Sehr geehrtes Expertenteam,
Ich berichte von einer Gemeinde im Kanton Luzern, die einer 18-Jährigen Person die Kostenübernahme für das betreutes Wohnen mehrere Monate bis zur Ablösung von der Gemeinde verweigerte, obschon diese Kosten NICHT im Rahmen der Stipendienverfügung übernommen werden konnten (Stipendienverordnung SRL 575a). Die Begründung war, dass die Mutter der Tochter genügend verdiene, um selber die Kosten im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht nach ZGB Art. 276 Abs. 2 zu bezahlen. Die Mutter sagte uns am Telefon deutlich, dass Sie diese Kosten nicht zu übernehmen vermöge. Sie sei erst gerade knapp von der Sozialhilfe derselben Gemeinde abgelöst worden. Der Vater sei ohne Einkommen und im Ausland…die Kosten für das betreute Wohnen von Fr. 900.- pro Monat wurde aus Goodwill mehrere Monate von der Organisation selber übernommen.
Die Gemeinde verwies die junge Erwachsene Person beharrlich an die Mutter (Sie konnten wegen Konflikten schon länger nicht mehr zusammen wohnen) ohne zwischenzeitlich die Differenz zwischen den bewilligten Stipendien und den effektiven WSH-Kosten (inkl. der Kosten für das betreutes Wohnen) zu übernehmen.
Ich bin der Auffassung, dass die Gemeinde die junge Erwachsene Person hätte mit WSH überbrücken müssen und parallel dazu hätte Hand bieten müssen beim Inkasso der Unterhaltsbeiträge gem. SHG § 43 Abs. 1 von der Mutter. Die Gemeinde stellte richtigerweise klar, dass SHG § 43 Abs. 1 nur in Frage käme, wenn die Unterhaltsbeiträge bereits gerichtlich festgelegt worden seien. Hier knüpfen meine Fragen an:
- Wäre es in einem solchen Fall grundsätzlich zulässig gewesen, wenn die Gemeinde die junge Erwachsene Person zur Unterhaltsklage nach Art. 279 Abs. 1 gezwungen hätte?
- Wäre die Gemeinde nach § 25 Abs. 1 Ziff. a SHG verpflichtet gewesen, die Klientin bei der Geltendmachung der Unterhaltsbeiträge zu unterstützen?
- Durfte es die Gemeinde im vorliegenden Fall unterlassen, ihre Klientin mit WSH zu unterstützen (inkl. betreutes Wohnen), bis der Sachverhalt des Unterhaltsbeiträge nach Art. 276 Abs. 2 geklärt werden konnte?
Mich hat die Vorgehensweise dieser Gemeinde sehr nachhaltig aufgebracht. Die junge Patientin wurde aus meiner Sicht komplett im Stich gelassen.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung.
Philippe Meier
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrter Herr Meier
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Das Vorgehen der Gemeinde stellt einen klaren Verstoss gegen den in § 27 Abs. 1 SHG Kanton Luzern (SHG LU) verankerten Bedürftigkeitsgrundsatz dar. Danach hat Anspruch auf wirtschaftliche Hilfe, wer seinen Lebensbedarf und den seiner Familienangehörigen im Sinne des eidgenössischen Zuständigkeitsgesetzes nicht rechtzeitig oder nicht hinreichend mit eigenen Mitteln, durch Arbeit oder mit Leistungen Dritter bestreiten kann.
Aufgrund der Weigerung der Mutter, einen Unterhaltsbeitrag zu leisten, standen Ihrem Klienten nicht rechtzeitig die Leistungen Dritter zur Verfügung, um seinen Lebensbedarf zu bestreiten. D.h. er war in diesem Moment bedürftig und so hätte die Gemeinde die Unterstützung umgehend aufnehmen müssen. Dies beantwortet Ihre dritte Frage: Die Gemeinde hätte es nicht unterlassen dürfen, die wirtschaftliche Hilfe aufzunehmen.
Anschliessend hätten getreu des Subsidiaritätsprinzips gegenüber der Mutter die Unterhaltsbeiträge geltend gemacht werden müssen. Dabei kommen nicht die Regeln von §§ 43 ff. SHG LU zum Tragen. Diese Regeln betreffen die Alimentenhilfe und kommen erst zum Zuge, wenn ein Rechtstitel (§ 43 Abs. 2 SHG LU) vorliegt, d.h. ein Unterhaltsurteil.
Ist der Unterhalt noch nicht gerichtlich festgelegt und muss das Gemeinwesen die Unterstützung aufnehmen, dann kommt § 27 Abs. 3 SHG LU zur Anwendung. Dieser bezieht sich auf Art. 289 Abs. 2 ZGB, welcher auch den Mündigenunterhalt nach Art. 277 Abs. 2 ZGB umfasst.
§ 27 Abs. 3 SHG LU bekräftigt die Regelung von Art. 289 Abs. 2 ZGB und besagt Folgendes:
Soweit die Einwohnergemeinde durch Bevorschussung für den Unterhalt eines Kindes aufkommt, geht gemäss Artikel 289 Absatz 2 ZGB der Unterhaltsanspruch mit allen Rechten auf sie über.
Dies bedeutet nach Bundesgericht Urteil 8D_4/2013 vom 19. März 2014 Folgendes:
„5.3. Das Gemeinwesen subrogiert gemäss Art. 289 Abs. 2 ZGB in den Unterstützungsanspruch des Berechtigten, sobald es für dessen Unterhalt aufkommt. Die Subrogation umfasst sowohl bereits erbrachte als auch laufende Leistungen, solange das Gemeinwesen solche erbringt. Der Eintritt des Gemeinwesens in die Rechte des Kindes gegenüber den Eltern hat den Charakter einer Legalzession ( BREITSCHMID, a.a.O., N. 9 zu Art. 289 ZGB). Zu den Rechten, die im Sinne von Art. 289 Abs. 2 ZGB auf das Gemeinwesen übergehen, zählt unter anderem das Klagerecht des Kindes gegen Vater und Mutter oder gegen beide auf Unterhaltsleistung, Anweisungen an den Schuldner und Sicherstellung (BGE 106 III 18 E. 2 S. 20 f.). Das Gemeinwesen macht einen Unterhaltsanspruch des Kindes geltend, der trotz Zession eine auf Zivilrecht beruhende Forderung bleibt.“
Das Gemeinwesen wird demnach Partei im Unterhaltsverfahren. D.h. die für die wirtschaftliche Hilfe zuständige Gemeinde hat das Recht, den zivilrechtlichen Anspruch auf dem Gerichtsweg durchzusetzen und den Unterhaltsanspruch in eigenem Namen vor Zivilgericht geltend zu machen. Damit lässt sich Ihre erste und zweite Frage beantworten: Das Gemeinwesen wäre verpflichtet, den Anspruch selber geltend zu machen.
Häufig lassen die Gerichte aber auch die Klagen des (volljährigen) Kindes zu, selbst wenn das Gemeinwesen in seinen Anspruch subrogiert ist. In einem solchen Fall wäre es vertretbar, den Gang vor das Gericht dem volljährigen Kind zu überlassen und sich einen allfälligen Anspruch abtreten zu lassen. Ob das zuständige Zivilgericht dies so akzeptiert, wäre vom Gemeinwesen vorgängig abzuklären. Will das Kind diesen Schritt aber nicht machen, dann dürfte das Gemeinwesen weder eine Auflage noch eine Sanktionierung bei Nichtbefolgung anordnen. Vielmehr wäre es so, dass das Gemeinwesen selber die Unterhaltsklage erheben müsste.
Dem Kind wäre generell zu raten, ergänzend zum Gemeinwesen zu klagen. Denn das Gemeinwesen kann nur in dem Umfang einklagen, als es bevorschusst. Sind die Eltern in der Lage, einen höheren Unterhaltsbeitrag zu leisten, hat das Kind, diesen die Leistungen der Sozialhilfe übersteigenden Beitrag geltend zu machen.
Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Fragen beantwortet zu haben. Für den Fall, dass Sie erneut antreffen, dass die Gemeinde die Bevorschussung verweigert, empfehle ich Ihnen, umgehend eine anfechtbare Verfügung zu verlangen und dagegen vorzugehen - mit Vollmacht des Klienten.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
Guten Abend Frau Schnyder,
Ihr Beitrag ist sehr aufschlussreich und verständlich. Ich bin sehr erleichtert über ihre Antwort. Vielen Dank.
Freundliche Grüsse.
Philippe Meier