Sehr geehrte Frau Anderer
Wir erarbeiten im Moment einen internen Ablauf bzw. planen eine Präsentation für die Ärzte zum Thema Erwachsenenschutz und Gefährdungsmeldung in der Reha. Nun habe ich eine Frage betreffend Beurteilung der Urteilsfähigkeit.
Ich habe gelesen, dass eine ärztliche Beurteilung der UF erfolgen muss bei folgenden Punkten:
- Eine Patientenverfügung zu erfassen
- Entscheid für eine medizinische Behandlung
- Gesetzliche Vertretungsperson zuzulassen
Bei Bedarf wird ein psychiatrisches Konsil in Auftrag gegeben.
Kann somit gesagt werden, dass bei der Beurteilung der Hilfs- bzw. Schutzbedürftigkeit einer Person zur Beurteilung der UF zwar der Arzt das letzte Wort hat, dies aber im besten Fall ein interprof. Austausch zur Entscheidungsfindung sein soll. Und somit nur bei den oben genannten drei Punkten der Arzt alleine entscheiden kann/soll? Bei uns läuft es im Moment in den meisten Fällen schon so, dass der Arzt die Psychologie, die Sozialberatung und bei Bedarf die Pflege oder Therapeuten miteinbezieht.
Kann weiter auch festgehalten werden, dass die Hilfsbedürftgkeit einer Person relevant ist für die Frage einer behördlichen Massnahme und nicht nur die Urteilsunfähigkeit. Oder anders gesagt, eine Person kann sehr wohl urteilfähig sein, aber auf Grund eines Schwächezustandes hilfsbedürtig, weshalb eine Gefährdungsmeldung gemacht wird und allenfalls eine behördliche Massnahme nach sich zieht.
Besten Dank für Ihre Rückmeldung,
Freundliche Grüsse
Fabienne Sigrist
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrte Frau Sigrist
Entschuldigen Sie bitte die lange Bearbeitungsdauer.
Medizinische und pflegerische Handlungen sind Persönlichkeitsverletzungen. Sie können nur durch eine Einwilligung gerechtfertigt werden. Bei der Einwilligung in eine Persönlichkeitsverletzung bzw. in eine medizinische und pflegerische Handlung handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht (Art. 19c ZGB). Damit Patienten und Patientinnen gültig in eine Behandlung einwilligen können, müssen sie aufgeklärt worden und urteilsfähig sein. Die Aufklärung betrifft die Diagnoseaufklärung, Verlaufsaufklärung und Risikoaufklärung, bezogen auf einen hinreichend bestimmten Eingriff (vgl. zum Ganzen Aebi-Müller, Fellmann, Gächter, Rütsche, Tag, Arztrecht, Bern 2016, S. 107 ff.)
Deshalb haben sich der Arzt, die Ärztin oder das Pflegepersonal über die Urteilsfähigkeit des Patienten oder der Patientin zu vergewissern. Stellen der Arzt, die Ärztin oder das Pflegepersonal fest, dass der Patienten oder die Patientin in Bezug auf den bestimmten Eingriff nicht urteilsfähig ist, ist, sofern vorhanden und darin abgedeckt, nach der Patientenverfügung vorzugehen oder die Zustimmung der vertretungsberechtigten Person einzuholen. Letzteren Falls hat die Aufklärung dann gegenüber der vertretungsberechtigten Person zu erfolgen. Eine stellvertretende Einwilligung eines Vertreters ist somit nur bei Urteilsunfähigkeit erforderlich und erlaubt (vgl. Arztrecht, § 5; das Kapitel beinhaltet alles über den Urteilsunfähigen Patienten inklusive Nachweis der Urteils(un)fähigkeit und die Vertretungsrechte).
Wie Sie das richtig erkennen, entscheidet der der Arzt, die Ärztin oder das Pflegepersonal über die Urteilsfähigkeit. Wesentlich ist, dass die Urteilsfähigkeit dokumentiert wird, vorab in Zweifelsfällen. Einer interprofessioneller Austausch kann dabei sehr hilfreich sein. Auf der website der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW finden Sie den Hinweis, dass aktuell eine Richtlinie erarbeitet wird, um medizinisches Fachpersonen bei der Beurteilung der Urteilsfähigkeit zu unterstützen (vgl. https://www.samw.ch/de/Ethik/Autonomie-in-der-Medizin/Beurteilung-der-Urteilsfaehigkeit.html.).
Ist eine Person urteilsunfähig und hat sie keine Patientenverfügung verfasst (oder eine unvollständige) oder keine gesetzliche Vertretung oder üben gesetzliche Vertreter ihre Vertretungsrechte nicht aus, muss ihr die KESB eine Vertretung bestellen oder das Nötige selbst anordnen. Also nur, wenn der Arzt oder die Ärztin oder das Pflegepersonal die Urteilsunfähigkeit in Bezug auf den fraglichen Eingriff festgestellt hat, keine Patientenverfügung greift oder keine gesetzliche Vertretung vorhanden ist, ist eine Gefährdungsmeldung notwendig.
Die Anordnung einer Erwachsenenschutzmassnahme ist, wie Sie das richtig sehen, nicht von der Urteilsunfähigkeit abhängig. Auch urteilsfähige Personen können einen Schutzbedarf haben.
Eine Gefährdungsmeldung soll einen Problembeschrieb beinhalten, allenfalls die Notwendigkeit einer medizinische Behandlung begründen und auf zeitliche Verhältnisse bzw. Dringlichkeit hinweisen. Die KESB erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen, weshalb sie die Urteilsfähigkeit selbst abklären wird (Art. 446 ZGB). Selbstverständlich wird sie die Angaben des ärztlichen und pflegerischen Personals berücksichtigen, sie kann aber, wenn notwendig, weitere Abklärungen tätigen.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 28.11.2017
Karin Anderer