Sehr geehrte Frau Anderer
Die A. Wohnfamilie ist eine Institution die in ihrem Leitbild die konfessionelle Neutralität fest verankert hat.
Im Umgang mit unserem Klientel (Kinder und Jugendliche die entsprechend einer Kindsschutzmassnahme stationär bei uns untergebracht sind) stehen wir Mitarbeiter immer wieder vor der Frage was konfessionell neutral, im Einzelfall konkret bedeutet. Spiritualität darf aus pädagogischer Sicht durchaus als Ressource verstanden werden. In Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist folgendes festgehalten:
Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden.
Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.
Wann wird das sachliche Gespräch zur subtilen Beeinflussung bzw. zur Manipulation? Inwiefern hängt die Beantwortung der Frage von der Aufenthaltsdauer des Klienten ab?
Was entscheidet das Kind/der Jugendliche selbst, was der gesetzliche Vertreter? Wenn die Urteilsfähigkeit der Massstab ist, wer entscheidet im Einzelfall darüber ob eine Urteilsfähigkeit vorliegt?
Freundliche Grüsse
Jörg Pieper
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrter Herr Pieper
Ich nehme Bezug auf die Beratung vom 28.11.2020/10.12.2020 „Recht aus freie Religionsausübung“, da es Wiederholungen gibt.
Es besteht generell - und nicht nur in dieser Frage - kein Raum für manipulatives Vorgehen durch die Angestellten. Von ausgebildeten sozialpädagogischen Mitarbeitenden darf Selbstkompetenz erwartet werden, sie können eigene Wertvorstellungen reflektieren und die eigene Machtausübung kontrollieren. Der Manipulation liegt eine gezielte und verdeckte Einflussnahme zugrunde, sie führt zur Fremdbestimmung und kann als Machtmissbrauch verstanden werden. Manipulatives Vorgehen hat mit der Aufenthaltsdauer der Klienten keinen Zusammenhang bzw. kann nicht dadurch gerechtfertigt werden.
Die Institution hat die konfessionelle Neutralität im Leitbild verankert. Sie hat auch eine Haltung hinsichtlich der Religion, wie ich auf der Website gesehen habe: „Wir finden es wünschenswert, dass sich jedes Kind und jeder Jugendliche mit der eigenen Religion - sowie deren Gebräuchen identifiziert.“ Vielleicht führen Leitbild und Haltung zu Unsicherheiten? Der Umgang mit der Religion muss m.E. angegangen werden. Vertiefungen in Selbstkompetenz, aber auch die Ausarbeitung und Umsetzung eines Konzepts „religiöse Neutralität“ bieten sich an. Im Konzept „religiöse Neutralität“ wäre insbesondere abzubilden, ob und wenn ja, in welchen Fälle die Institution Kinder und Jugendliche bei der Ausübung von religiösen Handlungen begleitet und unterstützt. Die Haltung der Institution wäre zu reflektieren.
Beim Abschluss eines Betreuungsvertrages ist einerseits die religiöse Ausrichtung der Institution darzulegen, andererseits ist mit den Sorgerechtsinhabern/mit der gesetzlichen Vertretung die religiöse Erziehung des Kindes und die Rolle der Institution zu klären.
Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, so entscheidet es, nach Art. 303 ZGB, selbstständig über sein religiöses Bekenntnis. Es entscheidet also selbst über seine Religion, über die Ausübung religiöser Handlungen und den Ein- oder Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft. Die Eltern verfügen hier nicht mehr über die elterliche Sorge.
Bei Kindern unter 16 Jahren verfügen die Eltern über die religiöse Erziehung des Kindes. Sie müssen aber bei der religiösen Erziehung das eigene religiöse Bewusstsein des Kindes mit zunehmenden Alter respektieren und das Kindeswohl achten (CHK-Breitschmid, 3. Auflage 2016, ZGB 303 N 4).
Geht es um landeskirchliche Segnungsakte wie Firmung und Konfirmation, ist die Altersgrenze eher hoch angesetzt. Hier spielt die Urteilsfähigkeit des Kindes bei Fragen der religiösen Erziehung eine wichtige Rolle. Seine eigenen Überzeugungen, auch wenn es noch nicht 16 Jahre alt ist, sind als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts von den Eltern zu respektieren (Art. 301 ZGB) und entsprechende religiöse Entscheidungen (z.B. Konfessionswechsel) oder Handlungen (z.B. Konfirmation, Firmung, andere Sakramente) bedürfen des Einverständnisses des Kindes (BK-Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 303 ZGB N 32).
Da die Eltern auf das religiöse Bewusstsein des Kindes und auf seine Überzeugungen Rücksicht nehmen müssen, liegt es primär an ihnen, die Urteilsfähigkeit des Kindes festzustellen. Es geht darum, dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung zu ermöglichen. Ist ein Kind urteilsunfähig, lassen es die Eltern an der Entscheidfindung partizipieren.
Das “Ziel“ der elterlichen Sorge“ liegt u.a. darin, die Kinder auf eine selbstbestimmte Lebensweise vorzubereiten. Das Kind benötigt Freiräume, wie eigene Entscheidungen zu treffen und deren Konsequenzen zu tragen, um Selbstbestimmung zu erlangen.
Wenn zwischen den Wertvorstellungen des Kindes resp. Jugendlichen und den Vorstellungen der Eltern eine Spannung besteht, so kann sich die Institution bei der Elternarbeit einbringen. Die Eltern sollen befähigt werden, auf ihr Kind einzugehen, ihm zuzuhören und es selbst entscheiden oder an der Entscheidung partizipieren lassen.
Gehen die Eltern nicht auf das religiöse Bewusstsein des Kindes und auf seine Überzeugungen ein, dann steht eine Gefährdung des Kindeswohls im Raum. Dem wäre mit Kindesschutzmassnahmen zu begegnen (Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 303 ZGB N 19 f.).
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 1.3..2021
Karin Anderer