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Freizügigkeitsguthaben 2. Säule / Teil-IV-Rente und WSH

Veröffentlicht:
13.09.2021
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Damen und Herren

Eine 59-jährige Frau bezieht eine Teil-IV-Rente und ergänzend WSH. Der EL-Antrag wurde mit Rz 3443.03 WEL abgelehnt, weil die Frau über CHF 100'000.- auf einem Freizügigkeitskonto der 2. Säule besitzt, die sie ab 59-jährig beziehen könnte. Die WSH darf aber die Frau vor dem AHV-Vorbezug nicht anweisen, das Freizügigkeitskonto aufzulösen.

Gilt im Kanton BE der Art. D.3.3 Abs. 3 der SKOS-Richtlinien uneingeschränkt, wonach Freizügigkeitsguthaben erst mit dem AHV-Vorbezug herausgelöst werden sollen?

Freundliche Grüsse

G. Heeb

Sozialdienst Lyss

Frage beantwortet am

Anja Loosli

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrter Herr Heeb

Vielen Dank für Ihre Frage. Ich beantworte diese gerne wie folgt:

In der Sozialhilfe gilt grundsätzlich das Prinzip der Subsidiarität, was bedeutet, dass Hilfe nur gewährt werden soll, wenn und soweit eine bedürftige Person sich nicht selbst helfen kann oder wenn Hilfe nicht rechtzeitig erhältlich ist (Art. 9 Sozialhilfegesetz Bern [SHG]). Verfügt eine Person über Vermögenswerte, so wird wirtschaftliche Hilfe dennoch gewährt, wenn die Realisierung im Zeitpunkt des Gesuchs nicht möglich oder nicht zumutbar ist (Art. 34 Abs. 2 SHG).

Gemäss Art. 1 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) umfasst die Berufliche Vorsorge alle Massnahmen auf kollektiver Basis, die den älteren Menschen, den Hinterbliebenen und Invaliden beim Eintreten eines Versicherungsfalles (Alter, Tod oder Invalidität) zusammen mit den Leistungen der eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV) die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise erlauben. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass der Sinn und Zweck der beruflichen Vorsorge als zweite Säule darin besteht, den Versicherten zusammen mit den Leistungen aus der 1. Säule (AHV/IV/EL) die Fortsetzung ihrer bisherigen Lebenshaltung in angemessener Weise zu ermöglichen. Dieser Zweck kann nicht mehr erfüllt werden, wenn die Altersvorsorge der 2. Säule bereits vor Eintritt des AHV-Alters bzw. zumindest des AHV-Vorbezugsalters an- bzw. verbraucht werden muss. Das AHV-Vorbezugsalter liegt nach Art. 40 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) bei Männern bei 63 Jahren (65 – 2 Jahre) und bei Frauen bei 62 Jahren (64 – 2 Jahre).

Daraus folgt, dass es vor dem 63. bzw. 62. Altersjahr einer von der Sozialhilfe unterstützten Person nicht zumutbar ist, ihr Guthaben der 2. Säule aufzulösen und davon zu leben, andernfalls würde der Zweck der 2. Säule vereitelt werden. Dies ist immer und jederzeit so (entsprechend ist dies auch in lit. E.2.5 der SKOS-Richtlinien und eben im Handbuch BKSE vorgesehen).

Anders würde es nur aussehen, wenn die von der Sozialhilfe unterstützte Person das Guthaben vor dem AHV-Vorbezugsalter ohne Aufforderung der Sozialhilfe selbständig herauslöst. Dann stellt es liquides Vermögen dar und wird bei der Bedarfsbemessung vollumfänglich angerechnet (Handbuch BKSE, BVG Freizügigkeit).

Ergänzend ist auszuführen, dass es zutreffend ist, dass gemäss RZ 3443.03 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zu AHV und IV Kapitalsummen aus der 2. Und 3. Säule ab dem Zeitpunkt als Vermögen anzurechnen sind, ab dem für die versicherte Person die Möglichkeit besteht, diese zu beziehen. Massgebend für den möglichen Bezugszeitpunkt sind im Einzelfall die geltenden Versicherungsbedingungen. Es lohnt sich deshalb, diese zu prüfen und allenfalls den Entscheid auf Ablehnung von Ergänzungsleistungen anzufechten.

Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.

Freundliche Grüsse

Anja Loosli Brendebach