Guten Tag,
Einem 29-Jährigen Patient italienischer Herkunft wurde eine IV-Rente abgelehnt, weil seine Kranheit in Italien seinen Anfang fand. Er kam 16-Jährig in die Schweiz.
Die annerkannten IV-relevanten Diangosen sind:
- Leichte Minderintelligenz
- Borderline-Persönlichkeitsstörung
Eine Minderintelligenz ist meiner Auffassung nach in der Regel biologisch bedingt und findet seinen zeitlichen Urspruch fast immer in der Kindheit......Gleichermassen die Persönlichkeitsstörungen. Sie reichen in der Regel weit zurück in die Kindheit. Die Diagnose sollte zudem eher nach der Pubertät gestellt werden....
Mit dieser Argumentation könnten prinzipiell keine von der EU oder von einem Drittstaat zugezogene Personen mit solchen Diagnosen in der Schweiz eine IV-Rente erhalten?
Meine Fragen sind daher folgende:
Ist die Ablehnung der IV für eine Rente korrekt, wenn Sie nachweisen können, dass die Krankheit im Herkunftsland bereits bestand?
Was ist das gültige Beweiskriterium für das Eintreten der Krankheit in Bezug auf die genannten Diagnosen. Ist es der Zeitpunkt an dem ein Arzt /eine Ärztin die Diagnose schriftlich gestellt hat oder kann es auch das Narrativ der versicherten Person in Abklärungsgesprächen der IV sein? Auf welche Fakten darf sich die IV stützen?
Zusatzfrage: Wie verhält es sich in diesem Fall bei Leistungen für berufliche Massnahmen?
Für ihre grundsätzlichen Hinweise in diesem Fall bin ich Ihnen im Voraus sehr dankbar.
Freundliche Grüsse
Ph. Meier
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr M
a) Ein interessanter Fall. Im Rahmen dieser Kurzbeurteilung kann ich dazu nur eine erste Auslegeordnung vornehmen und Hinweise für das Vorgehen geben.
b) Gemäss Art. 6 Abs. 2 IVG gilt grundsätzlich, dass ausländische Staatsangehörige nur anspruchsberechtigt sind solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz haben. Und zusätzlich, dass sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben.
Für die IV-Rente betrifft die Frist der Beitragspflicht vor der Invalidität drei Jahre (vgl. Art. 36 IVG).
Da im vorliegenden Fall das betroffene Kind die versicherungsmässige Voraussetzung für eine ordentliche Rente nicht erfüllt haben kann, geht es vorliegend um die Frage einer so genannten ausserordentlichen Rente.
c) Diese steht nach Art. 39 Abs. 3 IVG Ausländer/innen zu, welche die besonderen Voraussetzungen für Frühinvalide nach Art. 9 Abs. 3 IVG erfüllen. Das ist der Fall, wenn ihr Vater oder ihre Mutter, falls sie ausländische Staatsangehörige sind, bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben, und wenn sie selbst in der Schweiz invalid geboren sind oder sich bei Eintritt der Invalidität seit mindestens einem Jahr oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten haben. Den in der Schweiz invalid geborenen Kindern gleichgestellt sind Kinder mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die im Ausland invalid geboren sind und deren Mutter sich dort unmittelbar vor der Geburt während höchstens zwei Monaten aufgehalten hat.
d) Nun ist aber in Ihrem Fall zu beachten, dass u.U. die spezifischen Verordnungen zum Freizügigkeitsabkommen zur Anwendung kommen, da das Kind in Italien invalid geboren wurde. Und dieses Abkommen sieht vor, dass in bestimmten Fällen eine Diskriminierung von Ausländer/innen aus den Freizügigkeitsstaaten verboten ist.
Eine erste Abklärung ergibt, dass meines Erachtens das Abkommen anwendbar sein könnte und das Verweigern der ausserordentlichen Rente eine Diskriminierung darstellen könnte.
Folgende Argumente und Überlegungen können insoweit eine Rolle spielen:
Sowohl der sachlicher Geltungsbereich, da es um Leistung bei Krankheit i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Bst. a VO 883/2004 geht, kommt zur Anwendung. Aber auch der der persönlicher Geltungsbereich im Sinne von Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004.
Bezüglich des anwendbaren Rechts, geht es hier um die Anwendbarkeit des schweizerischen Rechts und nicht des italienischen Rechts (Art. 11 Abs. 3 Bst. e oder Bst. a VO 883/2004).
Das heisst aber auch, dass die ausländerspezifischen versicherungsmässigen Voraussetzungen dem Kind nicht entgegengehalten werden. Das wäre wohl eine direkte Diskriminierung im Sinne von Art. 4 VO 883/2004.
Art. 4 der VO 883/2004 ist dabei nicht auf Erwerbstätige beschränkt. Somit kann sich auch eine nichterwerbstätige Person, bzw. könnte sich ein Kind mit Drittstaatsangehörigkeit auf Art. 4 VO 883/2004 berufen.
e) Das gilt im Prinzip analog für Eingliederungsmassnahmen. Für diese sind die versicherungsmässigen Voraussetzungen schon nach Schweizerischem Recht noch etwas weniger eng formuliert. Vgl. Art. 9 IVG.
e) Ich sehe also gewisse Chancen für ein Rechtsmittel. Der Fall bietet allerdings relativ komplexe Fragen, die eine vertiefte Abklärung notwendig machen.
f) Auf jeden Fall rate ich Ihnen, fristgerecht einen Einwand zu erheben und die gesetzlichen Leistungen zu verlangen. Etwa mit folgender Formulierung:
„1. Es seien die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.
„2. Insbesondere sei das Erfüllen der versicherungsmässigen Voraussetzungen gestützt auf die VO 883/2004 zu bestätigen und deswegen auf das Gesuch einzutreten.“
3. Es sei Akteneinsicht zu gewähren und eine angemessene Nachfrist zur ergänzenden Begründung zu gewähren.“
Ich rate mit Blick auf die Wichtigkeit und rechtliche Komplexität der Frage dann anwaltschaftliche Unterstützung bei einer Fachstelle (z.B. Procap oder Inclusion Handicap) oder bei einem spezialisierten Anwaltsbüro zu erschliessen.
Beste Grüsse
Peter Mösch Payot
Grüezi Herr Mösch,
Gerne möchte ich zu der von Ihnen am 09.03.2020 beantworteten Frage eine Anschlussfrage stellen. Es ergeben sich in der Praxis immer wieder Fälle, die keine reguläre oder ausserordentliche IV-Rente erhalten, weil ihre Krankheit bereits im Herkunftsland bestand.
Wie sind bei der gleichen eingangs geschilderten Ausgangslage (Voraussetzungen für reguläre und ausserordentliche Rente nicht erfüllt) die Anspruchsvoraussetzungen für berufliche Massnahmen der IV?
Besten Dank für Ihre Ergänzung.
Philippe Meier
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr Meier
Die versicherungsmässigen Voraussetzungen für IV-Leistungen an Ausländer sind unter anderem in Art. 6 und 9 IVG geregelt.
Für Eingliederungsmassnahmen von Kindern und Jugendlichen von Drittstaaten (ausserhalb EUF/EFTA) gilt Art. 9 Abs. 3 IVG:
1. Der Vater oder die Mutter haben, falls sie ausländische Staatsangehörige sind, bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben; und
2. Das Kind ist in der Schweiz invalid geboren oder hält sich bei Eintritt der Invalidität seit mindestens einem Jahr oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz auf (Art. 9 Abs. 3 IVG).
Diese Regelung wird für Flüchtlinge und Staatenlose durch den Bundesbeschluss über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen in der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (SR 831.131.11) abgeschwächt. Diese Norm gilt sowohl für Flüchtlinge mit eigentlichem Flüchtlingsstatus als auch für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge.
In Art. 2 Abs. 2 ist darin festgehalten: Die Nichterwerbstätigen sowie die minderjährigen Kinder mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz haben als Flüchtlinge unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung, wenn sie sich unmittelbar vor Eintritt der Invalidität ununterbrochen während mindestens eines Jahres in der Schweiz aufgehalten haben.
Massgebend ist der Eintritt der Invalidität. Dabei gibt es nicht einen einheitlichen Zeitpunkt, wann die Invalidität eintritt. Sondern der Eintritt der Invalidität muss für jede Leistungsart separat bestimmt werden (siehe auch Art. 4 Abs. 2 IVG).
Demnach gilt die Invalidität in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem die gewünschte Leistung der IV erstmals hätte zugesprochen werden müssen. Kommt beispielsweise ein Kind stark sehbehindert in die Schweiz, ist die Invalidität für die entsprechenden Hilfsmittel im Ausland eingetreten und die IV somit nicht zuständig.
Bei beruflichen Massnahmen ist entscheidend, wann diese das erste Mal hätten zugesprochen werden können, und ob dann die Versicherungsvoraussetzungen (nach Art. 6, 9, bzw. des Flüchtlingsübereinkommens) erfüllt waren.
Es kann vor diesem Hintergrund also durchaus sein, dass entsprechende Leistungen geschuldet sind auch für Personen, die keine IV-Rente erhalten können.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Peter Mösch Payot