Guten Tag
Sachverhalt
Frau O. hat ihre 100% Stelle per 27.03.2020 fristlose gekündigt, weil die Kinderbetreuung nicht mehr gewährleistet war. Ihre Mutter konnte aufgrund Corona nicht wie geplant aus Serbien zur Gewährleistung der Kinderbetreuung einreisen.
Frau O. hat sich per 01.04.2020 beim RAV zur Stellenvermittlung und Überprüfung des Anspruchs auf ALTG angemeldet. Sie hat gemäss Vorgabe Stellenbemühungen getätigt und dem RAV eingereicht sowie die Termine bei der RAV-Beratung wahrgenommen.
Am 10.06.2020 wurde sie vom RAV zur Überprüfung der Vermittlungsfähigkeit aufgefordert, das entsprechend ausgefüllte Dokument wurde an die Kantonalen Amtsstelle (KAST) und Recht zur Überprüfung weiter geleitet. Bis dahin hatte sie weder eine Verfügung der Arbeitslosenkasse noch Taggelder erhalten.
Am 04.08.2020 hatte Sie die Verfügung von der KAST und Recht erhalten - die Vermittlungsfähigkeit wird rückwirkend ab 01.04.2020 verneint.
Daraufhin hat sie am 10.08.2020 Einsprache erhoben mit der Begründung, dass sie Stellen für die Nachtschicht ab 18.00 Uhr sowie an den Wochenenden sucht, während ihr Ehemann die Kinder betreut. Somit könnte sie zu 60 - 70% dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Im Einspracheentscheid vom 22.09.2020 wird die Einsprache teilweise gutgeheissen. Die Vermittlungsfähigkeit vom 01.04.2020 bis 10.09.2020 wird verneint, ab dem 11.09.2020 wird sie bejaht, da Frau O. ab dann jemanden zur Gewährleistung der Kinderbetreuung gefunden hatte.
Meine Frage
Frau O. hatte vom 01.04.2020 - 10.06.2020 keine Verfügung bezügl. Anspruch auf ALTG und keine ALTG erhalten sowie auch keine Auflage zur Sicherung der Kinderbetreuung an Wochentagen.
Ist es dann zulässig, dass für diesen Zeitrahmen am 04.08.2020 rückwirkend die Vermittlungsfähigkeit verneint wird?
Merci für eine Rückmeldung.
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Damen und Herren
Die Vermittlungsfähigkeit ist eine der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosentaggelder. Im vorliegenden Fall war also bis zur Verfügung vom 4.8.2020, bzw. ist bis zur Rechtskraft der Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren, die Frage offen, ob seit der Anmeldung vom 1.4. die Anspruchsvoraussetzungen und damit der Anspruch besteht auf Arbeitslosentaggeld.
Der allfällige Rechtsnachteil der fehlenden Vermittlungsfähigkeit (also das Fehlen des Anspruchs) kann dabei unabhängig davon bestehen, ob eine Auflage gemacht wurde bzgl. der Schaffung der Voraussetzungen der Vermittlungsfähigkeit (bei gleichzeitigen Betreuungsaufgaben).
Immerhin kann aber die bestehende Einspracheentscheidung mit Blick auf eine mögliche Beschwerde daraufhin geprüft werden, ob die Vermittlungsfähigkeit tatsächlich zu Recht verneint wurde.
Siehe zur materiellen Regelung der Vermittlungsfähigkeit bei gleichzeitigen Betreuungs- pflichten die entsprechenden Weisungen (mit Zusammenfassung der Rechtsprechung) in der B224 ff. der AVIG-Praxis; siehe https://www.arbeit.swiss/secoalv/de/home/service/publikationen/kreisschreiben---avig-praxis.html
Aus den Ausführungen des Sachverhaltes ist für mich nicht ganz klar, ob hier die Ablehnung des Anspruchs zu Recht erfolgt ist. Zu beachten ist vor allem die Regelung in B 225b und B 225c des Kreisschreibens. Auf dieser Basis sollte hier eine allfällige Beschwerde geprüft werden.
Hier die Regeln:
B224 Kann eine versicherte Person aus persönlichen oder familiären Gründen ihre Arbeitskraft nicht so einsetzen, wie es ein Arbeitgeber normalerweise verlangt, ist sie nicht vermittlungsfähig. Der Umstand, dass eine versicherte Person sich im Hinblick auf anderweitige, namentlich familiäre Verpflichtungen oder besondere persönliche Umstände lediglich während gewisser Tages- oder Wochenstunden dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen will, führt jedoch nicht ohne Weiteres zu Vermittlungsunfähigkeit (EVG C 127/04 vom 21.4.2005). Vermittlungsunfähigkeit tritt jedoch ein, wenn der versicherten Person bei der Auswahl des Arbeitsplatzes so enge Grenzen gesetzt sind, dass das Finden einer Stelle aufgrund von Bindungen und Dispositionen sehr ungewiss ist. Der Grund für die Einschränkung in den Arbeitsmöglichkeiten spielt dabei keine Rolle. Rechtsprechung EVG C 263/00 vom 3.11.2000 (Ein Arbeitsvertrag, der pro Jahr 170 Arbeitstage garantiert, lässt keine Vermittlungsfähigkeit zu) EVG C 173/01 vom 7.2.2003 (Ein Kameramann, der sich ausschliesslich um Stellen in seinem Beruf bewirbt und keine Dauerstellen sucht, ist nicht vermittlungsfähig) EVG C 237/02 vom 4.3.2003 (Die Vermittlungsfähigkeit ist bei einengenden Bedingungen bezüglich Arbeitszeit, Arbeitsweg und gesuchter Tätigkeit nicht gegeben).
B225 Eine versicherte Person mit betreuungsbedürftigen Kindern muss hinsichtlich der Vermittlungsfähigkeit, namentlich in Bezug auf die Verfügbarkeit, die gleichen Bedingungen erfüllen wie alle anderen Personen. Es liegt somit an ihr, das Privat- und Familienleben so zu gestalten, dass sie nicht daran gehindert ist, im Umfang des geltend gemachten Beschäftigungsgrades bzw. Arbeitsausfalles einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Obhutsnachweis
B225a Wie die versicherte Person (Mann oder Frau) die Betreuung ihrer Kinder regelt, ist ihr überlassen. Die Durchführungsstellen dürfen nicht schon zum Zeitpunkt der Anmeldung zum Taggeldbezug einen Obhutsnachweis verlangen. Erscheint hingegen im Verlaufe des Leistungsbezuges der Wille oder die Möglichkeit, die Kinderbetreuung einer Drittperson oder Institution anzuvertrauen erwiesenermassen als zweifelhaft, muss die zuständige Amtsstelle die Vermittlungsfähigkeit im Hinblick auf die konkrete Möglichkeit einer Kinderbetreuung prüfen. Dafür hat sie einen Obhutsnachweis mittels SECO- ALE SECO-TC AVIG-Praxis ALE/B225b-B226 Oktober 2012 Formular Nr. 716.113 zu verlangen. Indizien für die Zweifelhaftigkeit sind namentlich ungenügende Arbeitsbemühungen, Aufgabe der vorangehenden Stelle wegen Betreuungspflichten, unhaltbare Anforderungen für die Annahme einer Stelle, Ablehnung zumutbarer Arbeit oder nicht erfüllbare Ansprüche an die Arbeitszeiten. Rechtsprechung BGE 8C_367/2008 vom 26.11.2008 (Die Vollzugsstelle darf nicht schon im Zeitpunkt des Einreichens des Entschädigungsgesuches das Vorhandensein eines Kinderhüteplatzes prüfen)
B225b Die Vermittlungsfähigkeit darf nicht leichthin unter Verweis auf familiäre Betreuungsaufgaben verneint werden. Dies gilt namentlich dann, wenn eine Person vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits den Tatbeweis erbracht hat, dass sie trotz Betreuungsaufgaben eine Beschäftigung auszuüben bereit und in der Lage war, und die bisherige Stelle aus nicht selbst zu verantwortenden Gründen aufgegeben werden musste. Fehlt es mit Blick auf eine erneut angestrebte Vollzeitstelle am Nachweis einer durchwegs gewährleisteten Kinderbetreuung, ist zu prüfen, ob die versicherte Person allenfalls bereit und in der Lage ist, im Umfang von mindestens 20 % einer Vollzeitbeschäftigung erwerbstätig zu sein. Bejahendenfalls begründet dies den Anspruch auf ALE in reduziertem Umfang (EVG C 29/07 vom 10.3.2008). Rechtsprechung EVG C 115/01 vom 13.5.2002 (Einstellung aufgehoben, weil Arbeitsvertrag nicht zustande kam. Verfügbarkeit nur für Arbeiten ab 17 Uhr im Pflegebereich begründete in diesem Fall keine Vermittlungsunfähigkeit) BGE C 29/07 vom 10.3.2008 (Der Umstand, dass Versicherte sich im Hinblick auf anderweitige, namentlich familiäre Verpflichtungen oder besondere persönliche Umstände lediglich während gewisser Tages- oder Wochenstunden erwerblich betätigen wollen, begründet allein noch keine Vermittlungsunfähigkeit) BGE 8C_367/2008 vom 26.11.2008 (Wenn Eltern betreuungspflichtiger Kinder eine Arbeit in Gegenschicht zum erwerbstätigen Eheteil wünschen, begründet dies allein noch keine Vermittlungsunfähigkeit) Rückwirkende Ablehnung der Vermittlungsfähigkeit
B225c Eine rückwirkende Ablehnung der Vermittlungsfähigkeit wegen fehlendem Nachweis der gewährleisteten Kinderbetreuung kann maximal bis zu dem Zeitpunkt zurück erfolgen, bei dem erstmals ein einstellungsrelevantes Verhalten wegen mangelnder Kinderbetreuung vorlag (verunmöglichte Teilnahme an arbeitsmarktlichen Massnahmen, Ablehnung zumutbarer Arbeit, ungenügende Arbeitsbemühungen usw.).
Ich hoffe, das dient Ihnen
Peter Mösch Payot