Guten Tag
Der Artikel spricht ausdrücklich von NICHT erwerbstätigen Personen.
Was ist aber bei teil-erwerbstätigen Personen?
Wenn diese Vollzeit an einer IV-Massnahme teilnehmen sollen, müssen die Kinder jetzt ja auch zusätzlich einen halben Tag betreut werden…
Haben diese Personen gar nichts zu gut?
Oder einfach nur die anteilsmässigen Ansätze?
(Im KSTI bin ich nicht fündig geworden. Vielleicht haben Sie ja noch andere Quellen oder gibt es Gerichtsentscheide?!)
Freundliche Grüsse, M.Blindow
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr Blindow
Sie haben da eine interessante Frage aufgeworfen.
Mit der 5. IV-Revision wurde per 1.1.2008 das Mindesttaggeld für Personen mit tiefem Erwerbseinkommen und Nichterwerbstätige aufgehoben. Mit Ausnahme eines Taggeldes für über 20jährige Personen, die eine nicht IV-finanzierte Ausbildung machen und dann einen invalidisierenden Gesundheitsschaden erleiden.
Als gewisser Ersatz wurde im Weiteren die Möglichkeit des Ersatzes von Betreuungskosten gemäss Art. 11a IVG eingeführt. Vgl. zum möglichen Umfang Art. 22quater IVV. Dafür muss nachgewiesen werden, dass durch die Eingliederungsmassnahmen tatsächlich Mehrkosten für die Betreuung entstehen.
Tatsächlich sieht Art. 11a IVG vom Wortlaut her explizit vor, dass diese Leistung beschränkt ist und einzig vorgesehen ist für Nichterwerbstätige. Das Kreisschreiben weicht diese Beschränkung nicht auf. Publizierte bundesgerichtliche Praxis zu dieser Frage besteht soweit ersichtlich nicht.
In der Lehre wurde die von Ihnen monierte Ungleichheit ebenfalls kritisiert. Schon 2011 schreibt Silvia Bucher in ihrer Monografie «Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung» Folgendes (S. 501f.; mit weiteren Literaturhinweisen):
«Stossend erscheint dabei, dass in Anbetracht der unmissverständlichen Beschränkung des Art. 11a IVG auf „nicht erwerbstätige Versicherte“ eine geringfügig erwerbstätige taggeldberechtigte Person mit Betreuungsaufgaben, deren Taggeld wegen der Abhängigkeit des Betrags der Grundentschädigung von der Höhe des Erwerbseinkommens auch bei zusätzlicher Ausrichtung eines Kindergeldes sehr tief ausfällt, nicht zwecks Vermeidung einer Schlechterstellung gegenüber einer nicht erwerbstätigen Person anstelle eines Taggeldes eine höhere Entschädigung für Betreuungskosten erhalten kann, wie sie einer nicht erwerbstätigen Person in einer ansonsten gleichen Situation ausgerichtet würde (oder ein Taggeld in Höhe der Entschädigung für Betreuungskosten, die einer nicht erwerbstätigen Person in einer ansonsten gleichen Situation ausgerichtet würde). Soweit darin eine Verfassungswidrigkeit (Verstoss gegen das Rechtsgleichheitsgebot des Art. 8 Abs. 1 BV) zu erblicken ist, kann diese nicht auf richterlichem Wege, sondern nur durch den Gesetzgeber selbst korrigiert werden; denn Bundesgesetze sind für das Bundesgericht und die übrigen rechtsanwendenden Behörden massgebend (Art. 190 BV), weshalb einer verfassungswidrigen bundesgesetzlichen Bestimmung die Anwendung nicht versagt werden darf (soweit Letzteres nicht wegen einer zugleich gegebenen Völkerrechtswidrigkeit zu geschehen hat).»
Zitat Ende.
Die neueste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur gemischten Methode bei der Berechnung des IV-Grades (siehe https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/gemischte-methode-iv-diskriminierend) zeigt, dass eine Ausgestaltung von Leistungen der Sozialversicherungen, welche direkt oder indirekt diskriminierend wirkt bezüglich bestimmter Formen des Privat- und Familienlebens gegen Art. 8 EMRK verstossen kann und somit völkerrechtswidrig sein kann.
Vor diesem Hintergrund ist es meines Erachtens nicht unmöglich, dass auch die heutige im Gesetz vorgesehene Beschränkung der Entschädigung für Betreuungskosten auf Nichterwerbstätige, verbunden mit dem Fehlen eines Mindestbetrages eines Taggeldes für Erwerbstätige, nicht als EMRK-konform taxiert werden würde seitens der Justiz.
Auch habe ich schon Fälle angetroffen, wo in der Praxis, grosszügiger als es ein am Wortlaut ausgelegter Gesetzestext vermuten lässt, nachgewiesene Betreuungsmehrkosten auch bei Teilerwerbstätigen entschädigt. Ich rate also dazu, diese aktuell in solchen Konstellationen zu beantragen und dabei darauf hinzuweisen, dass die Mehrkosten auch bei tiefen Pensen bzw. Teilerwerbstätigkeit zu gewähren sind, um Diskriminierungen dieser Gruppen in ihrem Privat- und Familienleben zu vermeiden.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Peter Mösch Payot