Guten Tag
wir haben eine Fallübertragung eines anderen Dienstes. Die Klientin wurde gekürzt, da sie sieben Monate vor Beantragung der Sozialhilfe auf dem anderen Dienst zu Vermögen (50.000) kam. Klientin ist suchtkrank und hat das Vermögen verbraucht und zum Teil Rechnungen bezahlt. Es wurde mit ihr eine Schulanerkennung vereinbart, dass ihr das verbrauchte Vermögen (abzüglich den bezahlten Rechnungen) vom Grundbedarf in Raten abgezogen wird. Ist dies so korrekt? Müssten wir als neuer Dienst den Abzug fortführen?
Besten Dank.
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Bauer
Vielen Dank für Ihre Frage. Darf ich eine Rückfrage stellen? Habe ich es richtig verstanden: Die Klientin hat das gesamte Vermögen ausgegeben und sich dann, als (fast) nichts mehr übrig war, für Unterstützungsleistungen bei der Sozialhilfe angemeldet?
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Bauer
Ich habe entschieden, den Sachverhalt so zu beantworten, wie ich ihn verstanden habe (siehe oben meine Frage).
Ich gehe also davon aus, dass Ihre Klientin die Fr. 50'000.-- ausgegeben hat, bevor sie sich zum Bezug von Unterstützungsleistungen angemeldet hat. Unsicher bin ich nach wie vor, ob Sie mit dem Ausdruck "Kürzen" tatsächlich "Kürzen" oder nicht eher "Rückerstatten" meinen. Ich werden deshalb beide Themen abhandeln.
1. Thema Kürzung
In der Sozialhilfe gilt das Finalprinzip. Dies bedeutet, dass die wirtschaftliche Hilfe nicht von den Gründen für die Bedürftigkeit abhängig gemacht werden darf. Die Ursache der Bedürftigkeit spielt keine Rolle. Es spielt damit auch keine Rolle, ob eine Person selbstverschuldet bedürftig wurde (Guido Wizent, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Zürich/St. Gallen 2014, S. 218ff.). Nach der Unterstützungsaufnahme wird der unterstützten Person dann die Pflicht zur Selbshilfe auferlegt, deren Verletzung - und die Verletzung weiterer Pflichten - zur Leistungskürzung führen kann (Guido Wizent, a.a.O., S. 219). Im Kanton Bern werden die verschiedenen Pflichten in Art. 28 des Sozialhilfegesetzes (SHG BE) festhalten. Dazu gehört für Personen, die Sozialhilfe beanspruchen nach Abs. 2 LIt. b auch das Vermeiden der Bedürftigkeit. Allerdings entstehen Pflichten - wie Guido Wizent in seinem Buch stellvertretend ausführt - erst frühestens im Zeitpunkt der Beantragung von Unterstützungsleistungen. Diesem Umstand trägt denn auch das Handbuch Sozialhilfe der BKSE Rechnung, in dem dort festgehalten ist, dass die Unterstützungsleistungen nur dann zu kürzen sind (und allenfalls die Rückforderung zu prüfen ist), wenn die Notlage in grober Weise selbstverschuldet herbeigeführt wurde. Es stellt sich deshalb die Frage, was unter dem Begriff "in grober Weise" zu verstehen ist. Das Handbuch gibt keine Auskunft dazu. In der Rechtsprechung wird ein Verhalten in Zusammenhang mit der Sozialhilfe dann als rechtsmissbräuchlich qualifiziert, wenn es "einzig darauf ausgerichtet ist, in den Genuss von materieller HIlfe zu gelangen" (z.B. BGE (8C_927/2008). Der Begriff "in grober Weise herbeigeführt" scheint mir weiterzugehen. Er bedeutet für mich nicht nur, dass jemand sich absichtlich so verhält, dass er bedürftig wird, sondern auch, dass jemand mit seinem Verhalten in Kauf nimmt, bedürftig zu werden, auch wenn das nicht seine hauptsächliche Absicht ist.
Meiner Ansicht nach ist im Fall Ihrer Klientin - so wie ich den Sachverhalt verstehe - eine Kürzung deshalb sehr heikel, weil sie das Geld vor Anmeldung bei der Unterstützung ausgegeben hat. Sie hatte grundsätzlich noch keine Pflichten gegenüber der Sozialhilfe und kann deshalb nicht gekürzt werden. Ob eine Ausnahme davon gemacht werden kann, ist für mich sehr fragwürdig. Das Gesetz selbst (Art. 28 SHG BE) führt aus, dass die Pflichten für Personen bestehen, die Sozialhilfe beantragt haben, das Handbuch will eine Kürzung zulassen, wenn die Klientin die Bedürfigkeit absichtlich herbeigeführt oder doch klar in Kauf genommen hat. Dies schient mir vorliegend äusserst fraglich zu sein. Die Klientin hat einerseits Rechnungen bezahlt, was vor Unterstützung zulässig ist. Andererseits ist sie suchtkrank und hat mit dem Geld wohl ihre Sucht finanziert, ohne dabei die Bedürftigkeit herbeiführen zu wollen. Auch stellt sich die Frage, ob sie überhaupt verschuldensfähig ist durch ihre Sucht, d.h. ob sie verstehen konnte, dass sie eigentlich ihren Lebensbedarf statt ihre Sucht hätte decken müssen. Oder ob sie das zwar verstehen konnte, nicht aber danach handeln konnte, da die Sucht übermächtig war. Ich tendiere dazu, dass bei Ihrer Klientin die Voraussetzungen "in grober Weise herbeigeführt" nicht gegeben sind, weshalb auch die Kürzung nicht zulässig wäre. Genau kenne ich den Sachverhalt aber nicht (wie schwer suchtkrank ist die Klientin? Hat sie das Geld zur Finanzierung ihrer Sucht ausgegeben? Hat sie neben Schulden und Suchtkosten auch andere Kosten bezahlt?).
Ich komme zusammenfassend deshalb zum Schluss, dass eine allfällige Kürzung der Unterstützungsleistungen sehr heikel und deshalb nicht fortzuführen wäre.
2. Rückerstattung
Bezüglich dem Thema Rückerstattung gelten andere rechtliche Grundlagen.
Die Voraussetzungen für die Rückerstattung sind in Art. 40 SHG BE geregelt. Dort wird festgehalten, dass eine Rückerstattung unter anderem dann angezeigt ist, wenn Personen ihre Bedürftigkeit in grober Weise selbst verschuldet haben (Abs. 4).
"In grober Weise selbst verschuldet" verstehe ich so, wie ich unter dem Thema Kürzung oben ausgeführt habe. Die Rückerstattung ist meiner Ansicht nach deshalb zwar unter anderem Rechtstitel aber unter denselben Voraussetzungen wie die Kürzung der Unterstützungsleistunen zulässig. Wie ich unter dem Thema Kürzung ausgeführt habe, ist es für mich fraglich, ob die Voraussetzungen "in grober Weise selbst verschuldet" erfüllt sind. Es hängt sehr davon ab, wie einsichts- und handluchsfähig die Klientin trotz ihrer Sucht ist.
Ich tendiere deshalb auch bezüglich der Rückerstattung dazu, diese als unzulässig zu erachten und diese nicht fortzuführen.
Zusammenfassung
Die Kürzung und die Rückerstattung sind nur zulässig, wenn die Klientin die Bedürftigkeit in grober Weise selbst verschuldet hat. Zur genauen Beurteilung müsste ich den Sachverhalt detailierter kennen. Soweit ich den Sachverhalt kenne, scheint es mir aber fragwürdig, ob die Bedürftigkeit in grober Weise selbst verschuldet ist. Bei Fehlen des groben Verschuldens würde ich sowohl auf eine Kürzung wie eine Rückerstattung verzichten, auch wenn der bisherige Sozialdienst diese angeordnet hat. Damit alles formell korrekt ist, würde ich in diesem Fall die Schuldanerkennung aufheben und mittels Verfügung allenfalls festhalten, dass keine Rückerstattungspflicht besteht.
Gerne können Sie mir den Sachvernalt aber genauer schildern. Dann kann ich die Rechtslage noch besser einschätzen.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach