Guten Tag
Herr A. hat Kontakt aufgenommen mit unserer Beratungsstelle. Am 1.12.2021 begann Herr A. seine Arbeit als Produktionsmitarbeiter, 100%. Die Probezeit dauerte 3 Monate. Im 4. Monat, d.h. nach 14 Wochen als Produktionsmitarbeiter wurde er krank.
Nun hat seine Ärztin dem Arbeitgeber schriftlich mitgeteilt, dass Herr A. seit Jahren 100% arbeitsunfähig ist und nur im 2. Arbeitsmarkt tätig sein kann (wenn überhaupt). Aus verständlichen Gründen ist der Arbeitgeber "sehr vor den Kopf gestossen". Er will das Arbeitsverhältnis per 30.6.22 beenden und hat Herrn A. eingeladen, die Kündigung zu unterzeichnen.
Nun habe ich einige Fragen dazu:
War / ist der Arbeitsvertrag überhaupt gültig/rechtens? - Weil der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nicht über seine Krankheit informiert hat? Oder ist der Arbeitsvertrag rückwirkend "Nichtig"?
Ist die Kündigung per 30.6.22 richtig? Ich nehme an ja, weil sie nach drei Monaten ausgesprochen wird.
Der Arbeitgeber wird evt. einen Rechtsanwalt zuziehen um den bisher bezahlten Lohn zurück zu fordern? Ist das möglich?
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Unterstützung in dieser Angelehenheit. Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Guten Tag
gerne beantworte ich Ihre Frage wie folgt:
I Situation im Rahmen der Bewerbung und bei der Anstellung
Ihr Klient wurde per 1.12.2021 angestellt. Sie erwähnen nicht, ob im Rahmen des Bewerbungsverfahrens durch die Arbeitgeberin Fragen nach dem Gesundheitszustand gestellt wurden. Falls dies der Fall war, hätte ihr Klient auf diese Fragen insoweit wahrheitsgemäss Auskunft geben müsse, als er für die in Frage kommende Tätigkeit aus medizinischen Gründen objektiv ungeeignet wäre. Falls die Arbeitgeberin keine Fragen gestellt hat, ist zu prüfen, ob ihr Klient von sich aus hätte über seine gesundheitlichen Probleme informieren müssen. Das ist dann zu bejahen, wenn Ihr Klient hätte wissen können und wissen müssen, dass er voraussichtlich in sehr naher Zukunft wieder arbeitsunfähig werden wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitgeberin, wenn ihr Klient wirklich seit Jahren zu 100% arbeitsunfähig ist, die Möglichkeit gehabt hätte, aufgrund des CV Nachforschungen anzustellen, Referenzen einzuholen usw. . Für die rechtliche Beurteilung des Falles kommt es sehr darauf an, ob und inwiefern die ARbeitgeberin die übliche Sorgfalt bei der Personalauswahl angewendet hat oder nicht. Weiter ist relevant, ob ihr Klient in seinem CV seine Arbeitsunfähigkeit "verschleiert" hat und es dem Arbeitgeber allenfalls schwer gefallen wäre, zu erkennen, dass ihr Klient die letzten Jahre gar nicht gearbeitet hat.
II) Anstellung und volle Arbeitsfähigkeit während der ersten vierzehn Wochen
Gemäss IHrem Sachverhalt war ihr Klient während 14 Wochen arbeitsfähig. Falls er in dieser Zeit die vertraglich geschuldete Arbeit erbracht hat, schuldert die Arbeitgeberin für diese Zeit auf jeden Fall den Lohn. Es kommt dabei auch nicht darauf an, ob ihr Klient gut gearbeitet hat, der Arbeitsvertrag verpflichet die Arbeitnehmenden nur, sich um im Rahmen der vertraglichen Arbeitszeit um den Arbeitserfolg zu bemühen.
III) Lohn und Lohnfortzahlungspflicht / Ev. Krankentaggeldversicherung
Sie erwähnen nicht, ob im fraglichen Betrieb ein Schutz durch eine Krankentaggeldverischerung besteht und wie diese ausgestaltet ist. Das ist unbedingt zu klären, auch für den Fall, dass diese Taggeldversicherung ermöglicht, dass der Versicherungsschutz nach Ende des Arbeitsverhältnisses aufrechterhalten bleibt.
Fehlt es an einer Krankentaggeldversicherung im Betrieb, hätte die Arbeitgeberin während maximal drei Wochen den Lohn bei Krankheit weiter ausrichten müssen (Art. 324a OR).
IV) Kündigung und Kündigungsschutz
Sie erwähnen nicht, wie lange die Probezeit dauert. Nach Gesetz beträgt diese einen Monat, vertraglich kann sie auf maximal drei Monate verlängert werden. Das bedeutet: Selbst wenn die Probezeit drei Monate betragen hätte, ist sie 14 Wochen nach Arbeitsbeginn abgelaufen. Dies hat zur Folge, dass bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit die Sperrfristenregelung nach ARt. 336c OR greift. Da ihre Klient noch im ersten Dienstjahr war, beträgt die Sperrfrist 30 Tage, d.h. ab Krankheitsbeginn darf das Arbeitsverhältnis während 30ig Tagen nicht gekündigt werden, dannach ist die Kündigung mit der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfrist kündbar (gesetzlich im ersten Dienstjahr ein Monat, vertraglich ist eine längere Kündigungsfrist möglich).
Sie erwähnen, der Arbeitgbeber wolle Arbeitsverhältnis per 30. Juni auflösen. Davon ausgehen, dass die Sperrfrist von Mitte März bis Mitte April dauert und in der Annahme einer zweimonatigen Kündigungsfrist ist diese Kündigung so gültig.Falls die Kündigungsfrist im Vertrag drei Monate beträgt, ist die Kündigung erst auf Ende Juli zulässig.
Möglich wäre allenfalls auch eine fristlose Kündigung gewesen. Die unterlassene Information über die Krankheit könnte einen wichtigen Grund im Sinne von Art. 337 OR darstellen. Problematisch ist allerdings, dass der Arbeitgeber die fristlose Kündigung sofort nach Bekanntwerden des wichtigen Grundes hätte aussprechen müssen. Dies hat die Arbeitgeberin nicht getan, womit die Möglichkeit der fristlosen Kündigung wegfällt.
Sie erwähnen, ihr Klient sei eingeladen worden, die Kündigung zu unterzeichnen. Eine Kündigung ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, es muss von der Gegenseite nicht unterzeichnet werden. Die Unterzeichnung hat nur aber immerhin zur Folge, dass ihr Klient Kenntnis der Kündigung genommen hat. Ob er damit einverstanden ist, spielt keine Rolle.
V) Information der Ärztin an die Arbeitgeberin
Es fragt sich, ob die Ärztin mit der Information an den ARbeitgeber (Klient sei seit Jahren arbeitsunfähig) nicht gegen das Patientengeheimnis verstossen hat (Arztgeheimnis, ARt. 321 Strafgesetzbuch, zudem auch Art. 35 Datenschutzgesetz, Berufsgeheimnis, weiter einschlägig die STandesregelungen der FMH). Um hier mehr sagen zu können, müsste ich wissen, welchen Auftrag die Ärztin von der Arbeitgeberin erhalten und ich müsste auch wissen, ob ihr Klient die Ärztin zur Auskunftserteilung ermächtigt hat oder nicht. Je nachdem könnte gegen die Ärztin vorgegangen werden, soweit dies als zielführend erachtet wird.
VI) Weitere Möglichkeiten des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber kann versuchen, den Arbeitsvertrag wegen Täuschung (Art. 28 OR) anzufechten. Dies würde voraussetzen, dass ihr Klient im Bewerbungsverfahren Pflichten verletzt hat (siehe unter I). Die Rechtsfolge einer erfolgreichen Täuschungsklage würde daran bestehen, dass das Arbeitsverhältnis rückabgewickelt wurde. Nun hat ihr Klient aber 14 Wochen gearbeitet, während dieser Zeit hat er auf jeden Fall einen Lohnanspruch, Grundlage dafür bildet Art. 320 Abs. 3 OR. Der ARbeitgeberin könnte allenfalls die Lohnfortzahlung bei Krankheit rückfordern (drei Wochen, siehe oben, III).
Soweit meine Antworten, die vermutlich bei Ihnen neue Fragen auslösen werden. Ich empfehle Ihnen, die fehlenden Sachverhaltsangaben zu ermitteln und bei Bedarf erneut ans Forum zu gelangen.
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen
Kurt Pärli
Sehr geehrter Herr Pärli
Vielen Dank für Ihre umfangreichen Informationen und Fragestellungen. Inzwischen kann ich zu verschiedenen Punkten Auskunft geben.
zu Punkt I: Ein Freund von Herr S. arbeitet in diesem Betrieb und durch ihn konnte er sich beim Arbeitgeber vorstellen. Er brachte einen Lebenslauf mit. Aus diesem geht hervor, dass Herr S. von 2009 - 2018 beim gleichen Arbeitgeber arbeitete. Dies stimmt jedoch nicht. Ab ca. 2013 arbeitet Herr S. nicht mehr.
Herr S. sagte nichts über seine Krankheit und der Arbeitgeber fragte nicht nach.
zu Punkt III: Es gibt im Betrieb eine Krankentaggeldversicherung: "Jeder Angestellte ist gegen Krankheit und Unfall versichert. Er erhält während den ersten 3 Monate 100% des Lohnes, im Anschluss daran noch 80% des Lohnes. Maximal 720 Tage innerhalb von 900 aufeinanderfolgenden Tagen."
zu Punkt IV: Herr S. arbeitete ab 1.12.21 dort und hatte drei Monate Probezeit. Ab Mitte März - also nach der Probezeit wurde er krank. Seine Ärztin schreibt dem AG, Herr S. wäre seit vielen Jahren nicht arbeitsfähig im 1. Arbeitsmarkt. Später schreibt sein Arzt, er müsse einen möglichst ruhigen Arbeitsplatz und möglichst keine Kontakte zu Arbeitskollegen haben.
Die Kündigungsfrist im 1. Jahr beträgt 1 Monat im Betrieb wo Herr S. arbeitet.
Der Arbeitgeber hat ihm in der Kündigung geschrieben, dass er ein guter Arbeitnehmer war, dass man sehr zufrieden mit ihm war. Dass die Firma durch die Ärtzin erfahren habe, dass er seit mehreren Jahren 100% Arbeitsunfähig gewesen sei, sei für die Firma ein Vertrauensbruch. Deshalb sprechen sie unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist von einem Monat die Kündigung per 31.7.22 aus.
zu Punkt V: Herr S. möchte nicht gegen seine Ärztin vorgehen, denn er sieht, dass er nicht arbeitsfähig ist.
Meine Frage betrifft das Krankentaggeld: Hat Herr S. denn noch Leistungen zu Gute? Ab März ist er festangestellt, arbeitete jedoch nur 14 Tage zu 100%. Seit Mitte März ist er zu 100% arbeitsunfähig aufgrund von Krankheit. Die Kündigung erfolgt auf den 31. Juli 2022. Ist es richtig, dass Herr S. im ersten Anstellungsjahr während 30 Tagen ein Krankentaggeld erhält? Und für wie lange wäre das?
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Ausführungen und grüsse Sie freundlich.
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Guten Tag
gerne nehme ich Stellung zu ihren Ausführungen und Fragen.
Mit den falschen Angaben im CV hat der Arbeitnehmer einen Grund für den Vertrauensverlust gesetzt. Die Arbeitgeberin hätte das Arbeitsverhältnis diesfalls auch fristlos auflösen können oder sie hätte vom Vertrag wegen Täuschung zurücktreten können. Die gewählte Form der Kündigung per Ende Juli ist so nicht zu beanstanden.
Zur Krankentaggeldversicherung: Sie erwähnen, dass in fraglichem Betrieb jeder Mitarbeiter Anspruch auf Lohn bei Krankheit hat. Das trifft somit auch auf ihren Klienten zu, er hat ab mitte März während drei Monaten zu 100% und danach 80% Lohn- bzw. Taggeldanspruch bis Vertragsende. Sie müssen zudem prüfen, ob die Versicherungsbedingungen vorsehen, dass bei Austritt aus der Unternehmung bei weiterhin andauernder Krankheit ein Verbleib in der Kollektiv-Krankentaggeldversicherung möglich ist oder ob allenfalls ein Übertritt in die Einzelversicherung möglich und sinnvoll ist. Gemäss Sachverhalt war ihr Klient dreieinhalb Monate lang arbeitsfähig, damit war ihr Klient auch versichert (die bei Beginn des Arbeitsverhältnis bestehende Arbeitsfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für den Versicherungsschutz).
Genügen Ihnen diese Angaben? Mit Dank für die Kenntnisnahmeund freundlichen Grüssen
Kurt Pärli