jedoch in die Klientenbilanz aufzunehmen. Meiner Ansicht nach hätte die KESB im Abklärungsverfahren allenfalls die notwendigen Abklärungen tätigen und Massnahmen ergreifen müssen. 

Fragen:

1. Ist die Beiständin legitimiert und verpflichtet, rückwirkende finanzielle Abklärungen zu tätigen?

2. Muss die Beiständin der mündlichen Anweisung der KESB Folge leisten oder ist ein Eingangsinventar per Errichtungsdatum mit Hinweisen über die abhandengekommenen Vermögenswerte ausreichend?

3. Kann die Beiständin vom Substitutionsrecht Gebrauch machen und einen Anwalt mit diesen rückwirkenden Abklärungen und der Sicherung der Vermögenswerte beauftragen?

Mit Interesse sehen wir Ihrer fachlichen Stellungnahme entgegen. Besten Dank für die Bemühungen.

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrter Herr Hensler

Wenn während des Abklärungsverfahrens bereits der Verdacht auf Veruntreuung bestand, keine vorsorglichen Massnahmen getroffen wurden und später weitere Veruntreuungen vorkamen, dann könnte das zu einer Haftung der KESB führen.

Das Abklärungsverfahren bei der KESB ist abgeschlossen, auch wenn es qualitativ wahrscheinlich zu bemängeln ist. Bei der Inventarisierung kamen nun unklare finanzielle Vorgänge zum Vorschein, die sich auf den Zeitraum vor Errichtung der Beistandschaft erstrecken.

Die KESB hat den Beistand mündlich beauftragt, die Umstände genauer abzuklären. Die Klärung von vermögenswerten Rechtsansprüchen gehört zum beistandschaftlichen Mandat, unabhängig davon, wann sie entstanden sind (BSK ZGB I-Affolter, Art. 408 N 8). Deshalb erstrecken sich die Abklärungen auch auf Zeiträume vor der Errichtung der Beistandschaft. Die mündliche Beauftragung ist ausreichend und der Beistand hat die Rechtsansprüche zu klären und im Inventar festzuhalten.

Auch die Geltendmachung von Rechtsansprüchen gehört zum beistandschaftlichen Mandat (BSK ZGB I-Affolter, Art. 408 N 8). Vom Substitutionsrecht können Sie, wenn es sich um eine Teilaufgabe des Mandats handelt, Gebrauch machen. Sie können einen Anwalt für die Abklärung und Durchsetzung von Rechtsansprüchen einsetzen (BSK ZGB I-Affolter, Art. 408 N 14). Gut wäre es sicher gewesen, wenn die KESB das schriftlich mitgeteilt hätte; Sie sind darauf aber nicht angewiesen. Nach Abklärung der Umstände bzw. sobald sich abzeichnet, dass prozessuale Handlungen notwendig sind, benötigt es eine schriftliche Prozessführungsbefugnis nach Art. 419 Abs. 1 Ziff. 9 ZGB.

Nach Art. 405 Abs. 2 ZGB sind Dritte verpflichtet, alle für die Aufnahme des Inventars erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Die KESB hat hier unverzüglich eine verfahrensleitende Verfügung nach Art. 448 Abs. 1 ZGB zu erlassen. Die Tochter ist zur Einreichung der Unterlagen und Herausgabe von Dokumenten aufzufordern, ggf. unter Androhung der Ungehorsamkeitsstrafe nach Art. 292 StGB (vgl. BSK ZGB I-Affolter, Art. 405 N 15). Nehmen Sie diesbezüglich mit der KESB Kontakt auf.

Die KESB hat hier wahrscheinlich keine sorgfältige Sachverhaltsabklärung durchgeführt. Sie verlagert ihre Abklärungsaufgabe an die Beistandsperson, die eigentlich andere Aufgaben zu erledigen hat. Ich empfehle Ihnen, hier auf Leitungsebene den Qualitätsaustausch mit der KESB zu suchen und das Dossier gemeinsam zu evaluieren.

Ich nehme an, dass Sie bei allen Banken sämtliche Vollmachten von Drittpersonen widerrufen haben.

Fazit:

Sie sind somit legitimiert und verpflichtet, „rückwirkende finanzielle Abklärungen“ zu tätigen. Den mündlichen Anweisungen der KESB ist Folge leisten und die vermögensrechtlichen Rechtsansprüche sind im Inventar aufzunehmen. Vom Substitutionsrecht können Sie Gebrauch machen und einen Anwalt (Hilfsperson des Beistands) einsetzen, solange es sich um eine Teilaufgabe des Mandats handelt.

Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 5.3.2021

 

Karin Anderer